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Es gibt 546 Antworten in diesem Thema, welches 33.432 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von b.a.t..

  • Das Gedicht stammt, wenn ich das richtig sehe, aus dem Jahr 1970.


    Ich vergesse so viel

    Das meiste

    Nur einiges nicht


    Ein alter Mensch erinnert sich (oder eben nicht)


    Die englische Tänzerin mit den roten Schuhen müsste sich eruieren lassen. Gerade so, aus dem Stand, kann ich mit dieser Zeile nichts anfangen, ausser natürlich, dass sie typisch ist für die seltsame Art und Weise, wie unser Langzeitgedächtnis funktioniert.


    Die mit Kalk übergossenen Toten - Massenhinrichtungen, wahrscheinlich im Zweiten Weltkrieg.


    Zeit schöner Engel

    Mit dem Kranz im Haar

    Und der Pistole im Gürtel


    Hm ... Ensslin oder Meinhof?


    Der R.A.F. gegenüber gestellt das Christentum, dessen Gründer ebenfalls aufsässig war. Ein Christentum, das nun aber - via die Kirchen - zur einer Grossmacht geworden ist. Während das Christentum als (innerer?) Glaube ohnmächtig ist. Beides sozusagen seit jeher (immer), will sagen: Der Zwiespalt ist dem Christentum inhärent. Bis heute. So verstehe ich heute noch, nicht als "heute noch aber bald nicht mehr". Die Entwicklung der offiziellen Kirchen hatte Kaschnitz meiner Meinung nach hier überhaupt nicht im Blick.


    Ein politisches Gedicht? Ja. Eines, das den Bogen spannt vom Zweiten Weltkrieg bis zur Gegenwart der Jugendunruhen und der R.A.F.

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen. (Karl Kraus)

  • Die roten Schuhe könnten sich auf den britischen Ballett-Film "Die roten Schuhe" aus dem Jahr 1948 beziehen, der zu den drei besten britischen Filmen überhaupt zählen soll. Er stellt das Leben von Vicky Page, gespielt von der echten Tänzerin Moira Shearer da.


    Danke für den Hinweis mit der RAF, das könnte passen. Aber weder Meinhof noch Ensslin hatten meines Wissen blonde Haare, mir ist auch kein Bild mit einem Blumenkranz im Haar im Gedächtnis. War der Blumenkranz nicht auf vielen Fotos der Hippie-Zeit zu finden? Dann wäre diese Zeit bestimmt und es passt dann zur Zeit der RAF, oder?


    Weniger einverstanden bin ich mit der Deutung der Großmacht für die Institution Kirche. Kaschnitz stand der evang. Kirche nahe, also nicht der katholischen mit ihrem Machtapparat im Vatikan. Meines Erachtens bezieht sich Großmacht auf das Apostolische Glaubensbekenntnis, welches wie folgt beginnt:

    Ich glaube an Gott
    den Vater, den Allmächtigen,
    den Schöpfer des Himmels und der Erde.


    Gott ist allmächtig, der Sohn nun vom Vater auf die Erde entsandt, sollte dieser doch mit aller Macht ausgestattet sein. Und doch ist Jesus ohnmächtig gegenüber seiner eigenen Hinrichtung.


    In allen vier Strophen wird somit jeweils der Tod thematisiert.


    In der Strophe mit den roten Schuhen kommt es im Film zu einem äußerst tragischen Tod der Protagonistin:

    "Sie zieht die roten Schuhe an, die sie scheinbar magisch wie von selbst bewegen und sie in Richtung Julian ziehen – schließlich stürzt sie sich von einem Balkon vor einen Zug, was Julian am Bahnhof beobachten muss. Er eilt herbei und sie stirbt in seinen Armen. Mit ihren letzten Worten bitte sie Julian, ihr die roten Schuhe auszuziehen. Bei der Aufführung von The Red Shoes, die trotz ihres Todes stattfindet und von einem erschüttert wirkenden Lermontov angekündigt wird, deutet ein Scheinwerfer auf den leeren Platz, den sie besetzen sollte." (Wikipedia)


    Massenhinrichtungen während des zweiten Weltkrieges in der nächsten Strophe, gefolgt von der todbringenden RAF. Schließlich endet sie mit Jesus und dem Christentum, in dessen Zentrum ebenfalls der Tod als Erlösung als zentrales Glaubenselement steht.

    2 Mal editiert, zuletzt von thomas_b ()

  • Hm ... Blonde Haare finde ich nicht im Text. Die Kirche übrigens auch nicht. Ich habe auch nirgends "Kirche" geschrieben ...


    Der Film mit den roten Schuhen ist eine Möglichkeit, ja.


