Sunjeev Sahota - Das Porzellanzimmer

Es gibt 4 Antworten in diesem Thema, welches 579 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von b.a.t..

  • Mann oder Schwager

    Das Porzellanzimmer, Roman von Sunjeev Sahoata, EBook, hanserblau
    Eine ergreifende Geschichte über Liebe, Familie, Überleben und Verrat.
    1929 in Punjab werden drei Brüder mit sehr jungen Frauen verheiratet. Um Geld zu sparen werden die Ehen gleichzeitig geschlossen. Das matriarchalische Familienoberhaupt ist Mai die Mutter der Brüder. Sie leitet die Schwiegertöchter an, wie sie ihre tägliche Arbeit zu verrichten haben, frei bewegen dürfen sich die Mädchen nicht wenn sie das Porzellanzimmer, das Zimmer in dem die Aussteuer Mais aufbewahrt wird verlassen, dürfen sie das nur komplett verschleiert. Keine der jungen Frauen weiß, mit welchem der drei Brüder sie verheiratet ist. Auf Anweisung Mais werden die Mädchen einzeln für eine Nacht in einen stockdunklen Raum gebracht, in dem sie Besuch von ihrem Ehemann bekommen um möglichst einen Sohn zu zeugen. Eine der jungen Frauen jedoch kann einen Blick auf die jungen Männer erhaschen, sie verliebt sich in einen der Brüder und vermutet, dass es sich um ihren Ehemann handelt. Eine gefährliche Leidenschaft wird entfacht.
    Das Buch besteht aus 40 überschaubaren Kapiteln, die am Kapitelanfang mit großen Zahlen versehen sind. Der Erzählstil ist auktorial, jederzeit ist dem Leser die Übersicht über das Geschehen möglich Dazwischen immer wieder eingeschobene Kapitel, mit *** überschrieben, in der Gegenwart erzählt, aus der Sicht des Urenkels der Protagonistin Mehar. Zwei Erzählstränge in zwei Zeitebenen. Als zum ersten Mal ein „Sterne“ Kapitel las, war ich nicht darauf vorbereitet. Ich brauchte eine Weile bis ich erkannt habe, dass hier ein anderer Erzählstrang in einer viel späteren Zeit angefangen hat. Insgesamt hätte ich mir in diesem Buch etwas mehr Erklärungen gewünscht, eine Zeitangabe oder ein Name über den Stern-Kapiteln, ein Glossar am Buchanfang oder -ende, welches die häufig angeführten indischen Wörter, ich vermute Kleidungsstücke oder Gebrauchsgegenstände etwas erklärt hätte. Was zum besseren Verständnis vorteilhaft gewesen wäre. Am Ende ist ein Foto beigefügt, auf dem Reader ebenfalls ohne nähere Erklärung.
    Die Geschichte selbst, war schön erzählt, prosaisch und bildhaft ausgeschmückt. Alle Figuren sind gut charakterisiert. Eine interessante Figur war Mai die Mutter der Familie, die sogar ihre Söhne schlägt. Ich habe mich schon gefragt wie Mai so mächtig werden konnte, wenn man bedenkt, wie gering die Frauen in der Familienhierarchie eingestuft sind. In einer Szene in der der Vater der Familie noch lebte, hatte ich auch das Gefühl, dass Mai allzeit das Sagen hat. Diese Machtstellung des weiblichen Familienoberhauptes und wie es dazu kam, hätte mich brennend interessiert. Über Suraj und Jeet diese beiden Brüder erfährt der Leser einiges, wie auch über die Schwägerinnen, allen voran natürlich Mehar.
    Es fiel mir nicht leicht ins Buch zu kommen. Wegen der fehlenden Erklärung der indischen Eigennamen, und auch durch die dazwischengeschobenen Kapitel aus der Gegenwart wurde der Lesefluss etwas gestört.
    Die eingeschoben Kapitel erzählen zwar ebenfalls eine betroffen machende Geschichte, wobei mir der Familienzusammenhang eine etwas nähere Erklärung bedurft hätte. Insgesamt konnte ich den Plot nicht so ganz realisieren. Wobei ich mich z.B. gefragt habe warum die einzelnen Paare sich eigentlich nicht erkennen durften, viel Kummer wäre ihnen allen erspart geblieben. Hier und da eine ausführliche Erläuterung hätte der Geschichte gutgetan.
    Von mir 3 Sterne.

