Thomas Wolfe - Schau heimwärts, Engel!

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  • Hallo,


    Thomas Wolfe: Schau heimwärts, Engel!

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    Schon mit seinem ersten Roman „Schau heimwärts Engel!“ hat sich Thomas Wolfe in die große Romanliteratur des 20. Jahrhunderts eingeschrieben und gilt inzwischen als Klassiker. Mit diesem Romanerstling erzählt Wolfe seine eigene Kindheit in Asheville/North-Carolina, allerdings änderte er im Roman seinen Geburtsort in Altamont um und nennt sich Eugen Gant. Wie weit der Roman ins biografische Detail geht, kann ich nicht wissen, doch erfahren wir, auch Eugen Gant war riesig groß, um die zwei Meter. Im Roman wird desöfteren erwähnt, er habe nicht genug Fleisch um die Rippen, doch darauf werde ich noch zu sprechen kommen.


    Der Roman beginnt mit einem herrlichen philosophischen Kunstgriff über das Schicksal. Hier geht es um das „sonderbare“ Schicksal, das Engländer und Pennsylvania-Deutsche zusammenführt „am sanften Lächeln eines Engels vorbei“ bis nach Altamont in das Gebirge. Gemeint ist der Weg des Engländers Gilbert Gant, dem Urahn der Familie Gant, der von Bristol aus nach Baltimore reist, dort in einer Gasse, in einer kleinen Werkstatt granitne Grabsteine entdeckt. Beim Anblick aus einem Stein geschlagenen Engel mit einer Lilie ist er besonders hingerissen. Er wird Steinmetz, muss aber erkennen, dass er nie in der Lage sein wird, solch eine Skulptur, wie die des Engels, zu schaffen.


    Durch einen Urimpuls wird das Schicksal in Gang gesetzt. Wie durch den Fall von Dominosteinen, reihen sich Zufälle in einem Leben an, die den Schicksalsweg eines Menschen zeichnen. Nicht nur den Schicksalsweg eines Menschen, sondern der Urimpuls hat eine Wirkung auf den ganzen Kosmos, jede Handlung hat eine Wirkung im kosmischen Geschehen und reicht bis in eine Ferne Zukunft hinaus. Darum sagt Thomas Wolfe: „Du wirst erkennen, daß die Liebe, die gestern in Texas endete, vor viertausend Jahren auf Kreta begann.“


    Über Oliver Gant, dem Nachfahren Gilberts, der zweitgeborene Sohn, wird gesagt:

    „Er sah plötzlich, daß eine Kette von Zufällen sein Leben bestimmt hatte......“


    In Oliver Gant ist schon das Übel des Alkoholismus in den Adern gelegt. „Achtzehn Monate Ehestand verwandelteten ihn wieder in einen tobsüchtigen Trinker.“ (seine erste Ehe mit Cynthia)


    Ich finde es hochinteressant, dass das Leben Gilbert Gants nur auf der ersten Buchseite behandelt wird und dann ist er auch schon gestorben. Da man so wenig über diesen Urahn weiß, wirkt das ganze viel mythischer. Aber doch, schon Gilbert Gant hatte etwas schauriges, etwas wüstes und klobiges. Hinreißend wie Wolfe so schön erzählt:

    „Der Engländer ging mit dem Schlurfschritt des Gichtkranken; seine starren Augen wurden trüb und versackten. Eines Morgens, als seine Frau ihn aus dem Bett herausschelten wollte, fand sie ihn tot, vom Herzschlag gerührt.“


    Während des Lesens auf der ersten Buchseite, hatte ich schon den Eindruck, es entfalte sich sein großer Roman in epischer Wucht und Breite. Und damit sollte ich recht behalten.


    Zum zeitlichen Umfeld: Gilbert Gant kam 1837 nach Baltimore und ging nach Pennsylvania. Oliver Gant, sein Sohn, wächst in der Zeit auf, als Aufständige Richtung Gettysburg zogen. Er sah sie an der Straße vorbeimarschieren. Die Schlacht bei Gettsyburg (1. bis zum 3. Juli 1863 ) gilt als blutigste Schlacht auf dem amerikanischen Kontinent und entscheidender Wendepunkt des amerikanischen Bürgerkrieges).