    In allen vier Strophen wird somit jeweils der Tod thematisiert.

    Einverstanden.

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen. (Karl Kraus)

  • Du hast "via die Kirchen" geschrieben. Damit hast du was gemeint?


    Ok, "blond" war nur in meinem Kopf vorhanden. Im Text steht das gar nicht. Einverstanden.

    Einmal editiert, zuletzt von thomas_b ()

  • Du hast "via die Kirchen" geschrieben. Damit hast du was gemeint?

    Upsi. Stimmt, sorry. Aber nach weiterem Nachdenken über den Text nehme ich das zurück. Ich finde keine Kirchen in diesem Gedicht, und schon gar nicht als Instutionen.

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen. (Karl Kraus)

  • Trotz einer gewissen Religiosität der Dichterin sehe ich das gar nicht so religiös. Liegt sicher auch daran, dass ich sehr antireligiös bin.

    Die Retrospektive eines Lebens.

    Was sie sich gemerkt hat sind bunte Flecken ihres Lebens, die stechen heraus. Rote Schuhe, brennender Ahorn - bei dem frage ich mich schon, ob es eine besondere Herbstfärbung der Blätter ist. Vor der Eiger Nordwand wird es für mich auch etwas schwierig mit der Baumgrenze, aber vielleicht gab es da einen Baum, der quasi der Theorie dass er so hoch oben nicht mehr wächst widerspricht. Wie ein besonders widerstandsfähiges Gewächs.


    Die Toten waren für mich auch die Menschenopfer der Nazis, die aufgrund der hygienischen Umstände nur in Massengräber beerdigt werden konnten nach der Befreiung der KZx. Wenn das jemand gesehen hat, kann es nicht vergessen werden, so grauenhafte Bilder prägen sich ganz tief ein.


    RAF passt für mich auch sehr in die Zeit. Sie hat ja in Rom gelebt und auch dort gab es etliche Terroranschläge.


    Jesus wer soll das sein? Das frage ich mich auch. Für mich auf jeden Fall kein Erlöser und keiner der Schuld für andere auf sich genommen hat. Das wäre ja ein Freifahrtschein für Gewalttaten. Vielleicht denken manche aber so?

  • b.a.t. : Das mit dem Ahorn sehe ich auch so - Ahorne haben eine sehr leuchtende Herbstfärbung. Einfach ein eindrückliches Bild.

    Ich hab mir vorgestellt, dass er am Fuß des Eigers steht - die Wand fängt dann erst oberhalb an. Perspektive.



    "Verlass das Haus" ?

    (Steht das auf dem ersten Zettel? Was soll das bedeuten??)


    "ein anderer..." Jesus oder Zettel ?!

    (Nach der Anordnung in Zeilen eher ein anderer Zettel, oder? Wurfsendung einer religiösen Gemeinschaft??)


    *seufz*

  • Vielleicht auch die Hausbesetzerszene, marxistische Ideen waren ja auch modern damals.


    Und im Gegensatz dann die Konservativen, die mit Jesus überzeugen wollen, ein Kontrast der Zeit vielleicht

  • Mir gefällt dieses Gedicht sehr gut, weil es einprägsame Bilder und verschiedene Interpretationsmöglichkeiten vereint.


    Die religiöse Komponente finde ich hier eigentlich ganz gut, weil sie in gewisser Weise widerspenstig daherkommt: Jesus ist hier eben nicht der verehrte Messias, sondern ein eigenwilliger Mensch, der Armut befürwortet und sich gegen die Autoritäten wendet, und der sich trotz seiner eigenen Macht letzlich der Macht seines Vaters ergeben muss. Das ist keine Figur, zu der man unbedingt aufsehen muss, sondern eher jemand auf Augenhöhe der Menschen.


    Ich weiß, dass Judy Garland Amerikanerin war, aber bei den roten Schuhen fiel mir zuerst die Verfilmung des "Zauberers von Oz" von 1939 ein, in der das Motiv des Nachhauskommens eine so zentrale Bedeutung hat und die Protagonistin diese wunderschönen roten Schuhe trägt, die zudem eine magische Funktion besitzen. Das Thema des Zuhauses scheint hier nämlich auch eine Rolle zu spielen, mit der konkreten Forderung "Verlaß das Haus", die zu einem Gefühl des Unbehagens führt, weil damit vermeintliche Sicherheiten erschüttert werden.


    Die Kombination aus "Eigernordwand" und "die Toten mit Kalk übergossen" scheint durchaus auf die NS-Zeit zu verweisen, vielleicht als Spagat zwischen Größenwahn und Massenmord, immerhin wurden die Versuche, die Eigernordwand in den 1930er Jahren zu durchsteigen, ob ihrer politischen Bedeutung für die Nationalsozialisten durchaus kritisiert.


