Mehr Platz der Lyrik

Es gibt 441 Antworten in diesem Thema, welches 24.951 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von b.a.t..

  • Eingelegte Ruder


    Meine eingelegten Ruder triefen,

    Tropfen fallen langsam in die Tiefen.


    Nichts, das mich verdross! Nichts, das mich freute!

    Niederrinnt ein schmerzenloses Heute!


    Unter mir - ach, aus dem Licht verschwunden -

    Träumen schon die schönern meiner Stunden.


    Aus der blauen Tiefe ruft das Gestern:

    Sind im Licht noch manche meiner Schwestern?


    (Conrad Ferdinand Meyer)

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen. (Karl Kraus)

  • Das ist ein melancholisches und deprimiertes Gedicht, aber irgendwie auch schön.


    Ich kenne nicht viel von Meyer, ich hab ein oder zwei Novellen gelesen noch während der Schulzeit (im letzten Jahrtausend).

    Damals wurde schon gesagt, dass er einen nicht gerade ausschweifenden Stil hat. Das finde ich in diesem Gedicht zumindest bestätigt.


    Mit wenigen Worten drückt er sehr viel aus. Die Kompaktheit und Dichte in der Sprache gefällt mir. Es gibt quasi Stillstand . Die Ruder bringen ihn nicht mehr voran, weil sie im Boot liegen. Antriebslosigkeit und das Nachdenken was bis dahin am Weg bereits passiert ist. Es ist nichts besonderes heute passiert, ein monotoner Tag. Lohnt es sich überhaupt weiter zu rudern?


    Die schöneren Erlebnisse und Träume sind bereits ganz tief unter ihm versunken.

    Die Schwestern, die vom Gestern rufen - klingt für mich wie der Gesang der Sirenen.

  • Die Ruder bringen ihn nicht mehr voran, weil sie im Boot liegen.

    Haarspaltermodus : Sie "liegen nicht im Boot" - sie sind "eingelegt"/ eingezogen, also die Ruderblätter hängen in der Luft über Bord? (Sonst könnte es ja nicht von ihnen "in die Tiefen tropfen"...)

    ;)

  • Alice berechtigter Einwand, ,aber für mich klingt eingelegt entweder nach Gemüse oder es liegt irgendwo drinnen.


    Es kann sein, dass es einen rudertechnischen Fachbergriff des Einlegens gibt, aber ich habe sehr wenig Ahnung von der Ruderei, nur dass es anstrengend ist :)

  • Und ich habe mal wieder nur Essen im Kopf und frage mich, wie und warum man Ruder einlegt :D

    Aragorn: "Ihr habt schon gefrühstückt."

    Pippin: "Wir hatten das erste, ja. Aber was ist mit dem zweiten Frühstück?"

    Merry: "Ich glaube nicht, dass er weiß, dass es sowas gibt."

    Pippin: "Und der Elf-Uhr-Imbiss? Mittagessen? Vier-Uhr-Tee? Abendessen, Nachtmahl? Das kennt er doch wohl, oder?"

    Merry: "Ich würde mich nicht darauf verlassen."

    Aus: "Der Herr der Ringe: Die Gefährten"

  • Lyrik lesen bildet. Thomas' österreichische Ruderer haben natürlich Recht; aber ich gebe zu, dass selbst der Online-Grimm diese Bedeutung nicht kennt.

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen. (Karl Kraus)

  • Die Dolle im Bootsbau ist in D seit 1836 nachgewiesen. Aber auch diese kennt der Online-Grimm nicht, obwohl das Wörterbuch erst 1852 mit einer ersten Lieferung erschienen ist.


    Ich stelle mir einen Ruderer vor, der einige Züge mit dem Boot gemacht hat, nun ist er abgekämpft, er nimmt die Ruder aus dem Wasser, das Boot gleitet langsam dahin und er fragt sich, was sein Leben ausmacht. Die nassen Ruder tropfen in den Fluss (oder ist es ein See?) und er ist einer melancholisch depressiven Stimmung. Selbst das Rudern bereitet ihm heute keine Freude, dabei ist dieses fast lautlose Dahingleiten in Verbindung mit der Natur normalerweise ein erhebendes Erlebnis. Die Schmerzen seines Lebens können ihm nichts anhaben und prallen ab. Triefen herunter wie die Tropfen der Ruder. Die Vergangenheit mit den schönen Momenten liegt in der Tiefe des Sees begraben. Und Erinnerungen an seine geliebten Schwestern kommen nach oben.

