Theresia Enzensberger - Auf See

Es gibt 4 Antworten in diesem Thema, welches 460 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von finsbury.

  • Da ich hierzu noch keinen Thread gefunden habe, bin ich mal so frei (ich hoffe mal, die Einordnung unter Gegenwartsliteratur ist in Ordnung - ich hatte auch überlegt, es unter Unterhaltungsliteratur zu eröffnen, aber das passte irgendwie weniger - wenn ich mich irre, wird sich ja bestimmt ein freundlicher Mod finden, der den Thread verschiebt ;) )


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    Theresia Enzensberger - Auf See


    "'Auf See"' erzählt die Geschichte von Yada, die auf einer Seestatt lebt, die ursprünglich als nachhaltige, autonome Siedlung in der Ostsee gedacht war, heute jedoch nur ein Schatten der früheren Ideen ist. Ihr Vater, den sie kaum zu Gesicht bekommt, hat einen fast sektenartigen Kult um sich herum geschart, ihre Mutter ist vor Jahren an ihrem Wahnsinn (den Yada geerbt hat und deshalb diverse Medikamente und Therapien verordnet bekommt) gestorben. Doch eines Tages hat Yada genug vom immer gleichen Leben auf der verfallenden Seestatt und versucht, hinter die Fassade zu blicken - der Seestatt, ihres Vaters, ihrer selbst.


    Der formale Aufbau des Buches an sich ist recht ungewöhnlich - Yada erzählt ihre Geschichte aus der Ich-Perspektive, aber Kapitel, in denen die Geschichte anderer handelnder Personen erzählt werden, sind komplett in der dritten Person geschrieben. Das irritiert anfangs etwas, hat aber seinen Charme und trägt zur Identifikation mit Yada bei. Zwischenzeitlich gibt es immer wieder "Archiv"-Kapitel, die reale Ereignisse der Vergangenheit erzählen, die jedoch (zunächst) keinen Bezug zur Handlung zu haben scheinen. Der Erzählstil des Buches ist eher ruhig, die Handlung baut sich gemütlich und langsam auf - das muss man mögen, um Gefallen am Buch zu finden, auch Spannung baut sich nur wenig auf - mir fehlt hier allgemein der große Knall, eine Art Finale, auf die alles zusteuert. Gerade eine Szene des Wiedersehens könnte so viel umfassender, aufregender beschrieben werden - und dann wird das Thema recht nebensächlich abgehandelt. Hmpf. Alles ist durchzogen von Kapitalismuskritik - teilweise recht offensichtlich, manchmal auch etwas subtiler, auch die Klimakatastrophe ist hier ein stiller Begleiter, der bereits zugeschlagen hat und in dessen Auswirkungen sich Menschen nun zurechtzufinden versuchen.


    Ich scheitere offen gesagt etwas daran, herauszufinden, was das Buch mit mir anfangen will - ist hier Yadas Geschichte der Mittelpunkt oder soll das Buch eine Warnung sein, zu was uns Tech-Bros, Bankster und ungehemmter Kapitalismus führen können? Meh. 3/5 Ratten.

    Aragorn: "Ihr habt schon gefrühstückt."

    Pippin: "Wir hatten das erste, ja. Aber was ist mit dem zweiten Frühstück?"

    Merry: "Ich glaube nicht, dass er weiß, dass es sowas gibt."

    Pippin: "Und der Elf-Uhr-Imbiss? Mittagessen? Vier-Uhr-Tee? Abendessen, Nachtmahl? Das kennt er doch wohl, oder?"

    Merry: "Ich würde mich nicht darauf verlassen."

    Aus: "Der Herr der Ringe: Die Gefährten"

  • Die Autorin wurde 1986 geboren und ist die Tochter von Hans Magnus Enzensberger. Der hier vorgestellte Roman (2022) ist ihr zweiter. Vorher erschien „Blaupause“ (2017).


    Inhalt

    Die siebzehnjährige Yada lebt in der nahen Zukunft auf Seestatt - auch Vineta nach der untergegangenen Inselstadt vor Usedom genannt - einer künstlichen Insel und Sonderwirtschaftszone vor der deutschen Ostseeküste. Ihr Vater Nicholas, einer der Gründer des Inselprojekts und nun alleiniger Vorstand, hat sie als Siebenjährige von ihrer Mutter Helena, einer Künstlerin, durch Erziehungsrechtsklagen getrennt und mit auf die Insel genommen, wo sie nach einem sorgfältigen Programm vielseitig - insbesonders wirtschaftlich und naturwissenschaftlich -gebildet wird. Empathische Beziehungen zu anderen Menschen, vor allem zu den ausgebeuteten Mitarbeitenden auf der Insel, werden weitestgehend unterbunden. Nachdem sie sich in ihre Yogalehrerin Rebecca verliebt, erfährt, dass ihr Vater ihr Lügen über ihre Mutter erzählt hat und sie jahrelang unter Drogen hielt sowie von den unmenschlichen Lebensbedingungen der Mitarbeitenden Kenntnis erhält, flieht sie nach Berlin und findet dort ihre tot geglaubte Mutter.


