Ines Geipel - Zensiert, verschwiegen, vergessen: Autorinnen in Ostdeutschland 1945-1989

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    Über das Thema Zensur in der DDR wollte ich mich eigentlich schon lange belesen. Bin aber immer wieder von abgekommen. Nun habe ich mir gleich drei Bücher bestellt und habe mit dem ersten begonnen. Da ich ja keine Rezis mehr schreibe, würde ich gerne wieder tagebuchartig schreiben und gebe darum ziemlich viel Inhalt preis.

    "Ich wollte an die Kunst glauben als außerstaatliche Lebensqualität."
    Gabriele Stötzer, 80er Jahre der DDR

    "Es ist an der Zeit, dem anderen Gesicht einer Literatur, bei der man sich angewöhnt hat, sie als historisch und sortiert zu betrachten, konkretere Kontur zu geben. Borges' Satz "Die bloße Möglichkeit für ein Buch ist hinreichend für sein Dasein" schien mir zu dürftig. Ich hatte Sehnsucht nach den Wünschen, dem Hunger, dem Beharren, dem Schmerz, den Fehlern, den Gedanken und Sätzen derer, über die ein Staat entschieden hatte, dass sie ohne öffentliche Stimme bleiben sollten."
    Ines Geipel, Januar 2009

    Zwei Zitate aus dem Vorwort von "Zensiert, verschwiegen, vergessen. Autorinnen in Ostdeutschland 1945 - 1989"

    Prolog
    Es ist der 3. Oktober 1947. Wir befinden uns bei Ricarda Huch in Jena, im Oberen Philosophenweg 72. Im Flur etliches Gepäck. Sie nimmt Abschied von der Stadt, in der sie seit dem 1. September 1933 lebte. Dieses Haus war ihr Wunschrefugium mit Garten. Es gab ihr Halt "in einer Zeit, die aus Hitler, Not, Bomben, Chaos bestand". Sie fühlte sich hier heimisch, traf sich wöchentlich mit Freunden, redete mit ihnen über Politik, Kochrezepte, Kunst und Liebhabereien. Unter ihnen befanden sich zum Beispiel die Juristen Heinrich Gerland und Hermann Schultze von Lasaulx, der Betriebswirtschaftler Ernst Pape, der Altphilologe Friedrich Zucker, Rektor der Universität, der Soziologe Franz Jerusalem und der Theologe Gerhard von Rad.
    Tägliche Spaziergänge, regelmäßige Bibliothekszeiten, Anstehen auf dem Wochenmarkt, ihr Garten, die Nachmittage mit Enkel Alexander und das Schreiben in der "Baracke", dem einzigen beheizbaren Raum im Haus. Das war ihre Jenaer Zeit.
    Ihr Schwiegersohn Franz Böhm unterrichtete an der juristischen Fakultät der Uni. Anfang 1938 wurden die beiden wegen Volksverhetzung angeklagt. Sie wurden zwar nicht verurteilt, jedoch durfte Böhm ab März '38 nicht mehr lehren und für Ricarda Huch gab es immer mehr Schwierigkeiten, ihre Werke zu publizieren.
    Eigentlich wollte Ricarda Huch an ihrer Autobiografie arbeiten, doch drei Jahre dauerte das sogenannte "Heimtücke"-Verfahren ("ein 1934 erlassenes Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei und zum Schutz der Parteiuniform") an. Zudem war Krieg. Weihnachten 1943 schreibt sie: "Man hofft eben gar nichts mehr, fürchtet nur noch." Im Großen und Ganzen kam ihre Familie "mit grauen, blauen und braunen Augen" durch diese Zeit...