    2 Mal editiert, zuletzt von thomas_b ()

  • Und Erinnerungen an seine geliebten Schwestern kommen nach oben.

    "Aus der blauen Tiefe ruft das Gestern:

    Sind im Licht noch manche meiner Schwestern?"


    Ich würde denken, dass "Schwestern des Gestern" gemeint sind?! Also vergangene schöne Tage, die aber unvergessen, also noch "gegenwärtig" sind?!


    (Sonst wär es doch allzusehr ein Reimdichoderichfressdich - und das sollte man einem so einem "qualifizierten" Dichter doch lieber nicht unterstellen... :S )

    2 Mal editiert, zuletzt von Alice ()

  • (Sonst wär es doch allzusehr ein Reimdichoderichfressdich - und das sollte man einem so einem "qualifizierten" Dichter doch lieber nicht unterstellen... :S )

    Im Grunde ist deine Interpretation viel schöner und man kann das durchaus so lesen. Auf der anderen Seite wird Meyer ein sehr inniges Verhältnis mit seiner Schwester Betsy nachgesagt, so innig, dass die Ehefrau eifersüchtig wurde.


    Daher sind mit "Schwestern" wohl hier tatsächlich die übrigen gestrigen Tage gemeint, zugleich setzt er seiner geliebten Schwester ein (mehr oder weniger verstecktes) Denkmal.


    Es sind Tage der Vergangenheit, so glücklich wie diejenigen mit seiner Schwester. Schwesterntage sozusagen. Er formuliert das als Frage. Sind sie noch da? Oder kann man gar fragen: Kommen Sie wieder?

  • Ich würde denken, dass "Schwestern des Gestern" gemeint sind?! Also vergangene schöne Tage, die aber unvergessen, also noch "gegenwärtig" sind?!

    Ganz Deiner Meinung. Menschliche Schwestern ergeben hier keinen Sinn; wo kämen die in der allerletzten Zeile plötzlich her in diese trübe Naturstimmung und die Gedanken an die vergangenen Tage? Das wäre ein Stilbruch sondergleichen.

    Es sind Tage der Vergangenheit, so glücklich wie diejenigen mit seiner Schwester. Schwesterntage sozusagen.

    Ich mag Interpretationen ad personam nicht. Die Schwestern sind die Schwestern des Gestern, der Vergangenheit. Hier stellt sich die bange Frage, ob da noch viel auf das rudernde lyrische Ich zukommt. Todessehnsucht oder Todesangst? Das Gedicht bricht nicht zufällig hier ab.

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen. (Karl Kraus)

  • Ich finde hier auch viel Sehnsucht. Sehnsucht nach dem Tod? Hm ... das lyrische Ich scheint zwiegespalten. Wasser als Symbol der Vergänglichkeit.

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen. (Karl Kraus)

  • Ich sehe vor allem in der zweiten Strophe eine sehr gelungene Beschreibung eines depressiven Zustands, in dem einen nichts mehr zu berühren vermag, weder positiv noch negativ. Es gibt zwar keine Schmerzen, aber auch keine Emotionen, die Gegenwart plätschert einfach so dahin bzw. verrinnt.


    Nichts, das mich verdross! Nichts, das mich freute!

    Niederrinnt ein schmerzenloses Heute!

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • Da ich am Freitag vergessen habe zu fragen und sich auch niemand von selbst gemeldet hat, habe ich ein Gedicht der Woche gesucht und gefunden.

  • Marie Luise Kaschnitz - Ich vergesse so viel


    Ich vergesse so viel

    Das meiste

    Nur einiges nicht


    Nicht die englische Tänzerin

    Mit den roten Schuhen

    Nicht den brennenden Bergahorn

    Vor der Eigernordwand


    Auch nicht die Toten

    Mit Kalk übergossen

    Wie sie glänzten im Mondlicht


    Zeit schöner Engel

    Mit dem Kranz im Haar

    Und der Pistole im Gürtel


    Im Briefkasten liegt ein Zettel

    Verlaß das Haus

    Und ein anderer

    Jesus war bei dir


    Jesus wer soll das sein?

