Mehr Platz der Lyrik

Es gibt 441 Antworten in diesem Thema, welches 24.955 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von b.a.t..

  • Das Bild ist klasse!


    Mit dem Gedicht kann ich auf den ersten Blick noch nicht so viel anfangen, das muss ich noch mal auf mich wirken lassen. Die Bildsprache ist speziell und ich kann sie noch nicht so ganz deuten.


    Erst mal nur so viel: die erste (und letzte) Zeile fühlt sich sehr passend zur aktuellen Zeit und Weltlage an.

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • Lyrik ist ein "schwieriges" Geschäft. Das zeigen die Beispiele der letzten Wochen. Es mag daran liegen, dass ich mich schwer tue, sehr, sehr genau hinzuschauen, was da geschrieben steht. Hinzu kommen Bilder und Worte, die einem persönlich fremd sind.


    Bei "die gestundete Zeit wird sichtbarer am Horizont" dachte ich zunächst daran, dass es sich hierbei um ein Gedicht über das nahende Lebensende handelt. Unsere Lebenszeit ist begrenzt und in einem religiösen Kontext könnte man sie als von Gott geliehen ansehen. Das wäre wohl etwas vorschnell geschlossen. Denn in der zweiten Strophe geht es um den Verlust der Geliebten. Sie versinkt im Sand. Schwierigkeiten bereitet dann "er befiehlt ihr zu schweigen". Wer ist dieser "er"? Es könnte sich um einen Mann handeln. Das passt dann aber nicht zur dritten Strophe, die sich direkt an den Leser wendet und im Imperativ gehalten ist. Ist mit dem "er" der Sand gemeint, was grammatikalisch dann das richtige Personalpronomen wäre. Aber Sand befiehlt und fällt ins Wort? Also ein aktiv handelnder Sand?


    Springen wir noch mal zurück in die erste Strophe. Dort wird von den Marschhöfen gesprochen. Das musste ich auch erst mal googlen. Wikipedia klärt auf: https://de.wikipedia.org/wiki/Marschland

    Ich hatte das also durchaus richtig im Kopf, dass damit Landschaften in Schleswig-Holstein gemeint sein könnten. Ein einsamer Hof am nahen Meer. Natürlich hat man auf solchen Höfen einige Hunde um sich. Sie sind die treuesten Weggefährten des Menschen und muss sie nun zurücklassen, ja sogar zurückjagen. Wobei das aktive "jagen" ebenfalls Fragezeichen hinterlässt. Womöglich ist man Fischer und auf dem Hof liegen die ausgenommenen Eingeweide der Fische. Der Wind beschreibt das typische norddeutsche Schmuddelwetter. Metaphorisch könnten die Eingeweide für den Bauch oder das Bauchgefühl stehen. Welches nun erkaltet. Das Ende der Liebe zeichnet sich ab. Es gibt ja Beziehungen, bei denen durchaus von Anfang an klar ist, dass sie wohl nicht ewig andauern, dass es sich nur um eine gestundete Zeit handelt.
    Auch die Lupinen musste ich googlen. Diese leuchtenden Dolden sind mir bekannt, mir war der Blumenname dafür jedoch nicht präsent. Diese leuchtenden Blumen leuchten nun nur noch ärmlich. Die Liebe verblasst langsam. In der dritten Strophe wird man aufgefordert, sich auf den Weg zu machen, altes zurückzulassen. Die Lupinen gar auszulöschen. Dabei trauert man einer verflossenen Liebe doch hinterher und will sie noch mal wiederbeleben, man sucht nach Wegen, die Lupinen neu zu entzünden. Die Autorin weiß es besser und empfiehlt, altes hinter sich zu lassen. Und aus meiner Lebenserfahrung würde ich ihr da zustimmen. "Es kommen härtere Tage" - wie wahr, ich habe das durchgemacht, übrigens mit einer Liebe, die sich auch an der norddeutschen Küste zugespielt hat. Nur hat mir niemand zugerufen, diese Liebe hinter mir zu lassen. Hätte mich das Gedicht seinerzeit getröstet? Schwer zu sagen, "schnür deinen Schuh" ist leicht gesagt, wenn man in dieser unendlichen Trauer noch verhaftet ist. Fast 30 Jahre später kann ich jedoch erkennen, dass jegliche Zeit mit einem Partner nur gestundet ist. Endlichkeit ist ein dem Leben innewohnendes Prinzip.


