Carolin Otto - Berchtesgaden

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  • Froilein


    Berchtesgaden, Roman von Carolin Otto, EBook, Lübbe Verlag.

    Ein bildgewaltiges Gesellschaftspanorama einer symbolträchtigen Zeit.

    Mai 1945, Berchtesgaden kapituliert und die Alliierten, hier die US-Amerikaner, übernehmen die Regierung. Die 19jährige Sophie, bewirbt sich um eine Stelle als Übersetzerin und Schreibkraft beim Military Government. Hier lernt sie Menschen kennen, die den Blick auch auf ihre eigene Familie wandeln und wird mit der Wahrheit über die deutschen Verbrechen konfrontiert. Im Schatten des Obersalzbergs verändert sich ihr ganzes Leben. An Hitlers ehemaligen Wohnort Berchtesgaden trafen bei Kriegsende 1945 die verschiedensten Menschen aufeinander: Sieger und Besiegte, Täter, Opfer und Mitläufer, leben jetzt hier, unter amerikanischer Herrschaft.

    Das Buch besteht aus 54 Kapiteln, jeweils aus dem Fokus einer der verschiedenen Personen, Sophie, die Protagonistin, die sich durch ihre Anstellung als Sekretärin, näher mit den Kriegsverbrechen der Deutschen und der eigenen Verantwortung befasst

    Die Figur Frank Rosenzweig, jüdischer Abstammung und als Kind in die Staaten emigriert. Er ist stark eingebunden in die Verhöre der Deutschen, durch den Militärgeheimdienst CIC.

    Sam Cork, ein schwarzer Soldat, der in den besetzten Gebieten mehr Freiheiten und Rechte hat, als in den Staaten aufgrund der dortigen Rassentrennung.

    Dr. Rudolf Kriss, der als Regime-Gegner denunziert, verhaftet und zum Tod verurteilt wurde, der aus der Gefangenschaft kam und Bürgermeister von Berchtesgaden wurde.

    Meg Taylor die Kriegsberichterstatterin, Ali Gral, Nebendarstellerin in Propagandafilmen und ehemalige Geliebte eines Generals, und viele andere Figuren, die den Roman sehr authentisch machen.

    Das geschieht auch durch die Sprache, die beschriebene Kleidung, Lebensgewohnheiten und die perfekt geschilderte, umgebende Landschaft. Die Autorin besticht durch ihren flüssigen Schreibstil, obwohl die erzählenden Figuren ständig wechseln, blieb der Lesefluss erhalten. Die Handelnden sind sehr gründlich gezeichnet, interessante Gedankengänge liest man zur Genüge. Ich entdeckte viele sympathische Figuren, Sophie, ihre Oma Anni, Sam etc.Doch auch schreckliche Zeitgenossen sind zur Genüge vorhanden, am unangenehmsten fand ich Max, den älteren Bruder von Sophie und seine Taten. Denunzianten, Verbrecher auch bei den alliierten Truppen sind vorhanden.

    Das Buch ist sehr menschlich mit allen Abgründen und allem Guten. Verständliche Dialoge, in Fremdsprachen und Dialekt beleben den Roman.Die fiktive Erzählung gründet auf eine hervorragende profunde Recherche der Autorin, die Handelnden sind literarische Figuren, die aber zum Teil auf authentische Charaktere basieren. Ich habe mich schon länger, für das Geschehen in den 1930er bis 1945er Jahren auf dem Obersalzberg interessiert. War auch schon einige Male vor Ort, und doch habe ich neue Fakten entdeckt. Das Empfinden der Bevölkerung, hier im Buch speziell mit der alliierten Besatzungsmacht, den Amerikanern, kann ich durch die Erzählungen meiner Großeltern bestätigen.

    Auch meine Mutter bekam ein Kleid, aus den Resten der roten Fahne, wie im Roman beschrieben. Ein sehr informatives Werk sachlich und doch spannend, aufgelockert durch die Erlebnisse der Charaktere, mir hat es sehr gut gefallen, besonders möchte ich dieses Buch der jungen Generation empfehlen, die diese Informationen nicht mehr aus den Familiengeschichten kennen. 5 Sterne.


