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Es gibt 100 Antworten in diesem Thema, welches 6.580 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von Saltanah.

  • Damit wir hier auch Dichterinnen vertreten haben und weil ich Else Lasker Schüler allgemein mag, hier mein Lieblingsgedicht von ihr. Es gibt auch eine wunderschöne Vertonung, gesungen von Sonja Kraushofer. Vor einigen Jahren gab es ein Musikprojekt mit Vertonungen der Dichterin. (Unter andrem Katja Riemann, Mietzekatz und andre mehr oder weniger bekannte Sängerinnen/Schauspielerinnen)


    Hier das Gedicht, von 1905:


    Weltende


    Es ist ein Weinen in der Welt,

    Als ob der liebe Gott gestorben wär,

    Und der bleierne Schatten, der niederfällt,

    Lastet grabesschwer.


    Komm, wir wollen uns näher verbergen ...

    Das Leben liegt in aller Herzen

    Wie in Särgen.


    Du, wir wollen uns tief küssen -

    Es pocht eine Sehnsucht an die Welt,

    An der wir sterben müssen.

  • Eines meiner Lieblingswintergedichte:


    Die drei Spatzen


    In einem leeren Haselstrauch
    da sitzen drei Spatzen, Bauch an Bauch.

    Der Erich rechts und links der Franz
    und mitten drin der freche Hans.

    Sie haben die Augen zu, ganz zu,
    und obendrüber, da schneit es, hu!

    Sie rücken zusammen dicht an dicht.
    So warm wie der Hans hat's niemand nicht.

    Sie hör'n alle drei ihrer Herzlein Gepoch.
    Und wenn sie nicht weg sind, so sitzen sie noch.


    Christian Morgenstern

    Man kann im Leben auf vieles verzichten, aber nicht auf Katzen und Literatur!

    (gesehen auf einem Plakat)

  • Morgenstern mag ich sehr; vielen Dank, Buecherkatze! (Ich bin sicher, dass Erich, Franz und Hans heute früh wieder hier einfliegen, um zu frühstücken ^^ )

    "Bücher sind meine Leuchttürme" (Dorothy E. Stevenson)

  • :) Denke ich auch! Vor allem bei diesen Temperaturen! (-9,7 Grad!)


    Da passt auch folgendes Morgenstern-Gedicht, das ich ebenfalls sehr liebe.


    Wenn es Winter wird


    Der See hat eine Haut bekommen,
    so dass man fast drauf gehen kann,
    und kommt ein großer Fisch geschwommen,
    so stößt er mit der Nase an.
    Und nimmst du einen Kieselstein
    und wirfst ihn drauf, so macht es klirr
    und titscher - titscher - titscher - dirr . . .
    Heißa, du lustiger Kieselstein!
    Er zwitschert wie ein Vögelein
    und tut als wie ein Schwälblein fliegen -
    doch endlich bleibt mein Kieselstein
    ganz weit, ganz weit auf dem See draußen liegen.
    Da kommen die Fische haufenweis
    und schaun durch das klare Fenster von Eis
    und denken, der Stein wär etwas zum Essen;
    doch sosehr sie die Nase ans Eis auch pressen,
    das Eis ist zu dick, das Eis ist zu alt,
    sie machen sich nur die Nasen kalt.

    Aber bald, aber bald
    werden wir selbst auf eignen Sohlen
    hinausgehn können und den Stein wieder holen.



    Man kann im Leben auf vieles verzichten, aber nicht auf Katzen und Literatur!

    (gesehen auf einem Plakat)

  • WINTERNACHT AM FENSTER


    Draußen

    träumt der Schnee

    auf Altstadtdächern,

    Stille. Weich.


    In mir zerrt der Sturm

    an jungen Mauern.

    Aufruhr. Hart.


    Der Schnee wird schmelzen.

    Der Sturm in mir

    darf sich nie legen.


    (AutorIn leider unbekannt)

    "Bücher sind meine Leuchttürme" (Dorothy E. Stevenson)

  • Das Gedicht ist von

    Kristiane Allert-Wybranietz. :)

    Man kann im Leben auf vieles verzichten, aber nicht auf Katzen und Literatur!

    (gesehen auf einem Plakat)

  • danke, liebe Buecherkatze ! Von ihr stehen sehr viele in meiner Kladde, aber ich hatte nicht auf jeder Seite den Autor/die Autorin ausgewiesen :saint:

    "Bücher sind meine Leuchttürme" (Dorothy E. Stevenson)

  • Das einzig wahre Adventsgedicht:


    Externer Inhalt www.youtube.com
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  • Ich habe jetzt mit der Suchfunktion nachgesehen, ob hier schon ein Text von Ocean Vuong gepostet wurde, aber dem scheint nicht so zu sein.


