Mehr Platz der Lyrik

Es gibt 369 Antworten in diesem Thema, welches 20.398 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von b.a.t..

  • Wie schon bei anderen Gedichten, die hier vorgestellt wurden, musste ich den Text erstmal wirken lassen und durchdenken, trotzdem bleibe ich bei meinem ersten Eindruck und Interpretationsansatz: Hier wird eine Frau von einem Mann unterdrückt und sie versucht, sich aus dieser Unterdrückung zu befreien.


    Am Anfang klingt das Gedicht für mich so, als ob etwas schon länger Aufgeschobenes ("die auf Widerruf gestundete Zeit") bzw. etwas, was sich schon länger angekündigt hat, sich nun verwirklicht. Die "härteren Tage" verdeutlichen, dass dies durchaus ernst zu nehmen ist.


    Die Seelandschaft, in der sich die Dinge ereignen, passt mit ihrer Kargheit und dem weiten Blick (der Horizont wird ja explizit erwähnt) sehr gut, hier wird durch die eingesetzten Worte und die dadurch erzeugten Assoziationen ein Gefühl der Vergänglichkeit hervorgerufen (das mich durchaus an einige Gedichte von Theodor Storm erinnert).


    Das Versinken der Geliebten im Sand verdeutlicht den Gedanken des Verlusts, auch wenn der Perspektivwechsel an dieser Stelle zunächst für Verwirrung sorgt. Ich lese diese Stelle so, dass derjenige, der die Geliebte verliert, hier direkt mit den Gründen konfrontiert wird: er hat sie bevormundet ("fällt ihr ins Wort", "befiehlt ihr zu schweigen") und die Bedingungen der Beziehung diktiert ("willig dem Abschied nach jeder Umarmung"). Sie muss, um sich dieser Beziehung zu entziehen, aktiv werden, sich von der Szenerie entfernen und von der vermeintlichen Idylle distanzieren - das lyrische Ich klingt für mich nach einem Selbstgespräch, einer klärenden Selbstreflexion, die für die Frau in die Freiheit führen - aber unter harten Bedingungen ("es kommen härtere Tage").


    Und damit bin ich bei der zeitgeschichtlichen Dimension: auch wenn das Gedicht vielleicht nicht explizit politisch ist, klingt bei dieser Interpretation die Geschlechterfrage durchaus an, die in den 1950er Jahren sicher nicht zu Gunsten der Frau (und schon gar einer Frau wie Ingeborg Bachmann, die sich in den Augen ihrer Zeitgenossen viele Freiheiten bezüglich ihres Liebeslebens herausgenommen hat) ausgegangen wäre. Ein so selbstbestimmtes Handeln einer Frau kann damals nicht als gänzlich unpolitisch durchgegangen sein.

  • Du hast da ganz sicher einen Punkt Juva

    Durch deinen Kommentar und auch durch einen vorherigen ist mir eingefallen, dass die Gruppe 47 ja an der Ostsee Hof gehalten hat. Irgendwo in der Nähe vom Timmendorfer Strand.

    Das passt ja perfekt. Nicht erst seit Nicole Seiferts Buch wissen wir, wie die mächtigen Männer mit Frauen dort umgesprungen sind. Auch Ingeborg Bachmann musste sich dort erst durchkämpfen.


    Die Ideen zu dem Gedicht werden immer vielschichtiger. Mir gefällt das. ich möchte am Ende der Woche dann noch etwas ausführlicher über meine eigenen Hirngespinste zur gestundeteden zerronnen Zeit schreiben.


    Ich sammle noch immer Inspirationen ;)

  • Die Sache mit den Lupinen hat mich jetzt doch sehr beschäftigt bzw. deren Bedeutung. Ich hab' dies hier gefunden

    (und würde doch - wenn auch nur Tochter eines Gärtners - Dolden durchaus durchgehen lassen, ich finde den Ausdruck für die Blüten passend, auch wenn sie ja dicht an dicht stehen. Eine schöne und sehr anspruchslose Pflanze übrigens, ich hatte sie einige Jahre im Garten hinter dem Haus hier)...