    Oliver Gant, Typ eines Quartalssäufers, der alle sechs bis acht Wochen sich den Kopf volllaufen läßt. Das dauert dann zwei bis drei Tage lang. Ein reizbarer Mensch mit Wut im Bauch, dessen alltägliche Schimpferei Eliza das Leben schwermacht. Man kann im nachhinein froh sei, dass er Eliza nicht im Suff erschlagen hat, kurz bevor ihr Jüngster auf die Welt kam. Während der Morgenwäsche schrubbt Gant seine Hände so hart über seine Bartstoppeln, sodass man bei dem Gräusch dabei habe denken können, er riebe sein Gesicht mit Schmiergelpapier ein. Eine Grobnatur eben.


    Im Jahre 1900 erblickt Eugen das Licht der Welt. Später glaubt er, die Ursache von Gants Wut erkannt zu haben. Eugen fühlt sich gedemütigt, wenn Eliza ihm täglich Locken in sein langes Haar wickelt, das ihm in der Schule nur Spott einbringt. „Aber was? Du bist doch gar kein großer Junge. Du bist doch mein Nesthäkchen.“, sagt Eliza, und damit ist der Fall für sie erledigt. Oliver Gant fühlt sich in der Ehe eingeengt, und die Bergwelt um Altamont tut ihm nicht wohl. Ist er doch in früheren Zeiten weithin herumgereist und hat seine Freiheit genossen. Schon die erste Ehe geht in Brüche und Oliver und Eliza leben in getrennten Räumlichkeiten, als es nicht mehr anders geht.. Als die geschäftstüchtige Eliza im Ort eine Pension eröffnet, zieht sie mit Eugen dort hinüber, Oliver wohnt weiterhin in seinem Haus in der Woodson Street.


    Nach der Lektüre von Buch I ergab sich für mich die Frage, was wohl aus Eugen wird? Wird er die wüste Natur seines Vaters erben? Steve, sein ältester Brüder, geht schon zu Prostituierten als Eugen noch an der Mutterbrust hängt, später vagabundiert Steve in der Welt herum und hat eine agressive Neigung wie sein Vater. Da Eugen „der Wohlgeborene“ heißt verspricht Hoffnung, dass ihm ein anderes Schicksal ereilt. Übrigens ist er ein sehr gescheiter Junge, der viel liest, und sich im Denken als sehr wendig erweist, indem er später, als er ein Internat besucht, seine Lehrer ins schwitzen bringt.


    Übrigens vermute ich, Thomas Wolfe will ganz bewusst seine Geschichte um die Gants einer größeren Bedeutung einverleiben, in dem er sich auf die Weltgeschichte und auf Mythen bezieht. Geradezu arkadisch mutet es an, wenn gesagt wird:

    „Ja, und die Zeit, wenn Proserpina wiederkehrt, wenn der Zeres totes Herz aufs neue entbrennt, wenn aller Wald von zartem Dunste schwimmt und winzige Vögel durch ausgelaubtes Gezweig singender Bäume flitzen“.....
    usw.


    Nicht zufällig, dass Eugen 1900 geboren wird. Dieses markiert schon einen Wendepunkt. Wolfe lässt nicht nur eine Liste von geschichtlichen Ereignissen los, die sich um 1900 ereignet haben, sondern schweift in seiner Aufzählung bis in die Antike zurück. Es wird sozusagen der Stand der Weltgeschichte um 1900 umrissen. Abgeschlossen wird die Aufzählung mit:


    „Schließlich waren vor vierzig oder fünfzig Millionen Jahren unsere ältesten Ahnen aus dem Urschleim gekrochen....."


    Wenn wir zum Romanbeginn zurückkehren, in dem gesagt wird, „Jeder Augenblick ist ein Fenster, das auf alle Zeit hinausweis“, schlussfolgere ich gerne daraus, weil vor abermillionen Jahren „unsere ältesten Ahnen aus dem Urschleim gekrochen“ sind, dass deswegen Eugen Gant um 1900 das Licht der Welt erblickt hat.


    Auch wenn im Roman die Familie Gant im Mittelpunkt steht, bekommen wir einen gesamtem Einblick in das Leben der Kleinstaat Altamont. Dieser Ort mag als Beispiel für die ganze USA stehen, ein Blick auf die Vereinigten Staaten zu Beginn des 20. Jahrhunderts.