    Bleibt die unaufgelöste zweite Strophe. "willig dem Abschied" - wer ist willig? Nur die Geliebte oder ist es auch der Mann? Oder kann man es als Tod des geliebten Partners verstehen? Dazu gibt es keinerlei Hinweise. Die verblassenden Lupinen könnten natürlich auf eine schwere Krankheit hindeuten.


    Ich warte mal ab, wer hier andere Schlüssel, die dann auch für mich passender klingen, zur Erklärung beibringt.

  • Eine zu Ende gehende Liebe ...


    Interessant finde ich, dass die Österreicherin und damit Binnenländerin Bachmann ihr melancholisches Gedicht am Meer ansiedelt. Diese Landschaft - flach wie Obelix' Schweiz - muss etwas sehr Deprimierendes für sie gehabt haben.


    Die Natur: Sand, Meer, ein paar Hunde (die aber vertrieben werden), tote Fische, Lupinen. Nicht sehr lebendig, wenn man mich fragt.


    Lupinen: nicht gerade die Blüten, die man in einem Liebesgedicht erwarten würde. Sie blühen denn auch im wirklichen Leben relativ unspektakulär. Lupine ist auch essbar, wie die Fische. Doch die Lupinen werden gelöscht und die Fische weggeworfen. Zusammen mit dem Bild der im Sand versinkenden Geliebten auch ein Bild des Todes. Das Ende einer Liebe ist in vieler Hinsicht offenbar auch ein Tod in diesem Gedicht.


    Die Geliebte: "er findet sie sterblich // und willig dem Abschied // nach jeder Umarmung." "Er" ist zwar hier der Sand, aber ich frage mich, ob Bachmann den französischen Ausdruck "la petite mort" kannte für den Orgasmus ...

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen. (Karl Kraus)

  • oh, das wäre doch überraschend. M.E. sind es Höfe in der Marsch. Dazu passt dann ja auch der Sand der zweiten Strophe (Strandnähe) und die Fische, die man ins Meer zurückwerfen soll.

  • ja das passt alles, aber ich glaube da gibt es eine zweite ebene, eine persönliche, das Ende einer Liebe oder auch eines Lebens, als auch eine pollitische.


    So lese ich das zumindest.

  • Diese Landschaft - flach wie Obelix' Schweiz - muss etwas sehr Deprimierendes für sie gehabt haben.

    Das überrascht mich etwas, und wirft bei mir folgende Fragen auf: Bachmann selber ist in den Bergen aufgewachsen und hat dort auch ihre Kindheit verbracht. Warum verlegt sie die Szenerie nun an die flache norddeutsche Küste? Wobei diese Landschaft ja heutzutage von vielen Urlaubern (Dänemark!) geradezu aufgesucht wird, da sie der überbordenden Überfüllung des modernen Lebens entflieht. Das gab es aber zum Zeitpunkt dieses Gedichts noch gar nicht. Kannte sie also die Marschlandschaften aus eigener Anschauung?

    Einmal editiert, zuletzt von thomas_b ()

  • ja das passt alles, aber ich glaube da gibt es eine zweite ebene, eine persönliche, das Ende einer Liebe oder auch eines Lebens, als auch eine pollitische.

    Ich bin skeptisch, was das Politische angeht, insbesondere nach dem Anschauen des folgenden Videos, welches sich mit 10 Fehlern in der Gedichtanalyse beschäftigt:


    https://www.youtube.com/watch?v=DlUNzCeoZDM


    Sehr sehenswert, sehr häufig verfalle ich auch in mindestens einen dieser Fehler. Wobei die Lehrerin zugesteht, dass es im Einzelfall eben durchaus so sein kann.