    Die Bedeutung und Symbolik der Vielblättrigen Lupine: Eine tiefere Betrachtung. Die Vielblättrige Lupine steht symbolisch für Vorstellungskraft und Schutz. Diese Blume wird oft in Gärten für ihre Farbenpracht und Robustheit geschätzt.


    In Zusammenhang mit dem Gedicht sehr interessant - und stimmig, wie mir scheint.

    "Bücher sind meine Leuchttürme" (Dorothy E. Stevenson)

  • Dachte ich mir doch, dass es bestimmt auch bei der Lupine eine gewisse Symbolik gibt. Und ja, die passt gut zum Gedicht.


    Juva: Deine Interpretation finde ich sehr stimmig.

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • Juva: Deine Interpretation finde ich sehr stimmig.

    Das habe ich zunächst auch gedacht. Wenn jedoch das Gedicht als Befreiung aus einer toxischen Beziehung gelesen wird, dann passt der über allem stehende Vers "es kommen härtere Tage" nicht wirklich. Dass würde ja heißen, es wird noch schlimmer als zuvor. Daher folge ich nicht der Interpretation einer unglücklichen Liebe.

  • auch das aushalten des Wunsches doch wieder zurück zur nicht gut tuenden Person, sind sehr wohl härtere Tage.

    Ja, aber das wäre eine sehr moderne Sichtweise zu Beziehungen mit aller ihrer Toxizität. Kann ich mir nicht vorstellen, dass man dies in den 1950er Jahren schon so formuliert.


    Das Changierende zwischen dem positiven Gefühl der Befreiung und dem negativen Gefühl der zunächst einsamen Tage fehlt mir dann im Text.

    Einmal editiert, zuletzt von thomas_b ()

  • Eben, auch das Ende einer toxischen Beziehung tut weh, und es stand für die Frau womöglich auch noch mehr auf dem Spiel: die Geldfrage und die Wohnsituation beispielsweise, oder auch Ansehen, Akzeptanz, Freundschaften, in einer Zeit, in der es eher die Regel war, an unguten Beziehungen festzuhalten, als sie zu beenden.

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • Ich lese diese Stelle so, dass derjenige, der die Geliebte verliert, hier direkt mit den Gründen konfrontiert wird: er hat sie bevormundet ("fällt ihr ins Wort", "befiehlt ihr zu schweigen") und die Bedingungen der Beziehung diktiert ("willig dem Abschied nach jeder Umarmung").

    "Er" ist schon grammatikalisch gesehen der Sand vom vorher gehenden Satzteil. Der andere Teil des Liebespaars wird immer nur mit "Du" angeredet und hat nicht einmal ein definiertes Geschlecht.

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen. (Karl Kraus)

  • "Er" ist schon grammatikalisch gesehen der Sand vom vorher gehenden Satzteil. Der andere Teil des Liebespaars wird immer nur mit "Du" angeredet

    Ich habe es mir nochmal angeschaut. Immerhin bewirken solche Diskussionen genaues Lesen.


    Die Autorin könnte natürlich die Perspektive von "Du" auf "Er" ändern, aber das würde sie dann mitten in der Strophe machen. In der ersten Zeile der 2. Strophe heißt es ja noch "versinkt Dir die Geliebte im Sand". Warum sollte sie nach diesem Beginn plötzlich ins "er" wechseln? In anderen Interpretationen des Internets wird gar eine weitere Person vermutet. Das wäre mir noch unverständlicher. Daher spricht auch aus meiner Sicht vieles dafür, dass die Autorin den Sand meint. Dieser wird dann in mehreren Zeilen symbolisch benutzt, wie sich diese Geliebte immer weiter vom "Du" entfernt.