    Ich mag ja generell Gedichte in Reimform sehr gerne, aber ich liebe auch die poetischen Texte von Richard Siken und Ocean Vuong sehr. Ich kann deren Bücher "Crush" und "On Earth We're Briefly Gorgeous" sehr empfehlen!

    In Letzterem erzählt Ocean Vuong ein wenig seine (Flucht-/Kindheits-)Geschichte und die Erfahrungen (mit) seiner Mutter, die Sprache ist sehr poetisch und das Erzählte teilweise recht düster und traurig, aber beeindruckend und inspirierend.


    Hier ein Text von Ocean Vuong. Der Kontext ist nicht unwichtig: Vuong ist der Sohn einer vietnamesischen Mutter und eines amerikanischen Soldaten. Er und seine Familie sind aus Vietnam geflohen - er war der erste in seiner Familie, der mit 11 J. eine Bildung (bzgl. Lesen & Schreiben) erhielt. Seine Texte handeln oft von der Geschichte seiner Familie, Generationstraumata, Fluchterfahrungen und seiner Mutter (und vielem anderen).


    Eines meiner Lieblingsgedichte von ihm ist das hier:


    Headfirst


    Don't you know? A mother's love
    neglects pride
    the way fire

    neglects the cries

    of what it burns. My son,
    even tomorrow

    you will have today. Don't you know?

    There are men who touch breasts

    as they would the tops of skulls.

    Men

    who carry dreams over mountains, the dead

    on their backs.

    But only a mother can

    walk with the weight

    of a second beating heart.


    Stupid boy.


    You can get lost in every book

    but you'll never forget yourself

    the way god forgets

    his hands.


    When they ask you

    where you're from,

    tell them your name

    was fleshed from the toothless

    mouth of a war-woman.

    That you were not born

    but crawled,

    headfirst––

    into the hunger of dogs.


    My son, tell them

    the body is a blade that sharpens

    by cutting.




    Insbesondere im Kontext der restlichen Texte hat der mich irgendwie beeindruckt.


    Ein anderer schöner Text ist (der ist düster, also Obacht)


    Prayer for the Newly Damned


    Dearest Father, forgive me for I have seen.

    Behind the wooden fence, a field lit

    with summer, a man pressing a shank

    to another man’s throat. Steel turning to light

    on sweat-slick neck. Forgive me

    for not calling Your name. For thinking:

    this must be how every prayer

    begins—the word Please cleaving

    the wind into fragments, into what

    a boy hears in his need to know

    how pain blesses the body back

    to its sinner. The hour suddenly

    stilled. The man genuflected, his lips

    pressed to black boot as the words spilled

    from his mouth like rosaries

    shattering from too much

    Father.

    Am I wrong to love

    those eyes, to see something so clear

    and blue—beg to remain

    clear and blue? Did my cheek twitch

    when that darkness bloomed from his crotch

    and trickled into ochre dirt?

    Father,

    how quickly the blade becomes

    You.

    But let me begin again: There’s a boy

    kneeling in a house with every door kicked open

    to summer. There’s a question corroding

    his tongue. There’s a knife touching

    Your name lodged inside the throat.

    Dearest Father, what becomes of the boy

    no longer a boy? Please—


    what becomes of the shepherd


    when the sheep are cannibals?

  • Ich hatte ja noch etwas Schönes gefunden; hier ist es:


    Sehnsucht nach dem Anderswo


    Drinnen duften die Äpfel

    im Spind,

    Prasselt der Kessel im Feuer.

    Doch draußen pfeift

    Vagabundenwind

    Und singt das Abenteuer!


    Der Sehnsucht nach dem

    Anderswo

    Kannst du wohl nie entrinnen:

    Nach drinnen, wenn du

    draußen bist,

    Nach draußen, bist du drinnen.


    (Mascha Kaléko)

    "Bücher sind meine Leuchttürme" (Dorothy E. Stevenson)

  • Ui, welch schöner Thread! Da möchte ich gleich mein absolutes Lieblingsgedicht beitragen:


    Mondnacht


    Es war, als hätt’ der Himmel

    Die Erde still geküßt,

    Daß sie im Blütenschimmer

    Von ihm nun träumen müßt’.


    Die Luft ging durch die Felder,

    Die Ähren wogten sacht,

    Es rauschten leis’ die Wälder,

    So sternklar war die Nacht.


    Und meine Seele spannte

    Weit ihre Flügel aus,

    Flog durch die stillen Lande,

    Als flöge sie nach Haus.