    Fehler 5: (ab Minute 06:08) "irgendwas mit Krieg und Nazis" -. wird oft vorschnell gefolgert, wenn das Gedicht um diese Zeit entstanden ist.

  • ja das passt alles, aber ich glaube da gibt es eine zweite ebene, eine persönliche, das Ende einer Liebe oder auch eines Lebens, als auch eine pollitische.


    So lese ich das zumindest.

    Das liest auch Wikipedia so. Gleich im ersten Abschnitt. Um dann nicht mehr darauf zurück zu kommen. Was mich nicht weiter erstaunt. Politisch war Bachmann vielleicht in den letzten 10 Jahren ihres Lebens - wenn man davon ausgeht, dass eine immer mehr ins Zentrum rückende weibliche Position im Werk als politisch bezeichnet werden kann.


    Wir können natürlich Literatur im Allgemeinen und dann Lyrik im Besonderen immer auf drei Arten betrachten:

    a) Wir fragen: Was ist drin?

    b) Wir fragen: Was will uns die schreibende Person sagen?

    c) Wir fragen; Woran erinnert mich das (zusätzlich)? Was löst es in mir aus?


    Diese Ansätze sind halt oft nicht kompatibel.

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen. (Karl Kraus)

  • Stimmt, aber ich glaube nicht, dass das eine das andere ausschließt. Politisch war sie immer auch schon in den Jugendgedichten. Mit dem Gedichtband der gestundeten Zeit hat sie übrigens den Preis der Gruppe 47 gewonnen.

    In Wikipedia hab ich gar noch nicht nachgelesen.

    Vieles lässt sich auch aus ihren Briefen schließen.

  • Mir stellte sich beim Lesen die Frage, ob das Gedicht vielleicht in ieinem größeren Zusammenhang steht?!


    Die Fische scheinen sich an Land aufzuhalten, wenn der Wind sie kühlen kann und ein Zurückwerfen (später) wünschenswert ist? "Denn..." - scheint also schon wichtig zu sein... Hm, den Punkt krieg ich einfach nicht... außer, sie stehen für etwas völlig Anderes.* ?(


    ( thomas_b Ich kann diese Bemerkung endgültig nicht unterdrücken, sorry... : Lupinen haben keine Dolden. NEIN.)



    (Nachtrag) - * "Eingeweide als Symbol für (göttliche) Weissagungen", fand ich. Hat nicht iwer in einem Asterixband auch mal aus Fischen "gelesen"? Der Seher?? :/

    (Und das Zurückwerfen, weil das auch nichts hilft?)

    Einmal editiert, zuletzt von Alice ()

  • ( thomas_b Ich kann diese Bemerkung endgültig nicht unterdrücken, sorry: Lupinen haben keine Dolden. NEIN.)

    Ich bin kein Gärtner, aber im Internet steht es so:

    Lupinen sind bekannt für ihre langen, beeindruckenden Blütenstände, die als Dolden bezeichnet werden.

  • Wikipedia meint "traubige oder ährige Blütenstände" ;) Dolden sind doch eher so wie bei der Schafgarbe (oder?)


    Haben Lupinen irgendeine besondere Symbolik?

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • Vielleicht kann mich ein Gärtner aufklären, was Dolden sind. Ich finde es auf zig Internetseiten, dass Lupinen Dolden haben.


    Gegoogelt, ganz ohne KI. ;)

  • Eingeweide als Symbol für (göttliche) Weissagungen", fand ich. Hat nicht iwer in einem Asterixband auch mal aus Fischen "gelesen"?

    Aus Eingeweiden wurde auf jeden Fall gelesen, ob man da auch Fische verwendet hat, weiß ich ad hoc nicht.

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • Aus Lupinen wird heutzutae auch Fake-Fleisch gemacht, im und nach dem 2. WK auch Kaffeeersatz.

    Ob man auch Leuchtmittel daraus machen kann, weiß ich nicht, es gibt aber eine Leuchtmittelfirma die Lupine heißt, gab es damals aber noch nicht.