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    Ich muss der bereits vorliegenden Rezension in sehr vielen Punkten widersprechen, angefangen von der Einordnung dieses Romans als Unterhaltungsliteratur. Für mich hätte er vielmehr in de Kategorie "Gegenwartsliteratur und Zeitgenössisches aus aller Welt" gehört, denn über reine Unterhaltung geht dieser Roman weit hinaus.


    Die Handlung des Romans ist lose an die Familiengeschichte des Autors angelehnt, den Ausgangspunkt seiner Überlegungen bildet dabei ein Foto seiner selbst als Baby, auf dem ihn seine Urgroßmutter Mehar auf dem Arm hält, die er nie bewusst kennengelernt, sondern von der er nur gehört hat.


    In der Gegenwart ist der Ich-Erzähler ein Erwachsener, der zeitweise wieder zu seinen Eltern zieht, um diesen nach einer Knie-OP des Vaters beizustehen, insbesondere um den Laden, den die Eltern sich aufgebaut haben, weiterzuführen. Davon ausgehend reflektiert er seine eigene Geschichte als Kind einer indischstämmigen Einwandererfamilie in England, aber auch die Geschichte seines Vaters, der es oft nicht leicht hatte, dort Fuß zu fasssen.


    Den Kontakt zu seiner Familie in Indien konnte der Ich-Erzähler als 18jähriger eher unfreiwillig pflegen, weil er auf Wunsch seiner Eltern in deren Heimat geschickt wurde, um einen Drogenentzug zu machen und sein Leben wieder in die richtigen Bahnen zu lenken. Dies ist die zweite Erzählebene, in der die alte Farm ins Auge des Lesers fällt, die der Erzähler nach und nach renoviert und auf der seine Urgroßmutter eine Gefangene der gesellschaftlichen Regeln ihrer Zeit und letztlich auch der eigenen Familie war.


    Dies ist die dritte Erzählebene, auf der die Haupthandlung stattfindet und die für mich auch am spannendsten zu lesen war, weil ich gerne wissen wollte, was Mehar in dieser Familie passiert ist, in die sie 1929 als 15jährige verheiratet wird. Die drei Söhne der Familie werden zeitgleich mit drei Frauen verheiratet, allerdings leben die Paare nicht zusammen, sondern sehen sich nur im Dunklen in einem Zimmer, um das von der Matriarchin Mai vorgegebene Ziel zu erfüllen und einen Sohn zu zeugen. Da diese bei den Eltern im Rahmen der Brautwerbung offen gelassen hat, welche der Frauen den ältesten Sohn heiraten und damit das größte Ansehen erhalten darf, soll dieses Geheimnis vorerst auch weiter gewahrt werden, die Bräute können also jeweils nur ahnen, welcher der drei Brüder jeweils der eigene Mann ist. Mehar meint bald, "ihren" Mann erkannt zu haben, und damit nimmt das Verhängnis seinen Lauf.


    Das titelgebende "Porzellanzimmer" ist der Raum, in dem Mai das Porzellan von ihrer eigenen Hochzeit zur Schau stellt und in dem ihre Schwiegertöchter gemeinsam wohnen. Als dieses Porzellan zerbrochen wird und Mai selbst über die Scherben gehen muss ist dies ein starkes Symbol dafür, dass es kein Happy End geben wird - für keine/n der Beteiligten.

    Zitat

    Eine Woche später, vor einem so makellosen Himmel, dass ihr die Augen wehtun, wird Mehar im Porzellanzimmer sein und zusehen, wie Jeet die schwarz lackierten Lamellen entfernt und durch Eisenstangen ersetzt. Er wird ihr dafür keinen Grund nennen und Mehar wird nicht fragen. Sie wird schweigend zusehen, wie er die Fensterbank mit Kalkmörtel ausgießt, die Stangen abmisst und zurechtsägt, und dann wird sie die Stangen zählen, die nacheinander in den Mörtel gehämmert werden und sie einsperren. (S. 235 f.)

    Hier wird die ganze Tragik von Mehars Leben deutlich - dass sie als Frau in der Gesellschaftsordnung Indiens (besonders 1929) nicht frei sein darf, sondern von ihrem Mann und ihrer Schwiegermutter fremdbestimmt wird, so sehr sie auch um ihr Recht auf Selbstbestimmung kämpft.