    (Joseph von Eichendorff)



    U.a. Schumann hat es vertont und hier singt es Barbra Streisand:


    Barbra Streisand - Mondnacht
    Barbra Streisandda 'Classical Barbra'1976Robert Schumann (1810-1856)MondnachtClaus Ogerman, piano
    www.youtube.com

    LG von Esther

    signatur4sclm.gif

    ***Mein SUB***


    "Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns." (Franz Kafka)

  • Außerdem mag ich die Liebesgedichte von Erich Fried sehr. Weithin bekannt, aber immer wieder schön:


    Was es ist


    Es ist Unsinn

    sagt die Vernunft

    Es ist was es ist

    sagt die Liebe


    Es ist Unglück

    sagt die Berechnung

    Es ist nichts als Schmerz

    sagt die Angst

    Es ist aussichtslos

    sagt die Einsicht

    Es ist was es ist

    sagt die Liebe


    Es ist lächerlich

    sagt der Stolz

    Es ist leichtsinnig

    sagt die Vorsicht

    Es ist unmöglich

    sagt die Erfahrung

    Es ist was es ist

    sagt die Liebe.

    LG von Esther

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    ***Mein SUB***


    "Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns." (Franz Kafka)

  • Und dann hat mich noch mein Deutschlehrer in der Oberstufe mit seiner Begeisterung für Gottfried Benns "Morgue-Gedichte" angesteckt. "Kleine Aster" und "Schöne Jugend" sind in diesem Artikel zitiert (nichts für schwache Nerven!):


    Wilder Ekel - geiles Grauen
    "La Morgue“ heißt das berühmte Leichenschauhaus in Paris. Der bis dahin völlig unbekannte Autor und angehende Militärarzt Gottfried Benn beschreibt in seinem…
    www.deutschlandfunk.de

    LG von Esther

    signatur4sclm.gif

    ***Mein SUB***


    "Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns." (Franz Kafka)

  • Gedichte ganz anderer Art..


    .. schreibt der Biologe. Beim folgenden finde ich Rhythmus und Wortwahl durchaus sehr gewitzt:


    Poem by David Pye: On the variety of hearing organs in insects, Microscopy Research and Technique | DeepDyve
    © The katytid has made a bid To listen with its shins,15 And though they chat a hungry bat Very seldom wins. In bee and fly new rules apply — Not pressure…
    www.deepdyve.com


    (Wer nicht die Geduld für's Ganze aufbringen will, versuche wenigstens den ersten, ursprünglichen Teil... ;) )

  • So lange ists nun auch wieder nicht :) Scheint ein Gedicht für "Insider" zu sein. Ich mag es lieber, wenn man keine Fußnoten benötigt um ein Gedicht zu verstehen.


    Ich verstehe den Sinn dahinter, aber die Spezifikationen und Anspielungen eher weniger, weil ich in der Entomologie nicht so bewandert bin.


    Daher vermute ich neben dem Offensichtlichen noch viele weitere Details, die mir verborgen bleiben. Wobei das auch wieder ein guter Ansatz wäre. Wir erkennen meist nur einen Bruchteil der Realität und bilden uns unsere eigene Wahrheit daraus.

  • Es ist einfach ein Gedicht darüber, dass sich die Ohren von Insekten meist an ungewöhnlichen Körperstellen befinden. (Die Nummern rühren daher, dass sich das Gedicht tatsächlich in einer wissenschaftlichen Veröffentlichung befand.)


    Ich finde vor allem den Rhythmus und den Binnenreim (sagtmanso??) in der jeweils 1. und 3. Zeile wirklich beeindruckend (sogar, als es ihn mal nicht gibt, "kommt" das für mich passend..) - und keiner der Reime wirkt total erzwungen, sondern immer "von leichter Hand" (was eben nicht so einfach ist, wie es klingt.. :S ). Ich mag das. <3

    Einmal editiert, zuletzt von Alice ()

  • Auch kein Verfasser gefühlvoll-romantischer Gedichte, aber einer, der durchaus noch mehr geschrieben hat als Max&Moritz, ist

    Wilhelm Busch:


    Kritik des Herzens: Die Selbstkritik hat viel für sich


    ..oder:


    Wenn einer, der mit Mühe kaum

    Gekrochen ist auf einen Baum

    Schon glaubt, dass er ein Vogel wär -

    So irrt sich der.

    (Sehr weitläufig anzuwenden.. ;) )


    (Die nächsten Gedichte dürfen dann gern auch wieder etwas romantischer sein.. <3 )

    Einmal editiert, zuletzt von Alice ()