    Auf einer zweiten Erzählebene erfahren wir von deren ungeordneten und öffentlichen Leben. Im Rahmen eines Kunst-Projektes hatte sie zum Spaß Prophezeiungen ins Netz gestellt, die sich zum Teil bewahrheiteten und war zum Guru einer Gruppe Gläubiger geworden. Diesen gegenüber hatte sie eine Sektenideologie entworfen, die auf dem Ausleben des eigenen Egoismus beruhte. Im Folgenden versucht sie, die Sekte sich selbst zu überlassen, in der ein anderes Mitglied die Führung übernimmt. Helena lebt – durch ihre Berühmtheit als Guru und Künstlerin finanziell unabhängig - in ungeordneten Verhältnissen bei unterschiedlichen Bekannten und LiebhaberInnen. Ihr engerer Bezugskreis sind aber ihr Halbbruder August, ihre beste Freundin Kamilla sowie ihre ehemalige Gefolgsfrau Sophie mit deren Tochter Mia.


    Als Yada in Berlin eintrifft, findet sie bei Agnes, Kräuterfrau und Freigeist, im Tiergarten Unterschlupf, der mittlerweile zu einer Art Zeltstadt für diejenigen geworden ist, die in den überteuerten Wohnungen Berlins keine Unterkunft mehr finden. Schließlich findet sie auch ihre Mutter, und bald ziehen diese und ihr Anhang mit Yada zu Agnes und bauen sich dort eine neue Existenz auf. Diese jedoch ist fragil, denn die Stadt Berlin möchte das Gebiet an private Bauherren veräußern, um damit Geld zu generieren. Die Gemeinschaft löst sich auf, was aus allen wird, bleibt offen.


    Stil, mögliche Bedeutung und meine Meinung

    Der Roman ist in Montagetechnik verfasst, wobei die Haupterzählebenen diejenigen von Yada in der Ich-Form und die von Helena (und allen anderen) in der Er-Form sind. Daneben gibt es sogenannte Archiv-Kapitel, in denen Helena historische Utopien und alternative Lebensformen darstellt, allesamt auf echten Quellen beruhend. Gegen Ende kommen einzelne Abschnitte mit Perspektiven anderer Nebenpersonen vor.


    Die alternativen Lebensformen, die im Mittelpunkt des Romans stehen, werden hier als äußerst fragile Projekte dargestellt, in denen es immer Profiteure und Ausgebeutete gibt und die letzten Endes alle scheitern. Halt kann sich nur zwischen einzelnen Personen bilden, und auch das nicht auf Lebenszeit. Andererseits wird auch einem Zukunftspessimismus entgegengearbeitet, indem sich immer wieder Kräfte bilden, die im Kleinen anpacken und den unwirtlicher werdenden Lebensbedingungen kleine Formen des gestaltenden Lebens außerhalb ideologischer Orientierungen abtrotzen.


    Mich hat dieser Roman „nicht abgeholt“, da ich den ziemlich überkandidelten Hauptpersonen bis auf Yada nicht viel abgewinnen konnte. Das Ganze ist außerdem in einem intellektuellen Duktus gehalten, der nicht vielen Menschen eine störungsfreie Lektüre ermöglicht.

  • Das Ganze ist außerdem in einem intellektuellen Duktus gehalten, der nicht vielen Menschen eine störungsfreie Lektüre ermöglicht.

    Sehr schön auf den Punkt gebracht - dann ist das trotz des spannenden Themas ziemlich sicher nix für mich.

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen





  • Mich hat dieser Roman „nicht abgeholt“, da ich den ziemlich überkandidelten Hauptpersonen bis auf Yada nicht viel abgewinnen konnte. Das Ganze ist außerdem in einem intellektuellen Duktus gehalten, der nicht vielen Menschen eine störungsfreie Lektüre ermöglicht.

    (Der zweite Satz ist so klasse formuliert.. ^^ )

    Schade, werde das also eher nicht lesen - dabei würde es sooo gut zu einem Sachbuch in untersten Tiefen meines SUB passen u hätte mich sonst vlt motivieren können, dieses endlich mal zu lesen (es kam von MrAlice..):


    Klaus Goldmann - Vineta. Die Wiederentdeckung einer versunkenen Stadt

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  • Vielen Dank für eure Rückmeldung, Valentine und Alice.
    Übrigens würde dir das Buch in Bezug auf Vineta sowieso nichts bringen, denn darauf wird so gut wie gar nicht Bezug genommen, nur wegen der ähnlichen Lage wird der Name gebraucht.

    Aber ich bin gespannt, was du über das erwähnte Buch über Vineta zu berichten hast.