Wie empfindet ihr neuere Bücher von Müttern behinderter Kinder?

Es gibt 18 Antworten in diesem Thema, welches 5.226 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von Igela.

  • Hallo,

    ich habe in letzter Zeit drei Bücher von Müttern behinderter Kinder (an-) gelesen:

    Julia Latscha: Lauthals leben,



    Gabriele Noack: Mein Glück kennt nicht nur helle Tage (beide angelesen bis ca. Mitte des Buches) und



    Sandra Schulz: Das ganze Kind hat so viele Fehler.


    Alle drei Bücher wurden als besonders positiv und Argument im Kampf für die Akzeptanz Behinderter gelobt.


    Ich muss dazu sagen, dass ich mit einem behinderten Bruder (mit Downsyndrom) aufgewachsen bin und NIE von beiden Eltern oder anderen Verwandten ähnliche Klänge gehört habe wie in diesen drei Büchern vorkamen, und das, obwohl zu der Zeit, in der mein Bruder aufwuchs (80er) deutlich weniger Informationen und Hilfe verfügbar waren.


    Als Erstes habe ich Sandra Schulzs Buch gelesen. Mein Fehler: Ich wusste nicht, dass 70% des Buches von ihrer Schwangerschaft handelten. Hut ab, dass man so viel über die eigene Schwangerschaft schreiben kann! Aber: Sie hat zwei Kider mit Downsyndrom im Bekanntenkreis und denkt die ganze Zeit an Abtreibung, weil sonst ihr Leben vorbei wäre, wenn ihr Kind Downsyndrom hat (pränatale Diagnostik). Dann bekommt sie die Info, dass eine weitere schwere Behinderug dazu kommt und ganz langsam erwärmt sie sich für den Gedanken, das Kind doch zu bekommen. Erst im letzten Drittel, nach der Geburt des Kindes, wird das Buch sehr positiv. Vorher werden behinderte Kinder als Lebnesende der Eltern und Bürde betrachtet. Ich war beim Lesen ziemlich schockiert und teilweise angewidert und mich wunderten die vielen positiven Rezensionen.


    Dann kam das Buch "Mein Glück kennt nicht nur helle Tage". Okay, schweres Schicksal: Schwangerschaft verläuft super, Kind ist bei der Geburt schwerbehindert, Mutter erfährt, dass es evtl. "ihre Schuld" sein könnte (so legt sie das aus). Kind kann sich kaum bewegen und spricht erst mal nicht bzw. gar nicht (bin erst ca. bei einem Viertel des Buches). Mutter weint ständig, weil ihr Kind behindert ist. Eine sehr berührende Szene gab es, als der fünfjährige Bruder des Kindes (!) die Eltern fragt, wer sich denn um den Bruder kümmert, wenn sie sterben würden und anbietet, dass er das dann tun würde (Hut ab, wenn das wirklich so passiert ist! Woher hat ein Fünfjähriger solch düstere Gedanken?) Der Fünfjährige verteidigt den behinderten Bruder ständig, während die Mutter teilweise weinend ins Krankenhaus geht, weil ihr Kind behindert ist.


    "Lauthals Leben": Da bin ich auch erst im ersten Viertel und die Mutter weint ständig, weil ihr Kind behindert ist (komisch aussieht, nicht alleine laufen kann, viel schreit). Ja, ich kann die Belastung durch extremes Schreien nachvollziehen, aber nicht diese Scham "mein Kind ist behindert, alle schauen mich an, mein perfektes Leben ist vorbei" in der heutigen Zeit.

    Sind wir so auf "perfekt" getrimmt, dass ein Kind nur Erwachsenenwünsche erfüllen muss?

    Woher kommt dieses, sorry, Rumgeheule im Wortsinne?


    Mein Bruder hat die positivsten Erfahrungen außerhalb der Familie mit völlig Fremden "Nicht-Pädagogen" gemacht: Treffen auf der Straße, Verkäufern, Servicekräften. Teilweise haben die sich nach seinem Tod noch über ihn unterhalten wollen, wenn man sie zufällig traf - also keine Freunde der Familei, zufällige Bekannte. Daher kann ich nicht verstehen, dass Behinderungen von den Eltern heutzutage als Scham, Schnade, "Ende des eigenen Lebens" wahrgenommen werden. Woher kommt das?

    Und warum werden diese Bücher so positiv wahrgenommen?