    Ein Galiläer

    Ein armer Mann

    Aufsässig

    Eine Großmacht

    Und eine Ohnmacht

    Immer

    Heute noch.


    aus:

    Kaschnitz, Marie-Luise: Gedichte. 1. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2016. S.121-122

  • Erster Eindruck:

    Ein tolles Gedicht von ML Kaschnitz, wie ich finde: Voller Widersprüche (wie das Leben selbst) und auch sehr aktuell!

    Mir fehlt nur leider die Zeit momentan, mich sehr intensiv mit Lyrik zu beschäftigen (also ins Detail zu gehen im Text), aber ich lese eure interessanten Beiträge hier immer gerne mit.

    Dieses Gedicht spricht mich von allen bereits hier vorgestellten vielleicht am meisten an... - auch wenn mein Gedächtnis derzeit noch ganz gut funktioniert ;) (man weiß ja nie..... )

    "Bücher sind meine Leuchttürme" (Dorothy E. Stevenson)

  • Dieses Gedicht spricht mich von allen bereits hier vorgestellten vielleicht am meisten an...

    ich würde diesen Satz mit "vielleicht am wenigsten an..." auslaufen lassen.


    Ein Gedicht über Jesus. Das ist thematisch wenig ambivalent. Für einen Christen zeigt es jedoch die Herausforderung des Glaubens auf.


    In der zweiten Strophe die Erinnerungen an das eigene Leben, eine Tanzaufführung und eine Wanderung an der Eigernordwand.


    In der dritten Strophe dreht sich das Bild der "schönen Erinnerung" ins Schreckliche. Tote werden mit Kalk bedeckt. Das lässt mich daran denken, das Gefangene in der NS-Zeit aufgrund von Kohlemangel nicht mehr verbrannt werden konnten, sondern einfach in der Erde verscharrt wurden. Kalk diente dann wohl der Überdeckung des Leichengeruchs. Und doch setzt Kaschnitz hier dann eine poetische Schlusszeile mit dem Mondlicht hinzu, was die Szenerie noch ungeheuerlicher macht. Vermutlich gibt es mehrere Gedichte mit "glänzte der See". Hier verdreht man dieses kitschige Bild und lässt die Toten glänzen.


    In der vierten Strophe stelle ich mir Frauen vor, die als Aufseherinnen in einem Lager mit Pistolen bewaffnet waren. Aber gab es das tatsächlich häufig? Ist mir nicht bekannt. Warum also dieses Bild, wo doch Männer tausendmal grausamer agierten? Ich lasse das mal für den Moment offen.


    In der fünften Strophe dann die Wendung hin zu Jesus. Etwas platt gemacht, finde ich. Mit einem Zettel im Briefkasten führt man ihn ein.


    In der abschließenden Strophe als allmächtiger Sohn Gottes "eine Großmacht" und doch ist er ohnmächtig gegen all die Schrecken des Krieges und der Menschheit. Eigentlich bereits vergessen ("wer soll das sein") und doch wieder ins Gedächtnis gerufen.


    Wer nun mit Jesus so gar nichts anzufangen weiß, den wird dieses Gedicht nicht sonderlich berühren, so denke ich. Als christlich denkender Mensch ist mir die Botschaft mit seiner darin verborgenen, doch in der religionswissenschaftlichen Literatur breit diskutierten, Theodizee-Frage ("warum lässt Gott all das Leid auf der Erde zu?") etwas zu einfach gestrickt.


    Tatsächlich wurde das Gedicht zu Ostern 2024 in dem von der evang. Kirche herausgegebenen Magazin "chrismon" zu Karfreitag abgedruckt (liegt auch der FAZ kostenfrei bei). Am Rande: Karfreitag ist bei den evang. Christen der höchste religiöse Feiertag im Kirchenjahr, während er bei den Katholiken auf den Ostersonntag fällt.


    Man kann das Gedicht durchaus mit einer politischen Note lesen, wenn nach Ende des Krieges ein Mantel des Schweigens über all die Verbrechen gehüllt wurde. Niemand wollte noch darüber reden, das schreibende Ich hier hat die Toten jedoch nicht vergessen.


    Der Anteil der konfessionsgebundenen Christen sinkt in D nun unter die 50-Prozent-Marke. Jesus gerät immer mehr in Vergessenheit. Daher ist das "Heute noch" fast prophetisch zu sehen, wenn auch sicherlich ohne Absicht.

    2 Mal editiert, zuletzt von thomas_b ()