    Denn ich, ohne Bücher, bin nicht ich. - Christa Wolf


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  • Und weiter geht es:


    Am 18. Juli 1844 feierte sie noch ihren 80. Geburtstag in Jena. Und sie feierte nach dem Motto: "Es ist wie in Pestzeiten - am Rande des Abgrunds sind die Feste am lautesten." Ein Glückwunschtelegramm kam von Hitler; eine dicke Aufmachung vom "Völkischen Beobachter". Es gab eine offizielle Festschrift. Und sie bekam im Namen von Goebbels und der Heimatstadt Braunschweig den mit 30.000 Mark dotierten Wilhelm-Raabe-Preis. Schon 1933 hätten die neuen Machthaber sie gerne auf ihrer Seite gehabt. In ihrem Dankesschreiben vermied sie die Anrede "Mein Führer" und den Gruß "Heil Hitler". Das Geld nahm sie aus der Not heraus: "Ich empfinde es als einen Flecken auf der Ehre, den ich nicht auslöschen kann."

    Als der Krieg zu Ende war, war sie seelisch und körperlich einfach nur erschöpft, sie wog keine 50 Kilo mehr. Aber sie hatte geschafft, was sie sich 1933 als Ziel setzte: Sie wollte Hitler überleben. Thüringen wurde nach Kriegsende in die Sowjetische Besatzungszone eingegliedert. Ihr Ruf als "Königin der inneren Emigration" war bei den sowjetischen Kulturoffizieren über jeden Zweifel erhaben. Die neue Macht wollte sie als politische Stimme des Aufbruchs. Und sie genoss fortan ihre fast kultische Verehrung und war in den verschiedensten Gremien tätig.


    "Ich bin jetzt prominent, und das ist sehr zeitraubend. Ich bekomme fortwährend offizielle Besuche und offizielle Briefe, soll für die Studenten, oder für die Frauen, oder für die Wähler, oder für die Evakuierten ermunternde Aufrufe verfassen, tue es zwar nicht, muss aber erklären, warum ich es nicht tue."


    Und doch tat sie es. "Für die Märtyrer der Freiheit" erschien am 25. Mai 1946 in den "Hessischen Nachrichten". Sie wollte Biografien schreiben, "Lebensbilder dieser für uns Gestorbenen aufzeichnen und in einem Gedenkbuch sammeln". Das brachte ihr Denunziationen bis hin zu Todesdrohungen, die sie aus Ost und West bekam. "'Sie wollen nun Mörder verherrlichen, Helden in den Schmutz ziehen, Mord ist Mord', schrieb man ihr."

    Eineinhalb Jahre war sie gut dafür, vom kulturellen Neuanfang, demokratischem Aufbruch und dem einigen Deutschland zu plädieren. Doch spätestens ab Mitte 1946 drehte sich das Blatt. Sie wurde mehr und mehr zensiert, Ausreisegenehmigungen, die schon zugesagt wurden, wurden wieder zurückgenommen. Sie hörte von der Verschleppung unschuldiger junger Menschen und verglich die Zeit mit den vergangenen zwölf Jahren.

    Eigentlich wollte sie nicht weg von Jena. Hier war ihr Publikum, ihre Freunde und Mitstreiter. Doch es ging für sie nicht anders. Es fügte sich, dass sie von Johannes R. Becher, damals Kulturbund-Chef, eine Einladung auf den Ersten Deutschen Schriftstellerkongress bekam. Der fand vom 4. bis 8. Oktober 1947 statt. Sie sollte für ihn die Ehrenpräsidentschaft übernehmen. Auf diesem Weg wollte sie dann in einem verplombten, englischen Militärzug in den Westen gelangen.

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  • Über Ricarda Huch habe ich ja schon berichtet, sehe ich gerade. Ich habe weitere Gedanken notiert, die ich euch doch noch mitteilen möchte, damit ich mit dem Buch abschließen kann.


    Ja, das Buch ist absolut interessant, aber es ist auch wieder eines der Bücher, die mich so unwahrscheinlich wütend machen und mir auch die Tränen in die Augen treiben. Und diesmal hat es nichts damit zu tun, dass ich nah am Wasser gebaut bin.