    Ich habe, als Schwester, mit meinem Bruder auch schwere Zeiten durchgemacht, oft wurde ihm erlaubt, uns andere Geschwister qausi zu ärgern (treten, ansprucken etc.), "weil er ja behindert ist und Verbote nicht versteht", von daher würde ich Frust und Ärger über bestimmte Verhaltensweisen durchaus verstehen. Aber dieses Rumgeheule, weil das eigene Kind auffällt, nicht so ist, wie man erwartet hat, "Fehler" hat, finde ich teilweise wirklich ekelhaft.

    Man stelle sich vor, die Tochter von Sandra Schulz wäre nicht behindert - und würde später mal lesen, wie ihre Mutter über 200 Seiten darüber nachdenkt, sie abzutreiben. Wäre das nicht grausam? Aber weil das Kind behindert ist, kann man so etwas veröffentlichen. Ich habe gar nichts gegen die Idee, ein Buch über Schwangerschaft und Abtreibungsgedanken zu schreiben, das finde ich wichtig, aber diese ganzen Gedanken "das Kind könnte mich in meinem Leben stören" finde ich krass. Auch, dass eine werdende Mutter auf die Idee kommt, sie könnte ihr eigenes Kind wegen Ausspracheproblemen nicht verstehen (da wächst man doch rein, Babys brabbeln auch erst mal Unverständliches).


    Jedenfalls würden mich mal eure Gedanken zu Büchern dieser Art, die in den letzten ca. 10 Jahren erschienen sind, interessieren. Werden die Kinder nur negativ wahrgenommen (oder über weiter Strecken des Buches)? Findet ihr das Anspruchsdenken "mein Leben soll durch das Kind schöner werden" übertrieben? Widert es euch an, wenn Eltern sich schämen, dass ihr Kind nicht perfekt ist oder sein könnte? Könnt ihr die Gedanken solcher Eltern nachvollziehen? Ist das der allg. Tenor solcher Bücher in den letzten Jahren oder habe ich mir nur die "Rosinen rausgepickt"?


    LG von

    Keshia

    Ich sammele Kochbücher, Foodfotos und Zitate.


    <3 Aktuelle Lieblingsbücher: "The good people" von Hannah Kent, "Plate to pixel" von Hélène Dujardin und "The elegance of the hedgehog" von Muriel Barbery.

  • Hallo Keshia

    Ich selbst lese solche Bücher nicht, deshalb kann ich dazu konkret nichts sagen. Allerdings würde ich gerne auf ein paar deiner Aussagen eingehen. Deine Beobachtungen habe ich interessiert gelesen.


    Eine sehr berührende Szene gab es, als der fünfjährige Bruder des Kindes (!) die Eltern fragt, wer sich denn um den Bruder kümmert, wenn sie sterben würden und anbietet, dass er das dann tun würde (Hut ab, wenn das wirklich so passiert ist! Woher hat ein Fünfjähriger solch düstere Gedanken?) Der Fünfjährige verteidigt den behinderten Bruder ständig, während die Mutter teilweise weinend ins Krankenhaus geht, weil ihr Kind behindert ist.

    Dazu fällt mir ein: Dass Fünfjährige auch mal über den Tod nachdenken, finde ich weder düster noch überraschend. Vielleicht wurde das Thema im Kindergarten angesprochen und hat den Kleinen dann zum Nachdenken angeregt. Ich erinnere mich, dass ich im Kindergartenalter auch mal überlegt habe, bei welchem meiner Paten ich wohl leben würde, wenn meinen Eltern etwas passieren sollte. Das hat mir aber keine Angst gemacht, sondern es war einfach ein theoretischer Gedankengang.


    Und dass ein Kind sich mit seinem Geschwisterchen "leichter abfindet" als eine Mutter, kann ich in gewisser Weise auch verstehen. Die Mama kennt wahrscheinlich sonst kaum Menschen mit Behinderung und hat auch zuerst ein gesundes Kind bekommen. Sie sieht also ganz krass den Unterschied zwischen ihrem jetzigen, komplizierteren Leben und dem, wie es auch hätte sein können. Für den Fünfjährigen ist sein Bruder einfach sein Bruder - er kennt das nicht anders.

    Ja, ich kann die Belastung durch extremes Schreien nachvollziehen, aber nicht diese Scham "mein Kind ist behindert, alle schauen mich an, mein perfektes Leben ist vorbei" in der heutigen Zeit.