    Kommen wir nun zu Eugen zurück. Eugen muss mit der Zerissenheit seiner Familie zurechtkommen. Eliza ist mit ihrer Pension „Dixieland“ so beschäftigt, dass sie die Fürsorge um ihren Jüngsten vernachlässigt. So muss er, da er in dieser Pension wohnt, desöfteren das Zimmer wechseln, wenn neue Gäste kommen. Im „Dixieland“ wohnen auch recht zwielichte Gestalten, sodass das Gerede darüber im Ort freien Lauf nimmt. Aber Eliza denkt eben nur ans Geschäft . Anstatt der Mutter schlüpft Helene, Eugens Schwester, in die mütterliche Rolle, und macht, wenn Eugen in Oliver Gants Haus zu Besuch kommt, das Mittagessen. Das führt zu Eifersüchteleien zwischen Mutter und Tochter. Den Vorwurf der Vernachlässigung ihres Jüngsten bekommt Eliza auch von ihrem älteren Sohn Ben zu spüren.


    Eugens Jugend ist sehr schwer. Bevor er ins Internat geht, muss er Zeitungen austragen, steht deswegen schon um 4.00Uhr früh auf. Nach dem Internat soll er auf die Universität. Der Junge wird gar nicht gefragt. Oliver Gant sieht „in seinem Jungen die Hoffnung, daß sein Name in Lorbeeren überleben würde. In den politischen Loorbeeren, die er so hochschätzte. Er wollte, daß aus seinem Sohn ein weitblickender, großer Staatsmann würde...“usw. Es mag ja sein, dass Eugen Talent dazu hat, allerdings fühlt er sich sehr einsam, weil dies alles über seinen Kopf hinweg entschieden wird. Weil aus Oliver ein Alkoholiker geworden ist, der ein paar Dollars durch Verkauf von Grabsteinen verdient, seine Frau sich im „Dixieland“ totschuftet, soll es der Jüngste schließlich besser haben. Mit 16 Jahren (ziemlich früh) wird er zur Universität geschickt.


    Außerdem hat Eugen noch mit anderem zu kämpfen, mit sich selbst:


    „Die wilden Verwirrungen der Wendejahre, die geschlechtlichen Alpträume der Pubertät, der Kummer, die Angst die Scham, mit der Knaben über der dunklen Welt ihrer Sehnsucht brüten,...das hätte sie tief ensetzt. Sie hatte keine Ahnung davon, das jeder Junge sich selber wie ein eingesperrtes Ungeheuer vorkommt.“

    Auffallend häufig wird erwähnt, Eugen sei mager. Und wenn man bedenkt, dass er um die zwei Meter lang ist, so ist seine Magerkeit wirklich gar nicht zu übersehen. Die körperlichen Entbehrungen, die Magerkeit, steht auch gleich für die seelischen Entbehrungen, die Vernachlässigung von seinen Eltern, daraus sich Eugens innere Einsamkeit ergibt. Er sehnt nach einer zusammengewachsenen Familie, muss aber schmerzhaft ihr auseinanderbrechen wahrnehmen.


    Vielleicht heißt der Untertitel des Romans „Eine Geschichte vom begrabnen Leben“, weil Eugens Leben bisher begraben war, begraben von den schwierigen Verhältnissen, in denen er aufgewachsen ist, begraben seine eigene Freiheit, alles begraben, wegen des Suffs vom Vater, wegen der übermäßigen Geschäftstüchtigkeit der Mutter. Für Eugen ist die elterliche Liebe begraben, so fühlt er jedenfalls.


    Der Roman ist so gewaltig, dass ich jetzt gar nicht weiß, wie ich mich von diesem Werk lösen soll. Alles ist schön: Sehr lebensnah erzählt, so viele Geschehnisse. Es ist so, als ob das Leben vor den eigenen Augen abläuft. Wunderbare Ausflüge ind Landschaftsimpressionen und Lokalkolorit, weiterhin ein philosophischer Unterbau, der in dieser Rezension nur bescheiden beleuchtet werden konnte. Und natürlich die Charaktere.....Sehr viel mehr als nur ein Familienroman. In dieser Hinsicht mit den „Buddenbrooks“ vergleichbar.....und so gut wie "Buddenbrooks" oder weitaus mehr..... :zwinker:


    Meckern kann ich über diesen Roman wirklich nicht. Ich habe mich nur zeitweise gewundert, dass man zwischendurch auf vielen Seiten nichts mehr von Eugen oder Oliver Gant erzählt wird, und irgendwann erscheinen sie doch wieder. Das liegt einfach daran, dass szenisch erzählt wird, daher beteiligte Personen wechseln. Aber irgendwann schließt sich der Bogen wieder. Absolut zu empfehlen.