    Ich verteufel nicht meine Kindheit und Jugend in der DDR. Und ich hasse es, wenn mir, wenn ich Positives aus meinem DDR-Leben erzähle, Ostalgie vorgeworfen wird. Ich komme aber absolut nicht mit den vielen Menschen (selbst in meinem Internet-Umfeld, die ich hier schon Jahre kenne) zurecht, die diesem System immer noch nachtrauern. Die Honecker und Konsorten noch feiern.


    Das Folgende trau ich mich kaum zu schreiben, aber ihr kennt mich. Ihr wisst, dass ich viel "Gegen das Vergessen" gelesen und geschrieben habe. Ich rede den Nationalsozialismus absolut nicht klein, und der Holocaust war das schlimmste Verbrechen, das ich mir vorstellen kann.

    Was aber das Foltern anbelangt, ging es in der DDR nahtlos weiter. Hier, in diesem Buch, finde ich schon auf den ersten 50 Seiten Beispiele dafür.


    Zehntausende wurden beim Aufstand zu Beginn der 1950er-Jahre unter den erbärmlichsten Bedingungen inhaftiert. In den Frauengefängnissen arbeiteten sadistische Wärterinnen.


    Die Dichterin Edeltraud Eckert starb mit 25 Jahren (als 20-Jährige wurde sie verhaftet) an der Folge eines Arbeitsunfalles im berüchtigten Gefängnis Hoheneck. Sie arbeitete an einer Maschine, in der sich ihre Haare verfingen. Diese und ein Teil ihrer Kopfhaut wurden abgerissen. Das Hautstück hätte sofort desinfiziert werden müssen, was nicht geschah, weil die Aufseherin, die den Schlüssel für den Schrank hatte, nicht anwesend war. Ansonsten traute sich niemand, diesen Schrank zu öffnen.


    Sie erhielt keine Beerdigung. Die Behörden äscherten ihren Leichnam ein und setzten sie in einem geheim gehaltenen Massengrab bei. Alles, was die Familie von ihr bekam, waren das Schreibheft mit ihren Gedichten und ein paar persönlichen Besitztümer.


    "Die Nachkriegszeit in ihrer Fragwürdigkeit macht so kaputt. Wir haben uns alle so sehr auf das Kriegsende und den Sieg der Freiheit gefreut. Wir haben uns seelisch nicht richtig vorbereitet... Es ist sehr sonderbar und tragisch, wie im heutigen Deutschland die Antifaschisten am meisten leiden. Während die Nazis und Mitläufer wieder munter umherplätschern - es sind eben die Menschen, denen es so leicht fällt, sich zu akklimatisieren."


    Susanne Kerckhoff


    Geschrieben wurde noch über die ostdeutschen Speziallager. Sie wurden direkt nach Kriegsende errichtet. In den elf Speziallagern, die "nicht selten auf dem Gelände ehemaliger Konzentrationslager" errichtet wurden, saßen bis Ende 1948 gut 150.000 Häftlinge ein. Verbrecher, NSDAP-Funktionäre, Zivilisten. Aber auch sehr viele Opfer von Denunziationen. Erst hieß es, diese Einrichtungen dienten der Entnazifizierung. Doch schnell wurden sie zum Instrument der neuen Diktatur. Klassenfeinde sollten isoliert werden, Widerstand - ob tatsächlicher oder erdachter - sollte gebrochen werden, bürgerliche Eliten sollten ausgeschalten werden. Durch Hunger, widerwärtige hygienische Bedingungen und Epidemien war die Todesrate sehr hoch. 42.889 Häftlinge starben. 25.000 deportierte man in sowjetische Gulags. "Insgesamt ein Drittel - oft ,nominelle' Nazis - entließ man im Laufe der Zeit. Die kritischen Stimmen der SBZ-Politik blieb in Gewahrsam. Im Herbst 1948 wurden die 28.000 verbliebenen NKWD-Häftlinge auf die großen Internierungslager Bautzen, Sachsenhausen und Buchenwald konzentriert. Als im Februar 1950 auch diese geschlossen wurden, kam die Hälfte der Insassen frei. Die restlichen 14.000 Häftlinge wurden auf die Gefängnisse der DDR verteilt."


