Mehr Platz der Lyrik

Es gibt 476 Antworten in diesem Thema, welches 28.617 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von sandhofer.

  • und da wieder Freitag ist, bitte um Freiwillige Gedichte-Lieferant:innen


    Wenn niemand sonst möchte dann würde ich wieder, aber lasse anderen sehr sehr gerne den Vortritt!


    Zum letzten Gedicht sag ich noch was später

  • So, nun endlich ein paar meiner Gedanken.



    Ein starker Einstieg, wie ich finde - mein erster Gedanke war das Absterben von etwas im Gehirn. Sei es nun aus psychischen oder physischen Gründen.

    Aber etwas scheint durch die dunklen Ecken im Gehirn duchzudringen. Zuerst dachte ich, das wäre positiv. Aber dann: "till I thought my mind was going numb", also wahrscheinlich doch ohne Erfolg. Also ist "Sense [..] breaking through" wahrscheinlich nicht als aufkommender Sinn gemeint sondern als Sinn, der wegfällt.


    Der Rest des Gedichts ist für mich eine Kurzgeschichte, ein Einblick in das Schicksal des Lyrischen Ichs, bei dem ich mir nicht sicherbin ob die "Mourners" es nun versuchen zu retten oder es in den Tod treiben (oder, da das Gehirn betroffen ist, Wahnsinn?).


    Die Gedankenwelt des Lyirschen Ichs fühlt sich wie ein Begräbnis, eine Trauerfeier an, der Himmel ist eine Glocke und das Sein das Ohr, so lese ich das zumindest. Das Ich läuft mit der Stille um die Wette (verständlich, bei dem Glockengebimmel und der Trommel-gleichen Trauergesellschaft), bis schließlich die "Planke" des Verstands bricht und das Ich schließlich entweder stirbt oder ganz dem Wahnsinn verfällt.


    Tod und Wahnsinn könnten vielleicht auch einfach als Depression oder sowas gelesen werden?


    Jedenfalls finde ich das gesamte Gedicht ziemlich stark, und die Beschreibung des Zustands, dass es sich so anfühlt als fände im eigenen Gehirn ein Trauerzug statt, mit anhaltenden ermüdenden Trommeln und Glocken, Gestampfe...das ist schon sehr ein- und bisschen aufdringlich, und ich mag den Text sehr.

  • Okay, habe mich entschieden.

    Es war ein langes Hin und Her zwischen Ocean Vuong und Richard Siken, und dann zwischen mehreren Werken vom Siken - ich habe mich schlussendlich gegen ein paar von Letzterem entschieden da die evtl nicht in diesen Rahmen passen, aber der folgende Text ist einer meiner Favoriten von ihm.


    Wieder ein Englisches, tut mir Leid.

    Ich empfehle, zum Lesen die Screenshots unten zu nutzen, und zum Zitieren den Formatierungslosen Text.


    "Boot Theory" (Aus der Sammlung "Crush", 2005)

    Richard Siken


    A man walks into a bar and says:

    Take my wife–please.

    So you do.

    You take her out into the rain and you fall in love with her

    and she leaves you and you’re desolate.

    You’re on your back in your undershirt, a broken man

    on an ugly bedspread, staring at the water stains on the ceiling.

    And you can hear the man in the apartment above you

    taking off his shoes.

    You hear the first boot hit the floor and you’re looking up,

    you’re waiting

    because you thought it would follow, you thought there would be

    some logic, perhaps, something to pull it all together

    but here we are in the weeds again,

    here we are

    in the bowels of the thing: your world doesn’t make sense.

    And then the second boot falls.

    And then a third, a fourth, a fifth.



    A man walks into a bar and says:

    Take my wife–please.

    But you take him instead.

    You take him home, and you make him a cheese sandwich,

    and you try to get his shoes off, but he kicks you

    and he keeps kicking you.

    You swallow a bottle of sleeping pills but they don’t work.

    Boots continue to fall to the floor

    in the apartment above you.

    You go to work the next day pretending nothing happened.

    Your co-workers ask

    if everything’s okay and you tell them

    you’re just tired.

    And you’re trying to smile. And they’re trying to smile.


    A man walks into a bar, you this time, and says:

    Make it a double.

    A man walks into a bar, you this time, and says:

    Walk a mile in my shoes.

    A man walks into a convenience store, still you, saying:

    I only wanted something simple, something generic…

    But the clerk tells you to buy something or get out.

    A man takes his sadness down to the river and throws it in the river

    but then he’s still left

    with the river. A man takes his sadness and throws it away

    but then he’s still left with his hands.



    ____

    Falls es die Formatierung verhaut und ich es nicht hinbekomme zu korrigieren, vgl. die Bilder. Ich empfehle das Lesen mit der originalen Formatierung!



  • Ich glaube, ich muss mir noch mehr Gedanken zu dem Gedicht machen.

