Swetlana Alexijewitsch - Die letzten Zeugen

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    Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sprechen Männer und Frauen, die beim Einmarsch der Deutschen in Weißrussland noch Kinder waren, zum ersten Mal darüber, woran sie sich erinnern. Ihre erschütternden Berichte vom Krieg machen "Die letzten Zeugen" zu einem der eindringlichsten Antikriegsbücher überhaupt. Oft sind diese Erinnerungen nur Bruchstücke, und doch haben diese Kinder Dinge gesehen und erlitten, die niemand, am allerwenigsten ein Kind, sehen und erleiden dürfte. Alexijewitsch erweist sich einmal mehr als begnadete Zuhörerin und große Chronistin, die es versteht, den Erfahrungen von Menschen in Extremsituationen, im Ausnahmezustand einen einzigartigen Resonanzraum zu verschaffen.


    Swetlana Alexijewitsch, 1948 in der Ukraine geboren und in Weißrussland aufgewachsen, arbeitete als Reporterin. Über die Interviews, die sie dabei führte, fand sie zu einer eigenen literarischen Gattung, dem dokumentarischen »Roman in Stimmen«. Alexijewitschs Werke wurden in mehr als 30 Sprachen übersetzt, und sie wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. 1998 mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung und 2013 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. 2015 erhielt sie den Nobelpreis für Literatur.
    (Hanser Literaturverlage)



    Sie waren zwischen 3 und 14 Jahren alt, als sie den Wahnsinn des Krieges erlebten. In den seltensten Fällen haben die Kinder von damals verstanden, was in diesen Jahren vorgegangen ist. Es sind unvorstellbare Gräueltaten, die sie teilweise mit eigenen Augen ansehen mussten. Viele von ihnen verloren dabei ihre Eltern, Geschwister und andere nahe Angehörige. Es waren keine Flugzeugangriffe oder andere Gefahren aus der Distanz, sondern immer unmittelbare Übergriffe durch deutsche Soldaten.


    Mehr als ein paar Berichte am Stück zu lesen, ist fast unmöglich. Die Berichte sind sehr einfach gehalten, entfalten aber eine intensive Auswirkung durch die unverblümte Darstellung von Ereignissen, die sich ins Gedächtnis eingebrannt haben und über die Jahrzehnte hinweg in der Erinnerung erhalten geblieben sind.


    Swetlana Alexijewitsch hat den Betroffenen die Möglichkeit gegeben, anderen von ihren Erlebnissen zu berichten. Was mir aber fehlt, ist, wie die Menschen mit diesen traumatischen Vorfällen leben können. Es ist wichtig, diese Zeitzeugen anzuhören und aufzudecken, was der Krieg aus Menschen macht, egal ob sie auf der Seite der Täter oder der Opfer stehen. Doch die Verarbeitung dieser Traumata sollte auch Erwähnung finden, denn mit dem Ende des Krieges war die persönliche Beeinträchtigung nicht vorbei. Darauf ist die Autorin nicht eingegangen und von sich aus haben nur ganz wenige der Befragten etwas darüber gesagt. Mir wären weniger dieser furchtbaren Berichte lieber gewesen, wenn dafür die Verarbeitung der Erlebnisse einen Platz bekommen hätten.


    4ratten

    Einmal editiert, zuletzt von Doris ()

  • Zig Jahre haben sie geschwiegen. Aber irgendwann muss es hinaus. Beim Einmarsch der Deutschen in Weißrussland waren sie noch Kinder. Nun sprechen sie das erste Mal: "Die letzten Zeugen" von Swetlana Alexijewitsch.


    Zitat

    Ist die Welt, unser Glück oder gar die ewige Harmonie zu rechtfertigen, wenn in ihrem Namen auch nur eine einzige Träne eines unschuldigen Kindes vergossen wird? Und antwortete darauf: Nein, kein Fortschritt, keine Revolution kann diese Träne rechtfertigen. Kein Krieg. Sie wiegt immer schwerer. Nur eine einzige Träne… (nach Dostojewski)

    Mir fällt es schwer, etwas über das Buch zu schreiben. Es hat keine durchgehende Handlung. Daher möchte ich hier nur einige Kinder mit einem Satz zu Wort kommen lassen und damit vielleicht euch anregen, mehr über das Schicksal der Kinder erfahren zu wollen.


    Shenja Belkewitsch, 6 Jahre, heute Arbeiterin:

    So ist es in meinem Gedächtnis haftengeblieben: Krieg, das ist, wenn Papa fort ist.