    5ratten

    5ratten Einmal fünf Ratten für dieses Buch reichen nicht.

    Denn ich, ohne Bücher, bin nicht ich. - Christa Wolf


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    2023 - 91


    Gesamt seit März 2007: 1012

  • (1) Ich verteufel nicht meine Kindheit und Jugend in der DDR. Und ich hasse es, wenn mir, wenn ich Positives aus meinem DDR-Leben erzähle, Ostalgie vorgeworfen wird.


    (2) Ich komme aber absolut nicht mit den vielen Menschen (selbst in meinem Internet-Umfeld, die ich hier schon Jahre kenne) zurecht, die diesem System immer noch nachtrauern. Die Honecker und Konsorten noch feiern.

    Danke für's Teilhaben-Lassen an diesem Buch Anne - ich denke nämlich tatsächlich nicht, dass ich es mir antun werde, es selbst zu lesen - und das geht wahrscheinlich auch anderen so. Um so wichtiger ist eine Stimme zum Thema, für die dieses mal nahe Realität war (auch wenn ich nicht weiß, wieviel man/Du da tatsächlich wirklich " mitgekriegt" hat (?).)


    Ad1: Es wäre/ist ja ganz furchtbar, von jemandem zu verlangen, seine ganze Kindheit & Jugend erinnerungsmäßig einfach wegzuwerfen und alles nur noch verdunkelt wahrzunehmen! Glücklicherweise findet ja auch im sinistren politischen Milieu so etwas wie Privatleben statt, und ebenso glücklicherweise können die meisten Menschen auch einem nicht so glücklichen Milieu Positives abgewinnen und sich daran erinnern. Ganz abgesehen davon, dass die Welt nun mal nicht schwarz/weiß ist.


    Ad2: ..wobei natürlich nicht jeder in der Lage ist, die beiden Dinge, Innen- und Außenwelt, objektiv auseinanderzuhalten und die Sache differenziert zu sehen. Ich finde es bewundernswert und wichtig, wenn DU das kannst: Den scharfen Blick nicht verlieren und sich dennoch seine positiven Erinnerungen nicht nehmen lassen.

  • m so wichtiger ist eine Stimme zum Thema, für die dieses mal nahe Realität war (auch wenn ich nicht weiß, wieviel man/Du da tatsächlich wirklich " mitgekriegt" hat (?).)

    Valentin Senger schrieb in seinem Buch "Kaiserhofstr. 12":


    "So wie ich konnte jeder hinhören, wenn er nur hören wollte, was die SA-Männer sangen, oder besser grölten, denn diese Sorte Lieder konnte gar nicht gesungen, sie mußte gegrölt werden.

    Darum war nach dem Zusammenbruch des Hitlerreichs mein Mißtrauen so groß, und ist es noch heute, wenn deutsche Biedermänner, die das Tausendjährige Reich gut überstanden haben, andere glauben machen wollten, sie hätten von nichts gewußt, seien selbst die Opfer einer Täuschung geworden und während der ganzen Zeit ahnungslos über die wahren Absichten Hitlers gewesen."


    Ich bin Jahrgang 1964 und habe überhaupt keine derartigen Erfahrungen. Ich wuchs in einem unpolitischen Haushalt auf, mein politisches Interesse begann erst nach der Wende. Und ich muss ehrlich sagen: Ich habe nichts gewusst. Das DDR-Regime ging ja viel subtiler vor. Da war niemand, der auf den Straßen gegen Regimegegner Lieder grölte. Nein, sie wurden still und heimlich beobachtet, denunziert und abgeholt. Wer nicht im Umfeld eines Opfers lebte, bekam gar nichts mit. So erging es mir jedenfalls.

    Denn ich, ohne Bücher, bin nicht ich. - Christa Wolf


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