    Beim ersten Drüberlesen habe ich keinen Zugang gefunden.


    Es beginnt irgendwie wie ein klassischer Witz.

    Ein Mann geht in die Bar und, ...


    Melde mich später nochmals, wenn es bei mir im Kopf klick gemacht hat )

  • Mich beschäftigt das Gedicht schon seit gestern und ich denke irgendwie ständig daran. Habe Szenen im Kopf und stell mir vor, wie die Person dahinter Abends an der Bar sitzt und den Tag bereut. Vielleicht etwas nicht getan zu haben, jemandem seine Liebe nicht gestanden zu haben oder sich generell den eigenen Gefühlen, Problemen oder andren Dingen gestellt zu haben.

    Ich finde das Gedicht so bildlich. Wie ein Film. Ich glaube deshalb denke ich auch ständig daran. Mir würde sofort eine ganze Geschichte dazu einfallen.

  • Jede Strophe fängt an wie eine US-amerikanische Standardszene. Und dann kippt sie sehr rasch ins Surreale. Und je länger das Gedicht wird, umso surrealer wird die erzählte Geschichte.

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen. (Karl Kraus)

  • ich lese mir das Gedicht jeden Tag durch, aber irgendwie spricht es noch immer nicht zu mir. Ich denke aber weiter nach.


    AABER wer möchte nächste Woche ein Gedicht Posten

  • Ich denke immernoch jeden Tag daran. Verlorene Möglichkeiten, mit sich selbst alleine bleiben wenn man es kaum ertragen kann. Jeden Tag hab ich so viele Gedanken und Gefühle dazu, das ich sie eigentlich nur schwer formulieren kann. Deshalb ist jetzt auch mehr von Siken bei mir eingezogen. Ich habe den Verdacht, das ich das in meinem Leben brauche.

  • Dass nicht alle einen Zugang zu diesem Text finden hatte ich erwartet, denn ein klassisches Gedicht ist es nicht und Siken hat schon eine spezielle Art, seine Gedanken zu Papier zu bringen (wobei nicht alle so sind wie dieses. Aber viele.)


    Was ich an allen von ihm, und auch an diesem, liebe, ist dass eine Geschichte erzählt wird und sich alles vor meinem geistigen Auge abspielt. Und oft handeln die Texte von Männern abseits typischer Männlichkeit, gegen Männlichkeit, toxische Männlichkeit, Gewalt zwischen Männern oder gegenüber Frauen und ganz oft geschieht das Erzählte in der Weite der Highways, am Rande der Straße und/oder irgendwelchen Flüsse und in Bars/Kneipen/Salons.

    So auch hier.


    Den Titel "Boot Theory" finde ich hier ganz brilliant. Einerseits gibt es eben diesen Begriff im Kontext der Klassenunterschiede: eine Person die mehrere billige Stiefel kauft (kaufen muss) vs eine Person die ein teures Paar langlebige Stiefel kauft (kaufen kann):

    Mehrmals für durchschnittliche/schlechte Erfahrungen in die Bar gehen oder einmal für mehr in die Bar gehen...und etwas Besseres erleben? etwas simples im Supermarkt kaufen wollen aber dazu kommt es nicht.

    Viel passender andererseits die Neu-Verwendung (?) dieses Begriffs, nämlich die Theorie zur Redewendung "warten bis der zweite Stiefel/Schritt fällt" oder so ähnlich. Wenn Spannung in der Luft ist und der erste Schritt getan ist, man nun auf den zweiten wartet. Wörtlich aber auch im übertragenen Sinne.

    Und das Stiefelmotiv wiederholt sich: einmal tritt der Stiefel den Boden, dann das lyrische Du, schlussendlich bittet dieses darum, sich doch einmal in seine Situation hineinzuversetzen (einmal in seine Stiefel zu schlüpfen).


    Am Schluss nützt es alles nichts, egal wie viele Schritte getan werden oder wieviel Stiefel fallen, der Mann in diesem Text kann der Traurigkeit (und ich finde es klingt auch immer etwas Wut mit) nicht zu 100% entfliehen, nur sich distanzieren und die Existenz akzeptieren.


    Das Gefühl hier habe ich auch zuweilen, beim Lesen:

    Wenn der Alltag zum Alptraum wird ...


    Aber obwohl ich jetzt diese Gedanken getippt habe finde ich eine Sache an Sikens Texten am allerbesten: ich habe immer das Gefühl, dass in ihnen ganz viel Platz für Interpretationen ist und viele Dinge versteckt sind - die dann aber irgendwie zweitrangig werden (zumindest für mich), weil das Erzählte irgendwie so filmisch dargestellt wird und eben eine kleine Geschichte erzählt wird. ♡

    Meine Lieblingszeilen aus dem Gedicht ist:


    A man takes his sadness down to the river and throws it in the river

    but then he’s still left

    with the river. A man takes his sadness and throws it away

    but then he’s still left with his hands.