    Für mich schwingt in diesem Gedicht sehr stark die Suche nach einer Orientierung, und damit im übertragenen Sinne einer inneren Heimat mit, die letztendlich erfolglos bleibt. Ob das Vergessen in diesem Kontext eher eine Variante der Verdrängung ist, die aber nicht vollständig werden und damit letztendlich keine Abhilfe schaffen kann, darstellt, muss wohl eine Hypothese bleiben.

  • Vielleicht auch die Hausbesetzerszene, marxistische Ideen waren ja auch modern damals.

    o ja, die gab es auch Ende der 70er schon zuhauf (Erinnerung: UZ-Pressefest, Düsseldorf (DKP)

    Motto: "Hummel hummel, murs murs -

    verändern wir den Kurs!" :saint:

    "Bücher sind meine Leuchttürme" (Dorothy E. Stevenson)

  • Freitag Freitag


    Damit ich nicht vergesse, wer will wer mag, wer hat noch nicht ein Gedicht f+r die nächste Woche. zu präsentieren?


    Bitte gebt mir relativ zeitnah Bescheid.

  • Ich würde gerne ein Gedicht für die nächste Woche reinstellen, ich bin mir aber noch nicht ganz schüssig, welches. ;)

  • freut mich Juva, da der Andrang ja nicht so groß ist - the stage is yours :)


    Du hast ja noch zwei Nächte zum Drüberschlafen. Ich bin schon gespannt was es wird :)

  • Da wir hier im Thread noch kein Gedicht von Erich Kästner hatten, möchte ich gerne die Gelegenheit nutzen, eines seiner bekanntesten Gedichte hier einzustellen. Es erschien 1927 erstmals in einer Zeitschrift und 1928 in Kästners Gedichtband "Herz auf Taille".


    Kennst Du das Land, wo die Kanonen blühn?


    Kennst Du das Land, wo die Kanonen blühn?

    Du kennst es nicht? Du wirst es kennenlernen!

    Dort stehn die Prokuristen stolz und kühn

    in den Bureaus, als wären es Kasernen.


    Dort wachsen unterm Schlips Gefreitenknöpfe.

    Und unsichtbare Helme trägt man dort.

    Gesichter hat man dort, doch keine Köpfe.

    Und wer zu Bett geht, pflanzt sich auch schon fort!


    Wenn dort ein Vorgesetzter etwas will

    - und es ist sein Beruf, etwas zu wollen -

    steht der Verstand erst stramm und zweitens still.

    Die Augen rechts! Und mit dem Rückgrat rollen!


    Die Kinder kommen dort mit kleinen Sporen

    und mit gezognem Scheitel auf die Welt.

    Dort wird man nicht als Zivilist geboren.

    Dort wird befördert, wer die Schnauze hält.


    Kennst Du das Land? Es könnte glücklich sein.

    Es könnte glücklich sein und glücklich machen!

    Dort gibt es Äcker, Kohle, Stahl und Stein

    und Fleiß und Kraft und andre schöne Sachen.


    Selbst Geist und Güte gibt´s dort dann und wann!

    Und wahres Heldentum. Doch nicht bei vielen.

    Dort steckt ein Kind in jedem zweiten Mann.

    Das will mit Bleisoldaten spielen.


    Dort reift die Freiheit nicht. Dort bleibt sie grün.

    Was man auch baut - es werden stets Kasernen.

    Kennst Du das Land, wo die Kanonen blühn?

    Du kennst es nicht? Du wirst es kennenlernen.


    (Erich Kästner - Herz auf Taille. Atrium Verlag Zürich, 1985. S. 52 f.)

  • Schon erschreckend, welch' aktuellen politischen Bezug Kästner's Gedicht von vor fast 100 Jahren (!!!!) hat....


    Dort steckt ein Kind in jedem zweiten Mann.

    Das will mit Bleisoldaten spielen.


    Diese zwei Zeilen erinnern mich iwie an meinen Vater. Er (Jg. 1912) hatte als Kind gerne mit Bleisoldaten gespielt - und sie, wenn sie gestorben sind, begraben (ganz real, das schien ihm logisch).

    Die Quintessenz davon war, dass dann regelmäßig mit ihm geschimpft wurde - und er sie vermutlich exhumieren musste... (wenn man überlegt, dass er 6 Jahre alt war, als der WWI endete, muss er auch Gespräche meiner Großeltern mitbekommen haben und evtl. Versehrte gesehen haben... Meine Großeltern waren gutbürgerliche Mittelschicht und vermutlich kaisertreu - was mein Vater zeitlebens eigentlich übernommen hat bzw. sich für die europäischen Adelshäuser sehr interessierte, viel Wissen hatte. Er ist wohl im Grunde seines Herzens immer Monarchist geblieben....