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  • Meine Meinung:


    Schwer hab ich mich getan. Und eine gefühlte Ewigkeit bin ich ehrlicherweise kaum voran gekommen mit dem Lesen. Das lag nicht am Thema, denn ich fand das Carolin Otto das wirklich gut umgesetzt hat. Es waren einfach so viele Figuren und ihre Geschichten. Das wirkte an einigen Stellen einfach überfrachtet und ich fand, das sich die Autorin mit dem Anspruch, viele verschiedene Blickwinkel und Erlebnisse - etwa auch jüdische und andere unter dem NS-Regime Verfolgte mit ein zu beziehen, aber auch Deutsche und ihre Anteile an Schuld und beginnender Schweigekultur - zu erzählen, übernommen hat. Ich musste daher an manchen Stellen inne halten, um allen Erzählsträngen auch gerecht zu werden.


    Dennoch... die Schwäch des Romans ist eigentlich auch seine Stärke. Ich werfe so manchen Autor:innen von Romanen über die Diktatur und den Holocaust vor, alles zu beschönigen. Einen Art NS-Kitsch entwickelt zu haben und ihre Hauptfiguren als ach so gut Deutsche in Szene zu setzen. Dieser Erzählung ist die Autorin zum Glück nicht aufgesessen. Im Gegenteil, sie versucht zu zeigen, wie die Lage in diesen ersten Monaten nach Ende des Krieges war. Das nichts vergessen, aber alles verdrängt wurde. Das Täter:innen sich ganz schnell und in Windeseile zum Armen Volk umfunktionierte, das ja von alle dem so gaaaar nichts gewusst habe. Das ja nur irgendwie den Krieg überleben wollte. Es ist ihr meiner Meinung nach sehr gut gelungen die Figuren realistisch zu zeichnen. Alle mit ihren verschiedenen Gefühlen, Erlebnissen und der Frage, wie sie nun mit all dem Umgehen werden, welche Wahrheiten sie in die Zukunft tragen werden und welche sie Verdrängen.

    In diesen Tagen werden auch durch den Umgang der Besatzer - vor allem durch den Umgang mit den sogenannten Entnazifizierungen und den nötigen Papieren dafür, Grundsteine dafür gelegt, wie sich die BRD bis heute entwickelt hat. Und genau diese Schweigekultur, die alles verdrängt, Täter:innen unbehelligt lies, hat eine Menge mit unserem hier und jetzt zu tun.


    Es hat Gründe, weshalb viele Autor:Innen sich Scheuen die Wahrheit aufs Korn zu nehmen. Die Wahrheit ist unbequem und hat nicht viel mit einem Land zu tun, das sich so viel auf seine sogenannte "Erinnerungskultur" einbildet.

    Carolin Otto scheut sich nicht, offen zu legen, wie dieses Schweigen und Wegschauen funktionieren konnte. Und warum alle so bereitwillig mit gemacht haben. Gleichzeitig, schafft sie es, das nicht alles schwarz und weiß bleibt. Menschen haben viele Fassetten. Motive sind oft vielschichtig, nicht alle davon böswillig, andere davon aber durchaus berechnend.


    Ein sehr vielschichtiger Roman, bei dem ich tatsächlich erst jetzt im Nachhinein wirklich merke, wie gut ich ihn eigentlich fand.

    Wer auf der Suche nach der Frage ist, wie Menschen weiter machen konnten, nach allem was im Holocaust passiert ist. Nach allem, was wir als Deutsche zugelassen haben. Akzeptiert haben, hingenommen haben weil wir davon profitiert haben - Teilweise ja noch bis in die heutige Zeit hinein, wenn man sich das Vermögen einiger großer bekannter deutscher Firmen ansieht... Wen diese Fragen umtreiben, der kann hier einige Denkanstöße finden. Außerdem hat die Autorin auch ein kleines Literaturverzeichnis beigefügt, das einen bei weiterer Recherche unterstützen kann.

    Kein Bequemes, gefälliges Buch mit einfachen Antworten auf komplexe Fragen. Dafür ein umso wichtigeres, das zum Nachdenken anregt - auch über die eigene Familienvergangenheit. Was vielleicht nicht jedem passen mag.


    5ratten