    Oh doch, gerade in der heutigen Zeit. Traurig, aber es ist so. Ich habe in der Verwandtschaft ein Kind mit einer leichten Form von Autismus. Er geht in einem Förderkindergarten. Seine Mama musste sich dann von anderen Müttern, die sie noch von vor der Diagnose kannte, anhören: "Waas? Da schickst du dein Kind hin? Zu den ganzen Behinderten?!? =O". Sie selbst hat kein Problem damit, aber erzählt mir immer wieder, dass andere sie seit der Diagnose (obwohl der Kleine davor ja schon genauso war!) tatsächlich anders anschauen.

  • Keshia Ich arbeite mit Jugendlichen mit Beeinträchtigung und werde/würde mich hüten über Eltern zu urteilen, die so ein Buch herausgeben. Ich kenne Eltern, die nehmen die Beeinträchtigung ihrer Kinder "relativ locker", um es mal salopp auszudrücken. Ich kenne aber auch Eltern, die hadern schon 20 oder 30 Jahre damit, dass ihr Kind behindert zu Welt gekommen ist. Ich denke da muss jeder Vater, jede Mutter ihren Weg finden um damit klar zu kommen. Wenn es dazu ein Buch braucht, das geschrieben werden muss und darin ein "Seelenstreptease" ...warum nicht? Denn schliesslich ist es ihr Buch und ich als Leser kann entscheiden ob ich das lesen will oder nicht. Was ich übrigens praktisch nie tue.

    Es widert mich nicht an, wenn Eltern sich für ihr Kind schämen. Auch nicht das "Rumgeheule"... Denn ich denke es ist immer einfacher zu urteilen, wenn man nicht in der Situation steckt. Wer bin ich denn, über Eltern zu urteilen?

    Momentan arbeite ich mit jugendlichen, denen man teilweise ihre Behinderung nicht ansieht. Sie leben in unserer WG während zwei Jahren und ihr (und unser) Ziel ist ein autonomes Wohnen, dh eigene Wohnung. Was denkst du, wieviele Male ich schon mit ihnen freie Wohnungen besichtigt habe um zu hören "Einen Menschen mit Behinderung " wollen wir nicht als Mieter. Und das geradeheraus und vor der betroffenen Person. Wie fühlen sich dann Eltern, die das hören? Vorher habe ich mit Kindern mit Schwerstbehinderung gearbeitet. Wenn wir mit ihnen in der Stadt unterwegs waren habe ich nicht nur böse und /oder neugierige (um mal nicht das Wort gaffen zu benutzen) Blicke geerntet sondern auch mal den Spruch : Zu Hitlers Zeiten hätte es das nicht gegeben. Daraufhin habe ich geantwortet : Alte Menschen aber auch nicht (war ein alter, gebrechlicher Mann).

    Nun habe ich als Sozialpädagogin bei all diesen Beispielen die professionelle Distanz...wie müssen sich jedoch Eltern fühlen, die ihr Kind lieben? ....und die es nicht an die nächste diensthabende Person abgeben können nach ein paar Stunden ? Ich denke in unserer Gesellschaft, die sich zwar "behindertenfreundlich "rühmt , es aber teilweise nicht ist, haben es Eltern und Menschen mit einer Beeinträchtigung unendlich schwer. Was ich als in diesem Bereich Arbeitende tagtäglich erlebe. Und darum verstehe ich teilweise die von dir benannten Beispiele!


    Und sorry , wenn ich das so schreibe....aber dein Bruder hat mit dem Down Syndrom eine relative einfache, in der Oeffentlichkeit eher akzeptierte Beeinträchtigung. Dies weil diese Menschen als sehr offen, herzlich und fröhlich bekannt sind. Was aber ist mit den Menschen mit all den Formen von Autismus. Die auf der Strasse schreien , spucken und auch mal agressiv sein können. Was mit den Menschen mit Epilepsie, die auch mal in der Oeffentlichkeit einen Anfall kriegen. Oder mit all den Menschen mit spastischen Lähmungen, der im Rollstuhl sitzen und deren Anblick oft die Menschen stört?

    4 Mal editiert, zuletzt von Igela ()

  • Die Szene läuft folgendermaßen ab:


    (Der Bruder Tom versucht, die Aufmerksamkeit seines behinderten Bruders Julius zu gewinnen):

    "Julius, Julius, guck!" ruft Tom nun lauter. "Julius kann ja wirklich nichts", meint er dann enttäuscht. "Ohne uns könnte er ja gar nichts machen. Der könnte ja gar nicht leben, gell, Mama?"

    "Ja, Tom, er braucht uns", sage ich traurig.

