Hakan Nesser - Barbarotti und der schwermütige Busfahrer

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    Lüge oder Wahrheit?


    "Barbarotti und der schwermütige Busfahrer" von Hakan Nesser erschien (HC, 412 Seiten, gebunden) im List-Verlag, 2020 und ist für mich der nunmehr vierte Kriminalroman dieses begnadeten Autors (weitere werden folgen). Auch dieses Mal habe ich mich, wie bereits bei den hervorragenden Vorgängern (Der Fall Kallmann, Der Verein der Linkshänder) mehr als gut unterhalten gefühlt und empfehle ihn gerne den Fans von Kriminalromanen, die subtile Spannung, Atmosphäre, Gesellschaftskritik und psychologische Tiefe den eher blutigen Thrillern den Vorzug geben.


    Schweden 2013 und 2018:


    Albin Runge, der in der Ich-Form erzählende Hauptprotagonist, zieht mit seiner Frau nach Uppsala, da sie dort Karrierechancen hat (beide arbeiten im Universitätsbetrieb) und wird Busfahrer. Er übt nach jahrelangem Wirken als Wissenschaftlicher auch diesen Beruf gerne aus - bis es 2013 zu einem folgenschweren Unfall kommt, bei dem viele Insassen seines Busses, die sich auf dem Weg in den Skiurlaub befanden, ums Leben kommen.

    Runge bleibt unverletzt und unterzieht sich einigen Therapien, lebt jedoch mit den Schuldgefühlen fortan, die ihn sehr bedrücken. Eines Tages, über 5 Jahre sind vergangen, erhält er einen Brief mit dem Absender 'Nemesis': Wieso er noch am Leben sei, habe er doch 18 Menschen umgebracht....

    Eine Weile überlegt er, wer sich hinter dem Drohbrief verbergen könnte und zögert, sich an die Polizei zu wenden. Als sich jedoch die Drohungen häufen, sitzt er eines Tages Gunnar Barbarotti und Eva Backman, einem Ermittlerduo, das seit über 25 Jahren gemeinsame Polizeiarbeit ausübt und auch privat seit Kurzem ein Paar wurde, gegenüber.

    Barbarotti und Backman haben von Beginn an ein Gefühl, dass dies ein fragwürdiger Fall sein könnte - nichtahnend, dass er sie so schnell nicht loslassen sollte. Zeitgleich stapeln sich handfestere Delikte auf deren Schreibtischen im Revier - und in einem Fall macht Eva Backman Gebrauch von ihrer Schusswaffe, um Schlimmeres zu verhüten. Dies zieht eine interne Ermittlung nach sich und Barbarotti/Backman entscheiden sich, eine Auszeit in Gotland zu nehmen, bis sich die Wogen glätten werden. Doch die Ruhe ist trügerisch....


    Meine Meinung:


    Die sehr subtile Spannung, die Hakan Nesser hierbei aufzubauen weiß, hat mir interessante und atmosphärische Lesestunden beschert. Der Autor versteht es, den Leser zu fesseln und die Handlung auf zwei Zeitebenen mit einigen Jahren dazwischen vielschichtig zu gestalten; Details zu eruieren und mit dem Ermittlerduo, das sich teils herrliche Dialoge liefert, der Lösung des Falles nach und nach näher zu kommen.


    Köstlich fand ich auch die gelegentlich eingestreuten Zwiesprachen Barbarottis mit Gott - oder seiner verstorbenen Frau Marianne - wenn er nicht weiter weiß. Oder die Beschreibung Eva Backmans von ihrem Partner im Dienst:


    "Gunnar Barbarotti ist wie das blinde Huhn, das die ganze Zeit Körner findet. Mehr Körner als alle zusammen" (Zitat S. 111)


    Das Schöne: Der Leser darf ihm während des Körner Findens über die Schulter schauen und - miträtseln, wie der Puzzlestein zu werten ist. Welche Rolle spielen die Eltern der Jugendlichen, die damals bei dem Busunglück ums Leben kamen, auch wenn Runge freigesprochen wurde? Wie sieht bzw. sah sein Sozialgefüge aus und wie ist die Beziehung zwischen seiner attraktiven Ehefrau und dem eher unscheinbaren Albin Runge?


    Auch Sozialkritik ist zwischen den Zeilen zu finden, was mir persönlich sehr gefallen hat, da sie in einen guten Kriminalroman hineingehören sollte. Wer Nesser kennt und bereits gelesen hat, weiß, dass er keinen Thriller zu erwarten hat: Jedoch gefällt mir gerade die subtile Spannung, die er in jedem seiner Romane meisterlich aufbauen kann. Unaufgeregt und in die Tiefe der Figuren gehend. Atmosphärisch und kritisch. Auch zuweilen humorvoll, z.B. wenn man erfährt, dass Barbarotti es nicht lassen kann, bei jedem neuen Fall das Aktenzeichen auswendig zu lernen - und etwas gegen "clevere Mistkerle" hat.


