Mehr Platz der Lyrik

Es gibt 100 Antworten in diesem Thema, welches 6.483 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von Saltanah.

  • Hallo zusammen,


    ich habe mir überlegt, dass in der Literatur immer weniger Platz der Lyrik eingeräumt wird.


    Somit starte ich hier einen Feldversuch. Ich hoffe, viele von euch machen mit!


    Einmal pro Woche stellt jemand ein Gedicht rein, und jeder soll schreiben, was ihm/ihr dazu einfällt.

    Welche Assoziationen habt ihr, was fällt euch besonders auf bei dem Gedicht,? Wie findet ihr die Sprache, den Stil, ...



    Ich möchte mit einer Landsfrau von mir starten. Ich finde sie hat wundervolle Gedichte geschrieben. Dieses stammt von 1995 und ist aktuell wie damals. Ich würde mich über rege Teilnahme freuen.


    was brauchst du (Friederike Mayröcker)



    Friederike Mayröcker:

    was brauchst du

    was brauchst du? einen Baum ein Haus zu

    ermessen wie groß wie klein das Leben als Mensch

    wie groß wie klein wenn du aufblickst zur Krone

    dich verlierst in grüner üppiger Schönheit

    wie groß wie klein bedenkst du wie kurz

    dein Leben vergleichst du es mit dem Leben der Bäume

    du brauchst einen Baum du brauchst ein Haus

    keines für dich allein nur einen Winkel ein Dach

    zu sitzen zu denken zu schlafen zu träumen

    zu schreiben zu schweigen zu sehen den Freund

    die Gestirne das Gras die Blume den Himmel

  • Ich finde die Idee sehr gut, liebe b.a.t. und würde gerne aktiv mitmachen: Ich habe sehr lange Gedichte gesammelt und liebe die beiden "Bändchen" unzähliger Verse heiß und innig..... Ausgetauscht habe ich mich schon lange nicht mehr über Lyrik - und sehe sie auch als "Randexistenz" der Literatur (leider).


    Gedanken zu "was brauchst du"


    Ich habe es vor ca. 1 Woche zufällig im Radio (SR2 Kulturkanal) erstmals gehört und mir eine Notiz gemacht, dieses Gedicht aufzuschreiben. So gut gefällt es mir nämlich:


    Mayröcker bringt darin auf den Punkt, was ein Mensch wirklich braucht - geistiger "Besitz" vs. materiellem Besitz erklingt da bei mir - und auch die Tatsache, dass man ein Haus nicht für sich alleine haben sollte. Bescheiden sollte der Mensch sein (ist er aber meist nicht) - und DAS sehen, was Wundervolles um ihn herum ist: Zum Nulltarif! (siehe oben); z.B. die Natur, der Wald:

    Überhaupt, Bäume: Ich liebe sie sehr und habe im Sommer wirklich furchtbar mit ihnen gelitten, dass es viel zu heiß und zu trocken war. Das hat auch meiner Seele überhaupt nicht gut getan (daher freue ich mich momentan trotz aller Kühle sehr, dass es Herbst ist und der September nass war. Ziemlich nass hier.


    Wenn ich den Gedanken weiterspinne, kann ich mir vorstellen, dass Bäume im Grunde stärker sind als Menschen: Sie können sich veränderten Lebensumständen anpassen, wie man herausfand.


    Zu Beginn des wunderschönen Gedichts klingt für mich auch an, dass sich der Mensch nicht für größer halten sollte, als er tatsächlich ist: Er neigt dazu, sich zu überschätzen - was wir derzeit leider an jeder "Ecke" zu sehen bekommen... (Oder, Lecks durch vermutliche Sabotage Nordstream2 Pipeline, Überschwemmungen und Wirbelstürme - Chaos in Wetter- und auch Temperaturlage, Abschmelzen der Gletscher in den Alpen etc. pp......

    "Bücher sind meine Leuchttürme" (Dorothy E. Stevenson)

  • Erinnert mich ein bisschen an Gedichtanalyse in der Schule :wegrenn:


    Das Gedicht ist aber wirklich schön. Mir fällt dazu als erstes das Stichwort "Rückbesinnung" ein. Eine Rückbesinnung auf die "Basics" des Lebens: auf die Vergänglichkeit; auf die Natur; auf das, was wirklich wichtig ist.

  • ja, das trifft es exakt: "Rückbesinnung" ist eine gute und zutreffende Metapher....