    Für ein paar Sekunden blickt Tom Julius mit bekümmerten Augen an.

    "Was ist?", frage ich ihn. "Bist du traurig darüber?"

    "Was wird denn mal, wenn ihr tot seid?"

    Ich erstarre. Wieder einmal spricht Tom unsere geheimen Ängste aus. "Aber Tom! Wir leben hoffentlich noch lange und können uns um euch beide kümmern."

    "Mama, wenn ihr tot seid, binich ja schon groß", erklärt er mir nun, sichtlich beruhigt über seinen Einfall. "Dann brauche ich nur noch eine Frau und dann sind Julius und ich wieder eine Familie. Gell, Julius?" Strahlend drückt er Julius an sich. "Du musst halt nur ganz viele Hippgläschen kaufen, denn ich habe ja überhaupt kein Geld," fügt er hinzu.


    An anderer Stelle macht sich Tom auch Gedanken, wie Julius mit 18 sein wird, wenn er nur auf dem Rücken liegen und nicht sprechen kann. Das finde ich etwas weit hergeholt für einen Fünfjährigen ohne ältere Geschwister. 18 Jahre sind ja noch sehr weit entfernt.

    Jedenfalls zeigt die Szene, dass der Sohn deutlich liebevoller über den Bruder nachdenkt als die Mutter, die sich mehr Sorgen um alles Mögliche macht und dabei wenige liebevolle Worte über Julius verliert (zwar sagt, dass sie ihn liebt, aber das bisher im Text nicht wirklich zeigt).


    LG von

    Keshia

    Ich sammele Kochbücher, Foodfotos und Zitate.


    <3 Aktuelle Lieblingsbücher: "The good people" von Hannah Kent, "Plate to pixel" von Hélène Dujardin und "The elegance of the hedgehog" von Muriel Barbery.

  • Keshia Du denkst, dass das Buch nicht authentisch ist...weil ein 5 jähriger nicht solche Gedanken haben kann ? Das ist dein legitimes Recht, hat aber nur indirekt etwas mit dem oben angesprochenen Thema zu tun.....

  • Zank Es ist einfach unglaublich und abscheulich, ich weiss. Wir brauchten damals eine ganze Team-Supervision um das zu verdauen.

    Ich staune noch heute, wie schlagfertig ich damals reagiert habe. Denn eigentlich ist das einfach nur zum k....wie du oben so treffend illustriert hast.

  • Solche Äußerungen gehen gar nicht und zum Glück wissen das inzwischen tatsächlich die meisten Menschen. Trotzdem gibt es leider immer noch Vorurteile. Bei vielen spielt im Umgang mit Menschen mit Behinderung allerdings auch einfach eine große Unsicherheit mit, denke ich. Da will ich mich selbst gar nicht von ausnehmen: Wenn man nicht betroffen ist oder jemanden mit Behinderung im engeren Umfeld hat, dann weiß man oft nicht, wie man reagieren soll. Wenn z.B. jemand im Kaufhaus einen Anfall hat - Muss man ihm helfen? (oder kommt er alleine damit zurecht?) Darf man überhaupt eingreifen? (laut meinem Erste-Hilfe-Kurs nicht) Soll man stehen bleiben und warten, um vielleicht danach irgendwie zu helfen? Oder wird einem das gleich als Anstarren ausgelegt?

    Mir geht es schon bei älteren Damen mit Rollator im Bus so. Ich biete zwar immer meine Hilfe beim Ein- und Aussteigen an, aber die meisten brauchen keine Unterstützung und ich hoffe immer, dass sich durch mein freundliches Angebot niemand angegriffen fühlt (von wegen "Die Alte kann wahrscheinlich gar nichts mehr alleine").


    Und gerade bei Kindern ist vielleicht auch nicht immer so einfach zu erkennen, ob sich das Kind nun aufgrund einer Behinderung "komisch" verhält oder ob es einfach eine Trotzphase hat. Insofern kann ich schon verstehen, dass das auch für die Eltern belastend ist, wenn sie sich überlegen, dass die Leute vielleicht denken könnten, sie hätten ihr Kind einfach nicht im Griff.

    Ich habe vor kurzem "In den Augen der anderen" von Jodi Picoult gelesen. Das ist ein Roman über einen Autisten. Er ist 18 und kriegt manchmal Anfälle, wenn seine Routine unterbrochen wird. Die Mutter muss sich dann auf ihn werfen, um ihn festzuhalten und zu beruhigen. Sie ruft dann den Passanten immer zu, dass ihr Sohn Autismus habe. Aber will man sich ständig rechtfertigen müssen? Das zehrt sicherlich sehr an den Nerven.

