Dan Tsalka - Tausend Herzen

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    Klappentext:
    Im Jahre 1919 läuft die Ruslan, die israelische Mayflower, mit dem Ziel Palästina aus dem Hafen von Odessa aus, an Bord Menschen aus ganz Europa, die auf dem Weg in eine neue Heimat sind. Unter ihnen Ezra Marinsky, ein Architekt, der auf Sand und Ruinen einen neuen Staat aufbauen helfen will. Es sind Suchende und Flüchtende, Juden aus Ost und West, die wie Marinsky ihr altes Leben hinter sich lassen, versprengt durch Kriege und persönliche Schicksale, auf der Suche nach dem gelobten Land.
    Bis tief zurück ins 19. Jahrhundert und bis in die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts, als Marinsky stirbt, wirkt Dan Tsalka sein Erzählgewebe - von Dresden bis Samarkand, von Polen bis Südamerika. Und immer wieder laufen die Fäden in Israel zusammen.



    Er beginnt gut, dieser 948-seitige Wälzer, der auch als "Gründungsepos des Staates Israels" bezeichnet wird. Wir befinden uns auf der "Ruslan" auf dem Weg nach Erez Israel, wo wir in kurzen vignettenartigen Abschnitten einiges über deren Passagiere erfahren. So unterschiedlich ihre Vergangenheit ist, so beseelt sie alle doch die Hoffnung auf ein besseres Leben im gelobten Land. Am meisten erfahren wir über den russisch-jüdischen Architekten Marinsky, der hofft, seinen Beruf auch in der neuen Heimat ausüben zu können, ja, die neue Heimat erst aufbauen zu helfen. Durch seine Augen erleben wir den Großteil der Überfahrt, mit ihm landen wir in Jaffa und mit ihm erleben wir, wie Tel Aviv allmählich wächst.
    Der Erzählstil mit seinen wie gesagt sehr kurzen Abschnitten, die erst einmal unverbunden nebeneinander stehen, macht den Zugang zu dem Buch nicht ganz einfach, aber umso interessanter. Puzzelstück um Puzzelstück können wir zueinander fügen und bald bekommen wir ein Bild nicht nur des Architekten sondern auch seiner Umgebung.


    Aber nicht nur von Marinsky erfahren wir; auch andere europäische Juden aus verschiedenen Gegenden und Zeiten kommen zu Worte, ohne dass erst einmal klar würde, wieso plötzlich von ihnen erzählt wird. Die größte Rolle fällt dabei dem Polen Alek Tscherniansky zu, der in den Mittdreißigern als Halbwüchsiger ein Stipendium gewinnt, das besonders begabten Kindern (eigentlich müsste man sagen Jungen) aus Minderheiten zufällt. Auch über das Leben seiner Mitstipendiaten wird erzählt, aber bald kommt es zu einem weiteren Szenewechsel, und Alek befindet sich in Asien, wo er vergeblich versucht, in die Armee aufgenommen zu werden, um gegen die Nazis zu kämpfen. Sein Leben dort gestaltet sich nicht leicht, immer wieder gerät er mit den sowjetischen Machthabern in den Clinch, immer wieder wird er gezwungen weiterzureisen.


    Spätestens mit dem Auftauchen Aleks, begann ich langsam aber sicher, das Interesse an dem Buch zu verlieren. Aleks Geschichte erschien mir immer belangloser und der Aufbau des Buches tat das Seinige dazu. Aleks Erlebnisse in der Sowjetunion wurden nämlich nicht chronologisch geschildert, sondern sprunghaft. Im ersten Teil ist er immer wieder auf der Reise von Ort zu Ort, wobei ihm aus unerfindlichen Gründen von verschiedenen Menschen geholfen wird. Darüber erfahren wir erst im zweiten und dritten Teil. Dies ist natürlich von Tsalka bewusst so gemacht, er hat verfolgt eine künstlerische Absicht damit, die er mit dem einleitenden Zitat aus Moshe Baraschs "Einführung in die Kunst der Renaissance" deutlich macht: nach den 4 Termini für zur Bezeichnung eines Entwurfs sind die 4 Teile seines Buches benannt. Wie die italienischen Renaissancekünstler auch will er sich seinem Thema aus verschiedenen Blickwinkeln nähern, jeder seiner Entwürfe soll einen anderen Aspekt des Werkes genauer beleuchten. So weit, so gut und so interessant - nur für meinen Geschmack zu verkünstelt, zu künstlich. Statt dem Motiv (hier Alek) immer näher zu kommen, entfernte ich mich mit abnehmendem Interesse immer weiter davon, und das Zusammensetzen der einzelnen Teile zu etwas Ganzem wollte mir nicht gelingen. Das lag auch mit daran, dass zwischen den Parts, in denen Alek eine Rolle spielte, viele (viele) Seiten lagen, die es mir schwer machten, mich daran zu erinnern, wer denn nun gerade diese Person war, wo und unter welchen Bedingungen sie auftauchte. Hätte sich der Roman auf Alek beschränkt, hätte mir die Erzähltechnik vielleicht eher zugesagt.