    Trotzdem ist der Roman nicht so traurig, wie das nun erscheinen mag, und das liegt an den verschiedenen Zeitebenen, die sich durch die Erzählweise (Mehars Geschichte wird in der Gegenwart erzählt, die anderen Zeitebenen in der Vergangenheit) gut unterscheiden lassen. Hier wird nämlich im Erleben des 18jährigen Erzählers deutlich, dass sich durchaus etwas geändert hat, sodass Hoffnung entsteht:

    Zitat

    Tanbir ergriff das Wort. "Es ist anders für Frauen, oder? Sie können nicht entscheiden, wohin sie gehen. Sie wachsen in einem Gefängnis auf, und dann heiraten sie in eins hinein." Auch er blickte zu meinem Zimmer mit den Eisenstäben. "Ich meine - herrje. Wenigstens haben wir das da hinter uns gelassen."

    "Nicht alle Gefängnisse haben Gitter", sagte Radhika und trat ihre Zigarette mit der Sandale aus. "Und nicht jede Liebe ist ein Gefängnis." (S. 201)

    Und so steht am Ende die Erinnerung an eine Liebe mit tragischem Ausgang, aber auch die daraus erwachsene Familie, die durch die Verlagerung ihres Lebens ans andere Ende der Welt ebenfalls mit Identitätsfragen, allerdings ganz anderer Art, konfrontiert wird. Ein lesenswerter Roman, der trotz des historischen Ansatzes viele aktuelle Themen berührt und nicht zuletzt dank der sprachlichen Gestaltung toll zu lesen ist - die Naturbeschreibungen des Ich-Erzählers in der Einsamkeit seines jugendlichen Exils sind einfach wunderschön.


    5ratten

    Einmal editiert, zuletzt von Juva ()

  • Sunjeev Sahota - China Room

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    Der Plot oben wurde ja schon beschrieben. Juva s Widerspruch kann ich nur beipflichten.

    Die Erzählperspektiven wechseln jeweils in den beiden Erzählsträngen.


    Durchgehendes Thema für mich ist Freiheit. Ein Staat, eine Religionsgemeinschaft, Frauen und auch Männer sind in den 1920ern in Indien nicht frei. Überall regt sich Widerstand gegen die englische Kolonialmacht. Der Religionsstreit in der Region hält bis heute an. Immer wieder gibt es Anschläge und kriegerische Auseinandersetzungen.


    Es gibt 70 Jahre später Verbesserungen. Frauen müssen nicht mehr verschleiert in der Öffentlichkeit gehen. Sie haben die Möglichkeit zu studieren, aber dennoch gibt es Zwangsvermählungen. Die Tante des Ich-Erzählers wollte eigentlich den Dorflehrer heiraten, wurde aber mit dem Onkel zwangsliiert.


    Die Geschichte wiederholt sich in abgewandelter Form immer wieder. Viele Parallelen zum Leben seiner Urgroßmutter gibt es nach wie vor. Die Menschen werden zwar nicht mehr abgeschoren und entblößt durch das Dorf gezogen, beschimpft und beworfen, aber der Dorftratsch, Intrigen und Unehrlichkeiten sind nach wie vor vernichtend.


    In diesem Buch gewinnt die Liebe nicht, sondern es ist wichtig weiter zu machen, Zufriedenheit und Ausgeglichenheit ist wichtiger als individuelle Liebe.


    Das Porzellan symbolisiert die Unschuld und die Ehre, sobald es zerbrochen ist, kann es nicht mehr repariert oder widerhergestellt werden. Das erinnert mich an "Der zerbrochene Krug" von Kleist.


    Im Buch ist das Zimmer eine Art Zuchtstation. Frauen werden gefügig gemacht, um Söhne zu erzeugen. Sie dürfen dabei nicht mal sehen, mit wem sie sich da eigentlich vermehren sollen.


    Interessant fand ich auch die Beziehung von Mehar zu ihrer eigenen Familie. Nachdem sie quasi in die Ehe verkauft wurde hat sie keinen Kontakt mehr zu ihnen. Ihr Cousin aka Bruder war ihr ein guter Freund, hat ihr viel beigebracht und sie auch in Schutz genommen, allerdings gibt es nach der Hochzeit keinen Kontakt mehr.