  • Keshia: mein großer ist Grad fünf und glaub mir das ist ganz normal.

    Meiner fragt mich immer, wer zuerst sterben wird: Mama oder Papa.

    Von daher ist diese Szene was komplett normales für das Alter.


    Und zum Thema Behinderung: viele Eltern bekommen nur mehr ein Kind. Das muss natürlich perfekt sein.

  • Die beschriebene Szene mit den beiden Brüdern finde ich ziemlich anrührend und gar nicht weit hergeholt. Ich staune immer wieder, welche Gedanken sich Kinder über sich und das Leben so machen (selbst mein zweijähriger Neffe verblüfft mich da schon gelegentlich), und ich denke auch, dass Kinder mit 5, 6 Jahren über sehr, sehr vieles nachdenken und sich aus diversen Brocken, die sie an den verschiedensten Stellen aufgeschnappt haben, einiges zusammenreimen.

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • Gerade die Kinder sind es, die am ehrlichsten reagieren. Wo ein erwachsener Mensch starren kann, kommt ein kleiner Mensch oft auf eine Person mit Beeinträchtigung zu und fragt nach. Ich war mal mit einem Jungen, der wegen seinen Epilepsieanfällen einen Helm trug, unterwegs. Da kam ein kleines, etwa 7 jähriges Mädchen und fragte warum der Junge einen Helm trägt. Ob ihm nicht warm sei usw. Ihrer Mutter war das sehr peinlich. Da hat mein Schützling gesagt : mir ist es lieber die Leute fragen, statt nur zu starren.

    Genau solche Situationen zeigen, dass Gefühle wie Hemmungen, Angst, Unsicherheiten gegenüber besonderen oder anders aussehenden Menschen oft eine Frage des Alters ist. Und, dass Kinder viel natürlicher mit anders sein umgehen.

    Da fällt mir mein Sohn ein. Als er in der zweiten Klasse war, bekamen sie einen neuen Mitschüler. Er hat am Mittagstisch erzählt wie Noah gut Fussball spielt, dass er gut englisch spricht und ganz schwarze Haare mit vielen kleinen Löckchen hat. Als dann dieser Noah zum ersten mal zum spielen kam, habe ich das mit den ganz schwarzen Haaren verstanden. Noah war dunkelhäutig. Als mein Mann das erwähnt hat, sagte mein Sohn : Ah ja....und?


    Das Beispiel aus dem Buch finde ich wunderbar. Tom spricht die geheimen Angste der Eltern aus. Wie es Kinder so an sich haben, hat er den schwachen Punkt entdeckt und ausgesprochen.

    Einmal editiert, zuletzt von Igela ()

  • Ich habe ja auch wie Igela mit Menschen mit Beeinträchtigungen gearbeitet, und zwar von leichten Autismus-Formen oder leichten Down-Syndrom-Formen bis hin zu schwerstbehinderten Menschen, die sich weder selbstständig fortbewegen können noch sprachlich kommunizieren können und selbst nonverbale Kommunikation sehr eingeschränkt war, die künstlich ernährt werden müssen oder schwere epileptische Anfälle haben. Man kann sich das vielleicht vorstellen, wie ein Neugeborenes im Körper eines kranken Erwachsenen.


    Und ich habe auch viele Eltern gesehen und auch Eltern, die an der Belastung zerbrochen sind. Ich kenne Eltern, die seit 20 Jahren keine Nacht mehr durchgeschlafen haben, weil das eigene Kind im Bett mehrmals pro Nacht umgelagert werden muss oder die Einlagen gewechselt werden müssen. (Und das würde die Diskussion hier sprengen, aber 24h-Pflege ist nicht immer so einfach oder leicht umsetzbar, wie man sich das in einem solchen Fall vielleicht vorstellt. Und selbst wenn das Kind mal nicht zu betreuen ist, ist der Schlafrythmus so gestört, dass ein erholsamer Schlaf gar nicht möglich ist.)

    Ich habe auch eine 90-jährige Mutter kennengelernt, deren 70-jähriger behinderter Sohn seit Jahren auf der Warteliste für einen betreuten Wohnplatz stand. Er war schlichtweg "zu gesund", sodass schwerere Fälle ständig vorgereiht wurden. 70 Jahre lang den eigenen Sohn betreuen und pflegen! Was das heißt, kann glaube ich keiner von uns annähernd nachvollziehen. (Mittlerweile hat er einen schönen Platz bekommen!)


