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Dass ihre Mutter aus Deutschland kommt, hat Angela Findlay immer gewusst und schon in ihrer Kindheit in Großbritannien in den 60er Jahren gelegentlich Vorbehalte gegen Deutsche zu spüren bekommen. Mit der deutschen Verwandtschaft wurde auch Deutsch gesprochen, Oma, Tanten und Onkel erzählten bei Besuchen von früher. Aber dass der kurz nach ihrer Geburt verstorbene Großvater General der Wehrmacht war, erfährt Angela erst, als sie längst erwachsen ist.
Das ist für sie ein Wendepunkt in ihrem Leben und sie beginnt, sich verstärkt mit der Vergangenheit zu befassen - mit der ihrer Familie und allgemein mit der NS-Zeit und den ersten Nachkriegsjahren. Mehr und mehr wird ihr im Laufe ihrer Recherchen klar, wie stark das auch mit ihrer persönlichen Geschichte zusammenhängt, wie es das Verhalten ihrer Mutter geprägt hat und dass das Erbe von damals auch in ihr selbst noch Wirkung hat und sogar dazu geführt haben mag, dass sie anfing, Kunstprojekte mit Gefängnisinsassen durchzuführen. Insbesondere in jungen Jahren hatte sie mit psychischen Problemen und Essstörungen zu kämpfen, sie litt unter der Erwartungshaltung ihrer Mutter und wünschte sich mehr Wärme und Offenheit, ohne das wirklich in Worte fassen zu können. Ihre Spurensuche ist also gleichermaßen auch ein Versuch, mit ihren eigenen Dämonen fertigzuwerden.
Sie schont sich selbst und ihre Vorfahren nicht bei ihrem großen Projekt, zwingt sich, auch auf Aspekte zu schauen, die die unschöne Seite von Großvater Karl zeigen und hofft gleichzeitig, den einen oder anderen Funken Anstand in seinem Verhalten zu finden, einen Beweis dafür, dass er kein Hardcore-Nazi war. Mit viel Geduld und Beharrlichkeit gelingt es ihr, nach und nach immer mehr Informationen zusammenzutragen und versteht dabei nicht nur immer besser, wer der Mann auf dem Foto auf Omas Schreibtisch wirklich war, sondern auch, wie weitreichend die Auswirkungen der Nazizeit und des Krieges auch in den nachfolgenden Generationen noch sind.
Das Buch ist also viel mehr als bloß ein Bericht über Angelas persönliche Suche, und es geht darüber hinaus nicht nur um Traumaweitergabe und das verwandte, noch recht neue Forschungsfeld Epigenetik. Auch das Thema Erinnerungskultur nimmt viel Raum ein, etwas, worüber Findlay sehr viel nachdenkt angesichts der starken Diskrepanz zwischen Deutschland und ihrer Heimat Großbritannien. Während in Deutschland zunächst jahrzehntelang alles totgeschwiegen wurde und sich dann allmählich ein bewusster Umgang mit der Erinnerung an die NS-Diktatur im Sinne von "nie wieder" einzustellen begann, herrscht in GB im Zusammenhang mit dem zweiten Weltkrieg auch heute noch eine mystisch verklärte Heldenverehrung vor, die die Autorin immer stärker zu hinterfragen beginnt.
Trotz der Vielschichtigkeit und der schweren Themen liest sich das Buch sehr angenehm, und mir gefällt sehr, dass sich Findlay sehr große Mühe gibt, die Dinge differenziert zu betrachten, nichts zu beschönigen, aber auch nicht pauschal zu verteufeln und die Menschen hinter der Geschichte zu sehen. Für mich eine reife Leistung und ein sehr empfehlenswertes Buch, das übrigens ergänzt wird um eine umfangreiche Liste mit Lektüre-, Podcast-, Online- und Filmempfehlungen für alle, die einen oder mehrere Aspekte weiter vertiefen möchten.