  • Jede Strophe fängt an wie eine US-amerikanische Standardszene. Und dann kippt sie sehr rasch ins Surreale. Und je länger das Gedicht wird, umso surrealer wird die erzählte Geschichte.

    Sehr typisch für Siken, finde ich. Viele seiner Gedichte fangen diese Atmosphähre sehr gut ein. Mal mehr mal weniger surreal.



    Ich denke immernoch jeden Tag daran. Verlorene Möglichkeiten, mit sich selbst alleine bleiben wenn man es kaum ertragen kann. Jeden Tag hab ich so viele Gedanken und Gefühle dazu, das ich sie eigentlich nur schwer formulieren kann. Deshalb ist jetzt auch mehr von Siken bei mir eingezogen. Ich habe den Verdacht, das ich das in meinem Leben brauche.

    Das freut mich!

    Verlier dich nicht zu sehr in den Texten, sie können einem auch manchmal nicht ganz so gut tun finde ich.


    Wenn du Austauschbedarf hast, steh' ich gerne zur Verfügung, auch in einem Thread oder so 😊

  • Mir gefällt an diesem Gedicht besonders das Balancieren auf der dünnen Linie zwischen Realität und einer bedrohlichen, surrealen Atmosphäre. Man gewinnt den Eindruck, dass der Firnis des Alltags auf dem Geschehen nur sehr dünn ist und darunter bald etwas Düsteres, schwer Fassbares zum Vorschein kommt. Dieses Gefühl stellt sich spätestens am Ende der ersten Strophe ein, wenn der dritte Stiefel zu Boden fällt.

    Gleichzeitig ist die Welt in dem Gedicht - egal auf welcher Ebene - eine trostlose Welt, das Verlassen-Sein/Verlassen-Werden und auch die Gewalt scheinen dominant zu sein. Die Menschen scheinen nicht in der Lage zu sein, sich zu verstehen , vielleicht nicht einmal eine gemeinsame Sprache zu finden.


    Ein düsteres, eindringliches Gedicht, das zur Auseinandersetzung einlädt.

  • Da sich niemand gemeldet hat

    wieder mal eines von mir.

    Da ich wie einige wissen einen Faible für Argentinien habe, eine der wichtigsten Dichterinnen des Landes. Sie hatte ein faszinierendes, aber auch tragisches Leben.


    Alfonsia Storni - Ocker


    An einen Marsbewohner

    Gibt es dich wirklich auf dem roten Planeten?

    Hast du wie ich feine Hände zum Greifen,

    einen Mund zum Lachen, ein Herz zu Dichten,

    und eine Seele versorgt durch zarte Nerven?


    Recken sich denn auch in deine Welt die Städte

    wie triste Grabmäler? Verwüstet durch das Schwert?

    Auch bei euch alles schon gesagt? Dein Planet ist also

    nur ein weiteres leeres Glas in der Großen Harmonie?


    Wenn du wie Erdbewohner bist, was kümmert's mich.

    dass ein Signal hier bei mir ankommen könnte?

    Neue Wesen suche ich da oben in der Höhe.


    Anmutige Körper, Herren über das göttliche Geheimnis

    vom geglückten Leben. Bist du dies aber nicht und alles

    wiederholt sich nur, halt besser den Mund, trübes Geschöpf!


    Originalversion

    Ocre

    Palabras a un habitante de Marte


    ¿Será verdad que existes sobre el rojo planeta,

    Que, como yo, posees finas manos prehensiles,

    Boca para la risa, corazón de poeta,

    Y un alma administrada por los nervios sutiles?


    Pero en tu mundo, acaso, ¿se yerguen las ciudades

    Como sepulcros tristes? ¿Las asoló la espada?

    ¿Ya todo ha sido dicho? ¿Con tu planeta añades

    A la Vasta Armonía otra copa vaciada?


    Si eres como un terrestre, ¿qué podría importarme

    Que tu señal de vida bajara a visitarme?

    Busco una estirpe nueva a través de la altura.


    Cuerpos hermosos, dueños del secreto celeste

    De la dicha lograda. Mas si el tuyo no es éste,

    Si todo se repite, ¡calla, triste criatura!


    aus:

    Storni, Alfonsia; Ultrafantasía . 1,.Aufl., Zürich: Edition Maulhelden, 2022, S. 90-91.

    Herausgegeben und übersetzt von Hildegard E. Keller

    Einmal editiert, zuletzt von b.a.t. ()

  • Eine Schweizerin! :schweiz:


    Formal ein klassisches Sonett, inhaltlich eine traurige Geschichte der Gegenwart. Selbst die Utopien sind nicht besser als das irdische Leben.

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen. (Karl Kraus)