    Alle Eltern machen sich Sorgen um ihren Nachwuchs (hoffentlich), aber die Eltern nicht behinderter Kinder erleben irgendwann auch den Moment, ab dem das eigene Kind sie nicht mehr braucht und sein eigenes Leben leben kann. Diesen Moment erleben Eltern behinderter Kinder in der Regel nie und die Abhängigkeit besteht ein ganzes Leben lang und trotzdem ist es enorm wichtig, auch diesen Menschen Selbstständigkeit zu ermöglichen. Das ist ein großer Balanceakt und ich wüsste nicht, wie ich selbst damit umgehen würde.


    Und auch als Betreuerin habe ich Situationen miterlebt, wo ich persönlich an meine Grenzen gekommen bin. KlientInnen, die sich schwer selbst verletzt haben, KlientInnen, die mich schwer verletzen wollten, Situationen, in denen ich die Polizei rufen musste. Und trotzdem: ich konnte am Ende des Tages nach Hause gehen und musste mir - so gut es ging - keinen Kopf mehr darüber zerbrechen. Eltern können das nicht.


    Ich habe natürlich auch Eltern kennengelernt, die mit der Behinderung des Kindes toll umgehen, aber auch hier habe ich immer die Kraft und die Anstrengung gesehen, die das braucht. Und wie viel ein unterstützendes Umfeld ausmacht, das nicht jeder hat.


    Daher kann ich mich Igela nur anschließen und ich würde auch niemals über eine Mutter urteilen, die sich zur Abtreibung entscheidet oder diese erwägt.

    “Grown-ups don't look like grown-ups on the inside either. Outside, they're big and thoughtless and they always know what they're doing. Inside, they look just like they always have. Like they did when they were your age. Truth is, there aren't any grown-ups. Not one, in the whole wide world.” N.G.

  • Zur Einleitung:

    Sorry für das lange Posting, ich versuchte mich kurz zu fassen und sehe, dass ich gescheitert bin. Wem es zu lang ist, hat mein volles Verständnis.

    Alle drei Bücher wurden als besonders positiv und Argument im Kampf für die Akzeptanz Behinderter gelobt.

    Und warum werden diese Bücher so positiv wahrgenommen?


    Ich glaube, da spielen sehr viele Faktoren hinein. Insbesondere auch der, dass das etwas grundsätzlich verwechselt wird. Ich kenne keines der Bücher (und lese auch keine anderen aus der Sparte), aber so wie du es beschreibst, scheint es nicht um die Akzeptanz behinderter Kinder zu gehen, sondern um die Akzeptanz des Frustes der Eltern. Es geht darum, dass die betroffenen Eltern (wohl vor allem Mütter) in aller Öffentlichkeit und Deutlichkeit sagen, was sie daran belastet, ein behindertes Kind zu haben. Dafür hätte man "früher" ganz schön auf den Deckel bekommen, weil Mutterliebe in jedem Fall und unter jedem Umstand als selbstverständlich, natürlich und unabänderlich vorausgesetzt wurde. Das hat sich geändert. Aber eben, mit der Akzeptanz Behinderter hat das nichts zu tun.


    Man stelle sich vor, die Tochter von Sandra Schulz wäre nicht behindert - und würde später mal lesen, wie ihre Mutter über 200 Seiten darüber nachdenkt, sie abzutreiben. Wäre das nicht grausam?


    Jein. Es kommt darauf an, wie die Mutter ihrer Tochter das erklären würde; insbesondere, weshalb diese Gedanken veröffentlicht wurden. Das ist aus meiner Sicht das einzige "Problem" hier.


    Ob und wann ein Kind zur Welt kommt ist in jedem Fall die Entscheidung der Eltern; sie sind es auch, die für ihre Entscheidung die volle Verantwortung tragen. Entsprechend ist es ihre Pflicht, darüber nachzudenken, ob sie die Verantwortung tragen möchten oder nicht. (Natürlich macht man das grundsätzlich vor der Zeugung.)


    Bei einem Wunschkind, das bei den Voruntersuchungen gesund scheint, ist das keine grosse Sache. Man nimmt es an und freut sich darauf (und fürchtet sich auch davor - gehört alles dazu).


    Bei einem Kind, das möglicherweise oder sicher behindert ist, tauchen neue Fragen auf, der Entscheid muss auf einer anderen Basis getroffen werden.