    Ich las heute einen Artikel von einem Militärexperten; die Aussage war, (u.a.), dass ca. 2029 mit einem größeren Krieg in Europa durchaus gerechnet werden könne... (es ging um Putin und die aktuelle Politik Trumps, die momentane Unfähigkeit Europas, sich selbst zu verteidigen, auch ohne den früheren starken Nato-Partner USA) - die Kriegsmaschinerie ist jedenfalls schon angelaufen, was wir ja alle wissen - und es mir schwer macht, 'glücklich' zu sein: All' die Abrüstung und Friedenszeiten haben nix gebracht: Nur den Fakt, dass sich Geschichte wohl immer zu wiederholen scheint. Wobei wir stets versäumen, aus der Vergangenheit zu lernen.

    "Bücher sind meine Leuchttürme" (Dorothy E. Stevenson)

  • Das ist eins der Gedichte von Kästner, bei denen ich immer wieder erstaunt bin, wie früh sie bereits geschrieben wurden und wie hellsichtig er da vorwegnimmt, was im Dritten Reich geschehen ist. Nicht nur die Kriegstreiberei als solche, sondern auch die unter Hitler ja äußerst erwünschte Fortpflanzung und die akkuraten Scheitel, sprich adrettes "deutsches" Erscheinungsbild.


    Und ich mag auch, dass es quasi eine Parodie auf das Gedicht von Goethe ist, wenn auch eine, bei der einem das Lachen ziemlich schnell im Halse stecken bleibt.

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • Ich finde die Mischung aus beidem so bestürzend:


    einerseits die Voraussicht Kästners, der sehr präzise beschreibt, was kommen wird,

    und andererseits die aktuellen Bezüge, denn leider sind manchen im Gedicht beschriebenen Aspekt ja sehr zeitlos, dies betrifft besonders die dritte Strophe.

  • Mich erinnert das Gedicht auch ein bisschen an Pete Seegers - Where have all the flowers gone.


    Allerdings ist dieses Gedicht von Kästner viel deutlicher. Die sogenannten deutschen Tugenden, wie Amtsversessenheit und Überkorrektheit und militärisches Gehabe, das vom einen Deutschen Reich das knapp mal 50 Jahre dauerte ins nächste übergeht, dass angeblich 1000 Jahre halten sollte, aber zum Glück nicht länger als 12 Jahre dauerte. Macht zumindest Hoffnung, falls es wieder zu einem Wahnsinn kommen sollte das noch kürzer sein wird.


    Das Gedicht beschreibt die Ist Zeit und deutet auf vieles hin was kommen wird. Die Menschen waren nicht so ahnungslos, wie sie nach dem Terrorregime meinten. Vieles war den Leuten schon bewusst, sonst würde Kästner nicht so klar formulieren.


    Die hirnlosen Marionetten (Gesichter ohne Köpfe) rollen die Augen nach rechts, andere Blickwinkel gab es dann später nicht mehr. Wer gewagt hat in eine andere Richtung zu lugen wurde schwersten bestraft.


    Vorgesetzten, Politikern, höhergestellten Personen ist bedingungslos zu folgen. Das Land hätte viel Potenzial zum Glück aber die Vorgesetzten hatten andere Pläne. Anstelle von allgemeinem Wohlstand bevorzugt man größenwahnsinnige Ideen, baut Kasernen und bereitet die wahnwitzige Übermenschlichkeit vor. Alles was geistig geschafft wurde, wird durch nur ein paar Jahre zugrunde gerichtet.


    Für mich ist das Gedicht ein Sittenbild der Zeit, die Weimarer Republik ist dem Untergang geweiht, und was kommen soll ist ja seit 1923 bereits publik.

    h

    Das Land kennst du nicht? Du wirst es leider in viel zu naher Zukunft kennenlernen. Viele Menschen haben es nur allzu grausam kennengelernt.


    Die Aktualität ist eigentlich immer gegeben, es gibt immer Länder, in denen Größenwahn und Terror regieren.

    Kästner als Person ist ja eher polarisierend, vielleicht auch zu konform, bequem, und chauvinistisch, aber in diesem Text hat er aufgezeigt, aufgerüttelt. Damals hat es nicht viel geholfen, auch heute lesen das sicher zu wenige und dann vor allem die falschen Menschen.


    Danke für dieses Gedicht Juva es wirkt sicherlich weiter ist fast zeitlos.