    Gena Juschkewitsch, 12 Jahre, heute Journalistin:

    Ich hatte gedacht, im Krieg würden nur Männer getötet.


    Katja Korotajewa, 13 Jahre, heute Ingenieurin für Hydrotechnik:

    Ich will von den Gerüchen erzählen.


    Mischa Majorow, 5 Jahre, heute Doktor der Agrarwirtschaft:

    Alles aus diesen Tagen habe ich schwarz in Erinnerung: schwarze Panzer, schwarze Motorräder, deutsche Soldaten in schwarzer Uniform.


    Wassja Charewski, 4 Jahre, heute Architekt:

    So erschüttert hat mich im Leben nur noch die Liebe.


    Es ist grauenhaft, was Kinder im Krieg erleben müssen. Und mit welchen grauenhaften Erinnerungen sie dann das ganze Leben verbringen müssen.

    Als Leser fühle ich mich einfach nur ohnmächtig. Ohnmächtig deshalb, weil schon wieder solch grauenhafte Dinge geschehen.

    Denn ich, ohne Bücher, bin nicht ich. - Christa Wolf


    2022 - 64

    2023 - 91


    Gesamt seit März 2007: 1012

  • Hier meine Rezension zu "Die letzten Zeugen".

    Für mich ist es das allertraurigste Buch überhaupt, das mich kaum losgelassen hat. Gelesen habe ich es in der neuen, erweiterten Ausgabe von 2014. Ich kannte schon die alte DDR-Ausgabe von 1989, mit Kinderfotos einiger der Interviewten. Die neue Ausgabe ist viel umfassender, die Texte sind länger, es gibt auch mehr Erinnerungstexte.


    Alexijewitsch hat jahrzehntelang die Erinnerungen von Weißrussen, die als Kinder den 2. Weltkrieg erlebt haben, gesammelt. Aus den vielen Gesprächen hat sie dann das Buch "Die letzten Zeugen" gemacht. Jedes Interview hat sie zu einem Text zusammengefasst, Jeder Text beginnt mit einer Art Motto, einem Zitat aus dem nachfolgenden Erinnerungstext, dann dem Namen, dem Alter beim Beginn des Krieges und dem "heutigen" Beruf (also dem Beruf, den die Interviewten zur Zeit des Interviews ausgeübt haben), und ihrem Wohnort. dann kommt der eigentliche Erinnerungstext.

    Die Vorgabe von Swetlana Alexijewitsch an ihre Interviewpartner war, dass sie sich an ihre kindlichen Worte und Gefühle erinnern sollten.

    Das Ergebnis: Man liest Texte, die so wirken, als würden Kinder erzählen. was sie erlebt haben: Bombardierungen der Städte, das brennende Minsk, Flucht, Hunger, Terror der Wehrmacht gegen die Zivilbevölkerung, Erschießungen, die Verzweiflung der Erwachsenen, Verlust der Eltern, Geschwister, Großeltern, Schulfreunde, Abbruch des Schulunterrichts, das Alleinsein, das Leben bei Nachbarn, entfernten Verwandten, im Kinderheim oder bei den Partisanen, der Verlust der Geborgenheit und Sicherheit vor dem Krieg.

    Das Buch hat mich an die Fotoserie "Gram" von Dimitri Balterman erinnert: Texte, so wie Baltermans Fotos kaum aushaltbar, und doch für mich notwendig zu lesen.

  • Ich lese gerade das dritte Buch von Alexiejewitsch. "Die letzten Zeugen" habe ich im letzten Jahr (glaube ich) gelesen. Das Buch hatte also Zeit, sich ein wenig "zu setzen", obwohl das bei Büchern wie diesem schwer ist.

    Es ist das zweite von drei Büchern über Krieg aus Alexiejewitschs Feder. "Zinkjungen", über den Krieg in Afghanistan, steht noch im Regal.


    Schon "Der Krieg hat kein weibliches Gesicht" hat mich aufgerüttelt, aber "Die letzten Zeugen" ist noch ein Stück bedrückender, weil es hier um Kinder geht. Der Krieg durch Kinderaugen zu sehen ist noch schlimmer als ohnehin schon. Manche der beschriebenen Szenen bekommt man nicht mehr aus dem Kopf.


    Manche Bücher sollte man jedem Menschen in die Hand drücken und ihn zwingen, es zu lesen. Wirklich jedem. Dieses ist so ein Buch.


    ***
    Aeria