    Dabei gibt es zwei Probleme, für die es keine Lösung gibt: 1. Es ist unmöglich, die betroffene Person nach ihren Wünschen und ihrem Empfinden zu fragen. 2. Man hat keine Ahnung, was auf einen zukommt, aber nur einen relativ kurzen Zeitraum, eine lebensverändernde Entscheidung (so oder so) zu treffen.


    Es ist das erste Mal, dass einen die Verantwortung, die man als Eltern trägt, voll zum Tragen kommt und dann gleich mit einer Entscheidung, bei der es um alles oder nichts geht. Dass man darüber 200 oder mehr Seiten zu schreiben hat, finde ich nachvollziehbar.


    Bleibt die Frage, weshalb und ob diese Gedanken veröffentlicht werden sollen. Wenn es dazu gedacht ist, andere Eltern in derselben Situation zu unterstützen, finde ich das vertretbar. Andere Motivationen eher nicht.


    Findet ihr das Anspruchsdenken "mein Leben soll durch das Kind schöner werden" übertrieben? Widert es euch an, wenn Eltern sich schämen, dass ihr Kind nicht perfekt ist oder sein könnte? Könnt ihr die Gedanken solcher Eltern nachvollziehen?

    Wer ein Kind möchte, um sein Leben schöner zu machen, sollte keines haben. Das klingt jetzt gemein, aber wenn das die Hauptmotivation ist, ist man auf dem falschen Dampfer.


    Aber ich weiss, das wird gerne mal als Motivation angegeben, ohne wirklich so gemeint zu sein. Ich glaube, die meisten Leute, die sich Kinder wünschen, tun das aus einem Instinkt heraus, der schwer in Worte zu fassen ist und die Frage nach dem Warum mit "weil mir im Leben sonst etwas fehlt / weil ich etwas weitergeben möchte / weil mein Leben damit schöner wird" beantworten - und sei es nur für sich selber. Das ist ja ok, so lange man sich bewusst ist, dass das nur der (unbeholfene) Ausdruck für diese eben nicht in Worte zu fassende Motivation ist, ein Kind zu haben.


    Das Problem fängt da an, wo man seine eigene Botschaft glaubt und anfängt, Wünsche und Erwartungen auf das Kind zu projizieren.

    Das ist IMMER problematisch, egal, ob das Kind ein Fötus, im Kindergarten oder ein Teenager ist, gesund oder behindert. Es äussert sich unterschiedlich, aber der Kern ist immer derselbe: man sieht das Kind nicht als eigenständigen Menschen, sondern als Objekt oder als Besitztum, das gefälligst nach den eigenen Vorstellungen geformt werden kann. Bei einer geistigen Behinderung ist das offensichtlich aussichtslos, entsprechend ist dort das Frustpotenzial am höchsten. Andere Dinge ("falscher" Berufswunsch, "falsches" Verhalten, "falsche" Vorlieben) kann man hinzubiegen versuchen aber eine Krankheit/eine Behinderung setzt Grenzen, die schwarzer Pädadgogik oder anderen dreckigen Tricks nicht zu ändern sind.


    Das Phänomen ist nicht neu (den Jungen, der einst 100% sicher die Bäckerei des Vaters übernehmen würde, gab es schon immer), aber die Verbissenheit mit der Eltern ihre Ziele verfolgen, hat zugenommen. Das rührt unter anderem daher, dass mehr und mit einem sehr viel weiteren Personenkreis verglichen wird/werden kann. Es betrifft auch nicht nur das "Projekt Kind", sondern unser ganzes Leben, das möglichst optimal und pannenfrei laufen soll. Die perfekte Figur, der perfekte Urlaub, die perfekte Tischdekoration. Auch dieses Phänomen ist nicht ganz neu - Diättipps in Zeitschriften gibt es seit ewig - aber wie, wo und wie oft wir damit konfrontiert werden, ist anders. Seit ein paar Jahren sind die Leute deshalb am Durchdrehen - an dieser Stelle ein Gruss ans Web 2.0, dem wir dieses Dauerfeuer in unserem Leben verdanken.


