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Sollte Nora Bossongs Roman "Reichskanzlerplatz" angesichts der aktuellen Nominierung für die Longlist des Deutschen Buchpreises 2024 nicht eher in der Kategorie "Gegenwartsliteratur" auftauchen? Meiner Ansicht nach nicht, ich habe mir das Ebook bereits vor der Nominierung aufgrund der Inhaltsbeschreibung, die mich ansprach, heruntergeladen, und für mich handelt es sich um einen historischen Roman, auch wenn er den LeserInnen durchaus Denkansätze zu aktuellen Debatten ermöglicht.
Der Roman spielt in den Jahren 1919 bis 1944 und erzählt die Geschichte Hans Kesselbachs, der aus einem konservativen Elternhaus stammt (die Tatsache, dass sein Vater als kriegsversehrter Berufsoffizier des Ersten Weltkrieges den alten Zeiten nachtrauert, beeinflusst die Geschichte des Protagonisten nachhaltig) und in der Schule Hellmut Quandt begegnet, dem ältesten Sohn des Industriellen Günter Quandt, der die junge Magda Ritschel zu seiner Frau und damit zu "Madame Quandt" macht. Erst nach dem Tod Hellmuts, zu dem sich Hans so sehr hingezogen fühlte, dass man ihn eigentlich als Liebe seines Lebens bezeichnen könnte, beginnt Hans eine Affäre mit dessen Stiefmutter - sie sucht etwas, das sie in ihrer Ehe nicht findet, er will seine Homosexualität überspielen und gleichzeitig die nostalgische Erinnerung an Hellmut aufrecht erhalten.
Doch Hans vermag Magdas Interesse nicht dauerhaft zu fesseln - als sie beginnt, sich für die Nationalsozialisten zu begeistern und dann schließlich Joseph Goebbels in ihr Leben tritt, rücken Hans und Magda immer weiter auseinander, auch wenn sie sich noch gelegentlich sehen. Dabei spielt immer wieder Opportunismus auf beiden Seite eine Rolle: Magda sucht gerade in Zeiten, in denen ihr Mann sie schlecht behandelt, nach Bestätigung, Hans ist aufgrund seiner Homosexualität dauerhaft gefährdet und will sich die einflussreiche Freundin erhalten.
Hans ist der Ich-Erzähler im Roman, der sprachlich durchaus altmodisch und damit passend zum Thema anmutet. Er ist kein sympathischer Protagonist: zwar kann man seine Haltung und seine Handlungen an vielen Stellen verstehen, aber als kritische/r LeserIn eben nicht gutheißen - er geht Konflikten konsequent aus dem Weg, dient sich dem Regime, von dem er nichts hält, an, und behält diesen anbiedernden Kurs auch bis zum Ende bei. Die Chance, ein anderes Leben zu führen, nimmt er nicht wahr, obwohl er als Diplomat durchaus die Chance hätte, sich ins Ausland abzusetzen.
Hinzu kommen die vielen kleinen Begebenheiten mit Magda, in denen seine Hinweise und Handlungen ihren Weg in die Arme der Nationalsozialisten und die Entwicklungen zur "Ersten Frau" des Dritten Reiches, begünstigen und unterstützen. Die Autorin verwebt hier die tatsächliche Biographie von Magda Goebbels gekonnt mit der Geschichte ihres fiktionalen Protagonisten, der zu den richtigen Zeiten an den richtigen Stellschrauben dreht, um den Irrweg in den Fanatismus zu ermöglichen. Und damit verdeutlicht sie gerade, dass es gerade im Hinblick auf den Nationalsozialismus eben oft die kleinen Rädchen im Getriebe, die MitläuferInnen waren, die fatale Entwicklungen ermöglicht haben.
An dem im Titel genannten "Reichskanzlerplatz" bezog Magda nach ihrer Scheidung von Günter Quandt ihre erste eigene Wohnung, die mit ihrer Entscheidung für den Nationalsozialismus und ihrer Förderung von dessen Aufstieg in engem Zusammenhang steht. Damit bezeichnet diese Adresse eine der zentralen Weichenstellungen in ihrem Leben, was ich äußerst passend finde, weil es für die ProtagonistInnen dieses Romans immer wieder um solche Weichenstellungen geht, bei denen dann natürlich auch die Frage mitschwingt "Was wäre gewesen, wenn diese Entscheidung anders ausgefallen wäre?"
Mir hat der Roman "Reichskanzlerplatz" von Nora Bossong sehr gut gefallen, weil er gut recherchiert und sprachlich ansprechend und überzeugend gestaltet ist. Darüber hinaus bindet er die LeserInnen durch die Fragen, die aufgeworfen werden, durchaus mit ein, sich eigene Gedanken zu machen und Aspekte kritisch zu hinterfragen.