    "Zeit und Strom: Eine Legende vom Hunger des Menschen in der Jugend" ist der Nachfolgeroman.


    der besondere :tipp:


    Liebe Grüße
    mombour

  • Ich will die Rezension jetzt garnicht lesen, das Buch steht auf meiner Liste der sehr bald zu lesenenden Bücher. Und ich lese lieber mit jungfräulichem Gemüt, unvoreingenommen von Informationen und Meinungen...


    Aber nur soviel: Ich habe das letzte Jahr in Asheville, NC gelebt. Ich bin wirklich gespannt, wie dieser wunderbare Ort im Roman dargestellt ist! Wenn jemand mehr zu Asheville wissen möchte, gebe ich gerne Auskunft :)

  • Der Roman in neuer Übersetzung bei Manesse:


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    (Thomas Wolfe, Schau heimwärts Engel)


    Absolut Lesenswert!

  • An diesen Roman bin ich ohne besondere Vorstellungen und Erwartungen gegangen, allerdings hat er mich bei weitem nicht so begeistert wie mombour. Der Roman kreist im wesentlichen um zwei Generationen der Familie Gant: Oliver und seine Frau Eliza sowie deren Kinder. Dabei stehen neben den Eltern von den Kindern vor allem der jüngste, Eugen, und die Tochter Helene im Mittelpunkt. Als Panorama eines amerikanisch-kleinstädtischen Lebens der Jahrhundertwende ist es sicher gut, aber die Personen haben mich nicht wirklich für sich interessieren können, mit Ausnahme von Eugens älterem Bruder Ben, der ihn auch ein bißchen unter seine Fittiche nimmt, wenn die Mutter es mal wieder zu gut meint. Ansonsten sind es eben Leute, die auch nebenan wohnen könnten, und ihr Leben ist ungefähr genauso aufregend. Das muß ich eigentlich nicht über ein paar hundert Seiten hinweg auch noch lesen.


    Auch Wolfes permanente Betonung der Zufälle, die das Leben eines Menschen bestimmen, war mir dann irgendwann zu viel. Und daher kann ich mombour hier auch nicht zustimmen:



    Sehr viel mehr als nur ein Familienroman. In dieser Hinsicht mit den „Buddenbrooks“ vergleichbar.....und so gut wie "Buddenbrooks" oder weitaus mehr..... :zwinker:


    Es ist zwar mehr als ein Familienroman, aber an die Buddenbrooks reicht er für mich bei weitem nicht heran. Und das hat maßgeblich mit dieser Betonung der Zufälligkeiten zu tun. Genauso leben die Gants nämlich auch ihr Leben, ich hatte hier in Altamont nie das Gefühl, die Entwicklungen, wenn man von solchen reden will, seien so zwingend, wie sie mir in Lübeck immer erschienen, es hätte eben auch alles anders sein können. Und auch wenn sich das durch die Übersetzung nicht unbedingt vergleichen läßt, so sind die Buddenbrooks das mich auch sprachlich mehr faszinierende Werk.


    3ratten


    Schönen Gruß
    Aldawen

  • Oha, interessante Rezi, Aldawen. Habe ja Teile des Hörbuchs gehört, dann erst mal wieder weggelegt. Hätte auf ein enthusiastisches Lob gehofft, die mich motiviert dieses sehr lange Hörbuch erneut anzugehen. Nun ja.


    Gruß, Thomas

  • Nein, mit enthusiastischem Lob kann ich leider nicht dienen. Es hat hervorragende Passagen, aber es hat eben auch solche, und gar nicht so wenige, die einfach schnarchlangweilig sind. Für mich lag der Fokus definitiv auf den falschen Figuren. Helene ist zwar sehr präsent, weil sie sich viel um den Vater kümmert, sie ist die einzige, auf die er im besoffenen Zustand hört, aber über sie selbst erfährt man nicht so viel wie über Oliver, Eliza und Eugen. Ben und Helene waren für mich die stärksten, interessantesten Charaktere im Roman, für die ich ihn überhaupt zu Ende gelesen habe, sonst hätte ich ihn auch gut vorzeitig beiseite legen können.