    In dem Kontext kann ein behindertes Kind als grössere Belastung empfunden werden, als das vor 20 Jahren der Fall gewesen wäre. Daran sind die Eltern aus meiner Sicht nur teilweise schuld - das Wettbewerbsdenken ist im Menschen tief verankert; dass es sich im Moment auf höchst diskutable "Leistungen" ausrichtet, kann dem Individuum nicht angelastet werden. Es braucht die Reflektion des eigenen Verhaltens, die Einsicht, dass man mehr von aussen gesteuert wird, als man sich eingestehen möchte und einen gewissen Willen zur Sozialunverträglichkeit (ein ganz ehrlich gemeintes "scheiss auf die Meinung der anderen"), um sich davon zu emanzipieren. Es ist schlicht unrealistisch, das von allen Leuten zu verlangen oder es vorauszusetzen. Egal, ob Eltern oder nicht, von gesunden oder behinderten Kindern.


    Diese Bücher sind nur die Spitze des Eisbergs von Enttäuschten, die nicht einsehen können, dass das Leben weit weg von perfekt ist; die für alles einen Verantwortlichen brauchen (der niemals sie selber sind).


    Ich will damit die Probleme von Eltern mit behinderten Kindern nicht kleinreden. Sie haben jedes Recht der Welt dazu, erschöpft, überfordert, am Ende ihrer Kräfte zu sein und sie sollen das 1. sagen dürfen und 2. Hilfe einfordern können. Sie sollen überall Verständnis für sich und ihre Kinder bekommen. Und Unterstützung; finanziell, moralisch, praktisch. Man soll sie fragen, ob und wie man sie unterstützen kann, statt sie und ihre Kinder zu stigmatisieren. Und wenn das nicht der Fall ist, soll es thematisiert und korrigiert werden.


    Trotzdem ist ein behindertes Kind kein Freipass, sich selber nicht zu reflektieren und sich nicht zu überlegen, wie man für sich, für den Partner/die Partnerin und nicht zuletzt für sein Kind einen Umgang mit der Problematik findet, die allen Beteiligen ein möglichst gutes, positiv geprägtes Leben ermöglicht. Ja, das ist sehr schwierig, wenn man weiss, dass man seinen Lebtag lang einen Menschen zu versorgen hat, der das nicht selber tun kann. Diese Herausforderung ist ungleich grösser als wenn man damit rechnen kann, dass das Kind eines Tages für sich selber sorgt. Man darf sich auch mal in eine Ecke setzen und heulen, weil man eben überfordert ist. Aber das kann keine Grundhaltung sein, weil man sonst seiner Verantwortung als Eltern nicht gerecht wird.


    Unter dem Aspekt würde es mich interessieren, ob die Autorinnen deiner Bücher das verstanden haben und im Nachhinein über die Phase berichten, in der sie eben den Umgang mit ihrem Leben mit einem behinderten Kind noch lernen mussten...


    Lieber Gruss


    Alfa

    Wer anderen folgt, wird nie zuerst ankommen.

    Einmal editiert, zuletzt von Alfa_Romea ()

  • toller Post Alfa.


    Ich seh es bei meiner Nichte. Meine Schwägerin kann sich bei mir nicht hinsetzen und in Ruhe Kaffee trinken weil ihre Tochter, mittlerweile 10, nicht allein stehen oder gehen kann. Sie kann sitzen, aber sie fällt oft um. Sie zieht sich überall hoch. Also muss sie quasi ständig neben ihr sein und aufpassen.


    Das ist ein Leben, dass man sich nicht vorstellen kann wenn man es nicht erlebt.

    Bei ihr gab es bis zur Geburt übrigens keine Anzeichen dass was nicht stimmt. Aber als sie mit drei Monaten immer noch nicht den Kopf halten konnte oder mit den Händen gespielt hat war klar dass was nicht stimmt.

  • Jaqui wie weiter oben geschrieben wurde. Eltern von gesunden Kindern können sich irgendwann abnabeln, da die Kinder selbstständiger werden. Eltern von Kindern mit einer Beeinträchtigung müssen oft ihr Leben lang das Kind umsorgen usw. Ich finde, viele leisten da Grosses! Und ich finde, da dürfen sie auch mal Gedanken haben wie "was wäre wenn"...absolut legitim!


    Keshia Ich bin neugierig, was du bei den verschiedenen Beiträgen denkst?

  • Alfa_Romea : ein sehr schöner, reflektierter Beitrag (nicht nur im Hinblick auf das Thema Behinderungen, sondern überhaupt zum Kinderkriegen und -haben). Danke dafür! :daumen:

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • Keshia Ich finde es etwas schade, dass du als Themeneröffnerin zu all den Postings, die teilweise emotional sind und Fragen an dich stellen, keine Stellung mehr nimmst.