    Fazit:


    Ein intelligent geschriebener, atmosphärischer, unaufgeregter Kriminalroman mit einem sehr gelungenen "Coup", in dem das Fließen von Blut Mangelware ist; subtile Spannung mit durchaus humoristischen Einlagen eher den Ton angibt. Nesser hat einen ganz eigenen, wohltuenden Schreibstil, leuchtet seine Figuren gekonnt bis in den letzten Winkel aus und schickt auch hier wieder ein sympathisches Ermittlerduo ins Rennen, das viele sicher noch besser kennen als ich es tue (bisher): Gunnar Barbarotti und Eva Backman. Entweder man liebt Nessers Romane - oder man liest Anderes. Gehört man jedoch zur ersten Gruppe, so kommt man nicht umhin, sich bereits auf den nächsten zu freuen! Eine Krimi- und Leseempfehlung von mir mit 5 * und 96° auf der Krimi-Couch!


    5ratten:tipp:






    "Bücher sind meine Leuchttürme" (Dorothy E. Stevenson)

    Einmal editiert, zuletzt von Sagota ()

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    REZENSION – Eigentlich hatte der schwedische Schriftsteller Håkan Nesser (70) seine erfolgreiche Reihe um Kriminalinspektor Gunnar Barbarotti mit dessen fünftem Fall „Am Abend des Mordes“ (2012) abschließen wollen. Doch nach vier anderen Romanen und einem Gastspiel Barbarottis in Nessers Krimi „Der Verein der Linkshänder“ (2018) aus seiner Van-Veeteren-Reihe veröffentlichte er mit „Barbarotti und der schwermütige Busfahrer“, im September im btb-Verlag erschienen, nun doch nach acht Jahren noch einen weiteren Band. War es der Zwang des Erfolges oder die Liebe des Autors zu seinem liebenswerten Protagonisten?

    Fast möchte man Letzteres vermuten. Der Tod seiner Frau und einige Jahre erfolglos verheimlichter Liaison mit seiner Kollegen Eva Backman – beide um die 50 Jahre alt, er etwas drüber, sie etwas jünger – liegen schon länger zurück. Beide leben seit drei Jahren in seiner Villa in Kymlinge zusammen. Nach einem missglückten Einsatz, bei dem Eva einen Jugendlichen erschoss, hat sich das Paar während der internen Ermittlung eine zweimonatige Auszeit in der herbstlichen Abgeschiedenheit der Insel Gotland genommen, um seelischen Abstand zu gewinnen. Doch selbst in dieser Einöde werden Barbarottis kriminalistischen Instinkte geweckt, als er eines Abends in einem Fahrradfahrer jenen rätselhaften Busfahrer Albin Runge zu erkennen glaubt, der fünf Jahre nach seinem Verkehrsunfall im Januar 2007, bei dem 17 Schüler und eine Mutter starben, nach mehrwöchiger Erpressung das Opfer eines Verbrechens wurde. Barbarotti und Backman rollen diesen geheimnisvollen Mordfall des Jahres 2012 nun erneut auf, um nach möglichen Ermittlungsfehlern zu suchen.

    Ist es die Abgeklärtheit seines Alters? Im sechsten Barbarotti-Band des mittlerweile 70-jährigen Håkan Nesser spielt jedenfalls der eigentliche, irgendwann vom Leser sogar durchschaubare Kriminalfall eine eher hintergründige Rolle. Wichtiger scheint dem Autor sein Protagonist zu sein – der inzwischen zum Kommissar beförderte Gunnar Barbarotti, den Nesser mit liebevollen und gelegentlich auch ironischen Charakterisierungen bei seinen Ermittlungen auf Gotland mit Rückblenden ins Jahr 2012 begleitet. Nessers Barbarotti ist keineswegs der knallharte Ermittler, sondern „das blinde Huhn, das links und rechts und wo kein anderer sie wahrnahm wertvolle Körner findet“, und manchmal auch hilfloser Mann, der hin und wieder mit Gott spricht. Denn „wenn die Körner weit auseinanderliegen, braucht auch ein blindes Huhn Verbündete“. Barbarotti ist ein durch den Tod seiner geliebten Ehefrau ein vom Leben geprüfter, im Leben erfahrener und nachdenklich gewordener Mann geworden.

    Wer also in „Barbarotti und der schwermütige Busfahrer“ einen spannungsgeladenen Krimi erwartet, wird enttäuscht. Aber gerade die scheinbar leichten und leisen Töne in Barbarottis philosophischen Betrachtungen und der mal fast albern klingende, mal lebenskluge Humor in den Zwiegesprächen mit Eva Backman machen diesen Roman so lesenswert, wenn Barbarotti zum Beispiel überlegt: „Die eigene Bestattung erlebt man ja nicht so wirklich, was wahrscheinlich ganz gut ist.“

    Für diese feinen, ironischen Töne muss man als Leser offen sein, um Håkan Nessers Roman richtig wertschätzen zu können. Wobei sogar der Autor sich selbst nicht schont, wenn zum Beispiel sein Protagonist fragt, wieso und wovon Menschen auf Gotland das ganze Jahr über lebten, „wenn sie nicht schon das Rentenalter erreicht hatten oder gut verkäufliche Kriminalromane schrieben“. Denn auch der schriftstellernde Rentner Håkan Nesser gehört mit zweitem Wohnsitz zu diesen Menschen auf Gotland.