    Ich hatte auch noch im Kopf "retour à la nature"

    "Bücher sind meine Leuchttürme" (Dorothy E. Stevenson)

  • ja sehe das auch so, Rückbesinnung, Vernunft, gegen die Schneller-Höher-Weiter Gesellschaft.


    Jeder einfache Baum kann uns in der Weltgeschichte den Rang ablaufen.

    Ein sich selbst in Relation zur Welt setzen, den Größenwahn den manche annehmen zur Raison zu bringen.


    Jeder benötigt einen Rückzugsort, ein kleines Plätzchen um sich selbst zu reflektieren,


    Eines ist aber leider nicht mehr so, wie sie es beschrieben hat. Viele Bäume werden nicht mehr so alt, die haben wir schon vorher erledigt. Sie selbst ist ja 97 Jahre alt geworden. Viele Bäume sterben schon früher.

  • Als bekennende Gedichtsanalphabetin (mein Gehirn weigert sich, sich mit Gedichten zu befassen) beantworte ich die Frage "Was brauchst du?" mit "ein paar Grossbuchstaben und viele Satzzeichen".

    Wäre der Text ganz normal geschrieben, würde er mir inhaltlich gefallen, aber so habe ich es auch nach bestimmt einem halben Dutzend Versuchen nicht geschafft, das vollständige Gedicht zu lesen. Spätestens bei Zeile 7 schaltet mein Gehirn ab.

    Wir sind irre, also lesen wir!

  • Ich finde es erstaunlich was ihr so aus ein paar Zeilen raus liest. Ich hab Gedichte schon in der Schule nicht gemocht, das hat sich nicht geändert.

    Mit dieser Art der Literatur kann ich leider nicht viel anfangen.

    Finde es aber toll, dass viele andere es können. :)

  • schade Jaqui, ich finde das ist die höchste literarische Kunst, in ein paar Zeilen das auszudrücken, wofür andere ganze Bücher brauchen.


    Ich will nicht da eine gegen das andere aufwiegen, beides hat seine Berechtigung. Aber auch die Wortspiele und Sprachfindigkeiten, die so manches Gedicht in sich birgt ist für mich genial.


    Gedichte schaffen es für mich Emotionen zu transportieren, wenn sie gut sind. Im speziellen Fall von Friederike Mayröckers Gedicht bringt es etwas Herbstliches, Lebensherbstliches mit sich. Ein bisschen Vanitas.

  • Mir fällt gerade ein, dass ich vor Jahren mal zwei Gedicht-Bücher einer Dichterin gelesen habe, auf die ich auf FB aufmerksam wurde. Ich suche die Buchvorstellungen mal raus.


    Wer sich sehr leidenschaftlich für Gedichte und Dichter*innen einsetzt, ist Dinçer Güçyeter mit seinem ELIF-Verlag, auch auf FB ganz rege. Nur mal so alt Tipp.

    Denn ich, ohne Bücher, bin nicht ich. - Christa Wolf


    2022 - 64

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  • Ohh :love: Tolle Idee!

    Ich mag Gedichte sehr gerne, manche mehr als andere.


    Wie wird entschieden, wer und wann ein Gedicht hier reingestellt wird? Und es ist sicherlich jede Art von Lyrik ""erlaubt""?



    Was das Gedicht oben angeht, ich kannte es nicht und trifft nicht 100%ig meinen Geschmack aber ich mag es gerne.


    Es wurde schon viel gesagt dazu und ich bin zu müde um groß nachzudenken aber:

    "du brauchst einen Baum du brauchst ein Haus"


    ..da musste ich an das Haus meiner Eltern denken, das Haus in dem ich von meinem 9. bis 20. Lebensjahr gelebt habe. Wir hatten einen Kirschbaum im Garten, der war da schon sehr alt. Vor wenigen Jahren musste er gefällt werden und das hat paar Mitglieder der Familie mehr getroffen als erwartet (zumindest war ich emptionaler als gedacht 8| ). So von wegen "Mein Freund der Baum ist tot" und so....


    Das war meine Assoziation, und da wurde ich kurz angenehm nostalgisch <3

  • ich würde vorschlagen, jede Woche ein Gedicht. Wenn du willst, kannst du für nächste Woche eines aussuchen und posten Kritty


    Was magst du denn für Gedichte?

    Ich finde, es sollte keine Einschränkungen geben. Von klassischer Ballade bis Poetry Slam.

