[Albanien] Besnik Mustafaj – Kleine Saga aus dem Kerker

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    Inhalt: Omer Tzatza lernt seinen Vater Oso erst mit zwölf kennen, als er ihn zusammen mit der Mutter im Gefängnis besucht. In Omers Vorstellung, befördert durch die Achtung, die ihm schon allein als Osos Sohn entgegengebracht wurde, war der Vater zu einem mächtigen Recken geworden und dieses Bild paßt überhaupt nicht zu dem Mann, der ihm im Gefängnis gegenübersteht. Für Omer erweist sich dies als Schlüsselerlebnis, so daß er in seiner Familie allein schon den Gebrauch des Wortes „Gefängnis“ nicht erträgt. Omers Sohn Luli hat damit weniger Probleme, denn ähnlich wie sein Großvater landet er als politischer Gefangener im Knast. Lange hat er sich demütigen lassen, um eine Vergünstigung zu bekommen: Eine Nacht mit seiner Frau. Aber als diese Nacht dann da ist, geschieht nichts so wie in Lulis Träumen. Er kann nicht entspannt mit Linda zusammen sein, weil er weiß, daß sie überwacht werden, weil man ihn vorab gewarnt hat, sich in Acht zu nehmen und nicht über das Gefängnisleben zu sprechen, weil er sich von seiner Frau in dieser Umgebung entfremdet hat. Linda scheint mit dem Umfeld weniger Probleme zu haben, eine Tatsache, die Luli zusätzlich hemmt. Lindas Mutter hatte immer gewollt, sie solle an einen Ort heiraten, wo es kein Gefängnis gibt. Dahinter stand die Erinnerung an den eigenen Vater Hyqmet Hidi, Lindas Großvater, der Gefängniswärter war, und nach einem revolutionären Umsturz, als die Gefangenen verschwanden, mit den leeren Zellen um sich herum psychisch nicht zurechtkam und in tiefe Depression verfiel, die die Familie (fast) zerstörte.



    Meine Meinung: In drei größeren Abschnitten beleuchtet Mustafaj anhand der Geschichte der Tzatzas und Hidis die Auswirkungen von (politischer) Haft und Gefängnis auf den Einzelnen. Die beiden ersten Abschnitte werden von Luli erzählt, dabei erfährt der Leser im ersten die Geschcihte von Oso und Omer, im zweiten steht Lulis eigene Haft und eben diese Nacht mit Linda im Mittelpunkt. Im dritten Abschnitt schließlich enthüllt ein auktorialer Erzähler die Geschichte der Hidis, speziell die von Hyqmet. Zusammengenommen ergeben sie ein recht eindrückliches Bild dessen, was Gefängnis in diesen Fällen bedeutet und wie es sich auf die einzelnen Personen vor allem psychisch auswirkt. Besonders eindrucksvoll fand ich hierbei den Mittelteil, in dem man Stück für Stück miterlebt, wie sich in Luli Vorstellungen und Bilder festsetzen, die zwischen ihm und Linda eine unüberwindliche Mauer errichten.


    Mit Ausnahme von Luli und mit Abstrichen Hyqmet erscheinen die Personen dabei gar nicht einmal besonders als Individuen, sondern vielmehr als Typen, an denen Mustafaj bestimmte Verhaltensweisen und Haltungen exemplarisch zeigt. Dies gilt in besonderem Maß für die Frauen der Familie Hidi (aber auch Omers Mutter), die selbst mit dem Gefängnis nichts zu tun haben, aber unter den Verbindungen ihrer Männer dazu erheblich leiden müssen. Die Ohnmacht und Hilflosigkeit der Frauen der Situation gegenüber ist gut eingefangen und zeigt eine sonst eher weniger beachtete Seite des Komplexes von politischer Haft. Für einen absoluten Zufallsfund, den ich vor allem mitgenommen habe, weil meine bisherigen, wenn auch wenigen Erfahrungen mit albanischer Literatur recht gut waren, hat mich dieser Roman wirklich sehr positiv überrascht.


    4ratten


    Schönen Gruß,
    Aldawen

    Einmal editiert, zuletzt von Aldawen ()