Tanja Kinkel: Das Spiel der Nachtigall

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  • Tanja Kinkels Roman über den berühmten mittelalterlichen Dichter Walther von der Vogelweide und die fiktive jüdische Ärztin Judith erschien 2011.


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    Zum historischen Walther:
    Über Walther von der Vogelweide liegt nur eine Urkunde zu seinen Lebzeiten vor: die Schenkung von Geld für einen Pelzmantel durch den Bischof von Wolfger von Passau. Ansonsten kann man Walthers ungefähren Lebensweg nur anhand seiner in erstaunlicher Anzahl überlieferten Lieder und politischer Spruchdichtung nachvollziehen sowie anhand von Erwähnungen seiner literarischen Zeitgenossen. So weiß man nicht, wo er geboren ist, auch seine Sprache gibt darüber nur widersprüchliche Auskunft. Viele Forscher nehmen an, dass er um 1170 auf einem sogenannten Vogelweidhof im süddeutschen /tirolischen Raum geboren worden, seit den 90er Jahren am Hof des österreichischen Herzogs in Klosterneuburg bei Wien wirkte und dort von Reinmar dem Alten die Kunst der hohen Minnedichtung lernte. Doch er emanzipierte sich schnell von dieser in kurzer Zeit sehr formal verödeten Lyrik und sprach sich für die erfüllte Minne aus, wodurch er sich in einen Zwist mit Reinmar begab, der durch zahlreiche Lieder von beiden dokumentiert ist. Später nahm Walther ein unruhiges Reiseleben auf als fahrender Dichter im Dienste vieler Herren, für die er auch politische Dichtung und Loblieder verfasste, neben dem König Philipp II, den Kaisern Otto IV und Friedrich II auch für geringere Herren wie den Landgrafen Hermann von Thüringen und dessen Schwiegersohn Dietrich von Meißen. Dabei hängte Walther einerseits sein Mäntelchen nach dem Wind nach dem Motto: "Wes' Brot ich ess, des Lied ich sing", andererseits wird in seiner Dichtung eine erstaunlich freie,selbstbewusste und geradezu modern individualistische Persönlichkeit deutlich, deren Einsichten weit über die meisten auch seiner hoch stehenden Zeitgenossen hinausgingen.
    EInige seiner Lieder, wie "Ich saz uf einem steine und dahte bein mit beine" oder "Ich han min lehen" und erst recht "Unter der linden" sind vielen heute noch bekannt. Von Kaiser Friedrich bekam er um 1220 endlich ein kleines Lehen - vermutlich nahe Würzburg - verliehen, das seine Existenz absicherte. Um 1230 verstarb Walther.

    Zum Inhalt des Romans:
    Um diese wenigen biografischen Details und die anderen bekannten historischen Personen und Ereignisse rankt Tanja Kinkel eine spannende Handlung, in der sie durchaus waghalsige, aber mögliche Begegnungen und Handlungen schildert. Das beginnt schon damit, dass der junge Walther auf seiner Reise an den Wiener Hof ausgerechnet in dem Gasthof, in dem er und sein Knappe Markwart für die Nacht Unterkunft suchen, die Ingeiselnahme des vom Kreuzzug heimkehrenden Richard Löwenherz durch den Wiener Herzog Friedrich I miterlebt, über ein Pogrom an dem jüdischen Herrn der Münze in Wien, der hier zum Onkel der fiktiven Judith avanciert, bis hin zu vielen Intrigen, in die Walther und Judith verwickelt werden oder die sie gar selbst anzetteln, um geliebte Menschen zu retten bzw. vor allem auf die politischen Verhältnisse Einfluss zu nehmen. Das ist natürlich recht unwahrscheinlich. Andererseits zeigt die breite Überlieferungslage von Walthers politischer Spruchdichtung, die oftmals wirklich überaus keck war, dass sein Einfluss bei seiner breiten Zuhörerschaft groß gewesen sein muss und ihn so mancher hohe Herr lieber an seiner Seite als gegen sich eingestellt gesehen haben muss. Dabei werden Walther ebenso wie Judith keineswegs eindimensional dargestellt, sondern seine ichbezogene Argumentation, die sich in seiner Spruchdichtung und seinen Minneliedern immer wieder zeigt, wird auch in seine Charakterisierung übernommen. Judiths vielfältige emotionale und körperliche Verletzungen führen zu einer Verbitterung, die sie auch ungerecht gegenüber nahestehenden Menschen werden lässt.
    Judith nun - tja, da haben wir wieder das Problem mit den Frauenrollen in historischen Romanen: Ob sie wirklich all das hätte tun können, was sie hier im Roman tut, als Heilerin der Kaiserinnen, als Botin und Vermittlerin politischer Intrigen, sei dahingestellt. Jedenfalls kommen auch die Einschränkungen, die sie in doppelter Weise, als Frau und als Jüdin, erlitt, ausführlich zur Sprache.

    Meine Meinung:
    Dieser Roman ist nichts für diejenigen, die im historischen Roman eher die exotische Kulisse einer fernen Zeit hinter einer spannenden und /oder romantischen Geschichte suchen, sondern man muss sich schon auf viele historische Personen, Ereignisse und Vernetzungen einlassen und Spaß daran haben, diese nachzuvollziehen und vielleicht auch mal das eine oder andere ob seines Wahrheitsgehaltes nachzuschlagen, damit man diesen Roman genießt. Aber dann ist er ein unterhaltsames und dennoch recht informatives Leseerlebnis, das den großartigen Dichter Walther mal wieder aus den verstaubten Lyrikanthologien löst und uns einen modernen Menschen in all der Vielfalt seiner Facetten zeigt.

    Einmal editiert, zuletzt von finsbury ()

  • Danke für diese schöne Rezi! Das Buch hatte ich überhaupt nicht auf dem Schirm, obwohl ich Tanja Kinkels Bücher gerne lese und schon oft an Walthers Grabmal im Würzburger Lusamgärtlein war.

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • Dann solltest du es auf jeden Fall lesen, Valentine und dir vielleicht auch das eine oder andere Walther-Gedicht in einer Anthologie anschauen. Ich hatte mich vor urlanger Zeit im Germanistikstudium am Rande mit ihm beschäftigt, war aber jetzt richtig froh, über den Roman wieder auf diesen unruhigen und komplexen Autoren, der weit über seine Mitlyriker hinausragte, aufmerksam zu werden.