  • ich würde vorschlagen, jede Woche ein Gedicht. Wenn du willst, kannst du für nächste Woche eines aussuchen und posten Kritty


    Was magst du denn für Gedichte?

    Ich finde, es sollte keine Einschränkungen geben. Von klassischer Ballade bis Poetry Slam.


    Ich bin von heute Abend bis Montagabend bei meinen Eltern, aber vielleicht schaffe ich es, eines zu posten. Aber es kann gerne auch jd anderes.


    Was ich für Gedichte mag...schwierig, ich mag sehr viel. Ich tendiere dazu, Gedichte mit Reim zu bevorzugen, aber ich mag auch poetische Texte ohne Reim(schema) - Ocean Vuong oder Richard Siken zB, das empfinde ich auch als Lyrik obwohl es teilweise wie Prosa aussieht. Einer meiner Lieblingslyriker ist ganz klassisch Robert Frost. Und ich mag Bertolt Brecht sehr gerne, eine(s) meiner Lieblingsbaladen/Gedichte von ihm ist der Kinderkreuzzug1939. Den habe ich mit 14 mal auswendig gelernt. Dann mochte ich eine Zeit lang Werke von Paul Celan sehr gerne, die schlagen mir jedoch sehr aufs Gemüt inzwischen. A.A. Milne mag ich ganz arg, und auch Khalil Gibran (als Jugendliche hatte ich "Eure Kinder" an meiner Wand hängen und habe es manchmal spontan rezitiert...😂).

    Viel Englisch also..

  • Du kannst gerne Zank ♡

  • Mit Gedichten geht es mir wie mit Parfums (..und ähnlich sehe ich sie auch..):


    Es gibt wenige, die ich wirklich mag - aber mittlerweile hab ich doch ein paar gefunden.

  • Am vorliegenden Gedicht gefällt mir der gelungene

    wellenartige Wechsel vom Materiellen zum Ideellen -

    ..aber generell bin ich doch ein zu großer Fan der Groß- und Kleinschreibung im Deutschen; das Fehlen der Interpunktion kann dagegen ja noch als Gedankenfluss durchgehen.


    Eine schöne Idee b.a.t. , um Neues kennenzulernen.

  • Was ich interessant finde:

    Dass wohl sowohl Saltanah als auch ich die doch gar nicht wenigen Großbuchstaben der Substantive quasi übersehen haben, weil großgeschriebene Satzanfänge fehlen. Wiirklich interessant.

    (Es gibt eben so einige Details in der Schreibweise gerade unserer Sprache, die einem Schnellleser diese Tätigkeit ungemein erleichtern - fehlen sie, werden wir ratlos.

    Ein Trick, zum genauen Lesen zu "zwingen"?!

  • Nein, nein, die vielen grossgeschriebenen Substantive habe ich schon wahrgenommen - aber ebenso sehr auch die nicht grossgeschriebenen Satzanfänge. Drum schrieb ich "ein paar" Grossbuchstaben und "viele" Satzzeichen.

    Wir sind irre, also lesen wir!

  • Wenn du willst, liebe Zank - stelle Dein Gedicht ein: Ich würde dann auch demnächst eines heraussuchen, das ich sehr mag (obwohl ich eigentlich alle mag, die ich in meinen Gedichtkladden aufgeschrieben habe - einige würde ich sehr gerne mit euch teilen!


    Kritty

    Brecht - Khalil Gibran (wir sind der Bogen.....) - ich liebe einige Gedichte von beiden sehr! Bei Brecht ist es (ich kenne sicher nicht alle)

    "gut zu sein, zu anderen - auch zu sich selbst - das ist GUT" (o.s.ä. ;) ist eins meiner Lieblingsgedichte von Brecht.

    "Bücher sind meine Leuchttürme" (Dorothy E. Stevenson)

  • Ich bin ein grosser Fan von Lyrik. Aber einmal pro Woche ein Gedicht einstellen - da bin ich raus. Da hätte ich ungefähr Gedichte für die nächsten drei oder vier Jahre hier, die ich gut finde. Und immer noch ungefähr welche für anderthalb Jahre von denen, die ich ausgezeichnet finde. Und mindestens ein halbes Jahr welche, die genial sind. Und dann hätte noch niemand anders Gedichte eingestellt.


    Mal schauen, b.a.t. , ob wir Deine Idee in anderer Form im Klassikerforum verwerten könnten. Aber nicht mehr dieses Wochenende.

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen. (Karl Kraus)