    Dies gilt auch für die vielen anderen Personen, die mal kurz, mal ausführlicher auftauchen. Ohne Personenverzeichnis, das dem Buch leider fehlt, ist es nur schwer möglich, einem Einzelschicksal zu folgen. "Wer war das nun gleich?" fragte ich mich allzu oft, und ein schnelles Zurückblättern ist bei einem Werk dieser Länge auch nicht möglich. So frage ich mich auch nach Beendigung des Buches noch, wie einige relativ früh in Europa auftauchende Gestalten sich in die gesamte Geschichte einfügen. Dass sie sich einfügen, davon bin ich überzeugt, denn im letzten Teil zeigt es sich, dass sich die Schicksale alle auftauchenden Personen mehr oder - meist - weniger eng mit Marinskys verbinden. Ihre Lebenswege kreuzen sich mit Marinskys, oder zumindest kreuzen sich die Lebenswege von Freunden oder Verwandten mit denen von Marinskys Angehörigen. Mir persönlich ist das zuwenig an Zusammenhang.
    Überhaupt hat Tsalka, so ausführlich und datailliert er auch schreibt, dabei gleichzeitig aber auch zuwenig geschrieben. Wichtige Informationen (wie es z. B. Alek nach Israel verschlägt), fehlen.


    Und noch etwas fehlt - und das ist ein Fehlen, das ich dem Buch so schnell nicht verzeihen kann: die Politik nämlich, und mit ihr die doch sehr dramatischen geschichtlichen Ereignisse in Israel. Wurde nicht Israel im behandelten Zeitraum ein selbständiger Staat? Wüsste ich das nicht sowieso, so wäre ich nach der Lektüre des Buches auch nicht klüger. Das sogenannte "Gründungsepos" verschweigt die Gründung des Staates total. Wie kann das sein?
    Und was ist mit den Arabern, sowohl den Palästinensern als auch den Bewohnern der umgebenden Länder? Sie bleiben nahezu völlig unsichtbar. Von einigen - oft abfälligen - Bemerkungen der Protagonisten abgesehen, kommen Araber so gut wie nicht nicht vor. (Allerdings könnte es sein, dass einige der Personen, denen vor allem Marinsky in Israel begegnet, Araber waren. Falls das so ist, wurden sie aber nicht für mich als solche kenntlich gemacht.)


    Und da ich schon beim "Fehlen" bin: Wo sind eigentlich die Jüdinnen? Nach diesem Buch zu gehen, besteht das jüdische "Volk" zu 90 Prozent aus Männern. Eine einzige Frau, nämlich Marinskys Tochter hat es zu mehreren Kapiteln aus ihrer Perspektive gebracht, die aber auch weitgehend um die Herren der Schöpfung kreisen. Ansonsten kommen Frauen nur als Beiwerk vor oder es wird ihnen maximal ein eigenes Kapitel gegönnt. Enttäuschend!


    Fazit:
    Nein, das Buch konnte mich wirklich nicht überzeugen. Von einem guten Anfang und einzelnen erzählerischen Perlen, die sich in den Textmassen versteckten, abgesehen, erwies sich die Lektüre als vergeudete Zeit. Tsalka wollte einfach zuviel - das Buch bietet Stoff für mehrere Romane, die alle besser sein könnten als dieses Monster.
    2ratten

    Wir sind irre, also lesen wir!