Orhan Pamuk - Das neue Leben

Es gibt 34 Antworten in diesem Thema, welches 14.356 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von mombour.

  • PessoA: Die wichtige Rolle des Sufismus hast du sehr schön dargelegt.


    Das andere, worauf sich mein Blick richtet, ist die moderne Türkei:




    Ich spüre den Schalk des Autoren hinter diesen Zeilen.


    In Güdül werden Osman und Canan als Störenfriede bezeichnet. Man befürchtet, sie könnten die Grundfesten des Staates und des Islams erschüttern, weil sie ein neues Leben verkünden wollen, dabei geht es ihnen nicht darum, das moderne Türkentum zu erschüttern. Deshalb weicht Osman der Frage, ob er an Allah glaube, geschickt aus. Denn darum geht es nicht.


    Pamuk treibt ein Spiel mit dem Leser, wenn er Osman das Gefühl gibt,


    Zitat

    es sei irreal, was ich erlebe, auch die kleine Stadt Güdül, die ich vom Fenster aus sah...


    So gibt es viele Wahrheiten in dem Roman, viele unterschiedliche Lesarten.


    Liebe Grüße
    mombour

    Einmal editiert, zuletzt von mombour ()

  • Hallo,


    ich melde mich auch mal wieder. Ich stecke grade im 5. Kapitel und bin leider noch nicht so weit wie ihr. Ihr habt ein paar interessante und schöne Ansätze und Erklärungen zu dem Buch, alle habe ich jedoch noch nicht gelesen, da ich mir erstmal meine eigenen Gedanken dazu machen möchte :zwinker:


    Ich bin irgendwie davon überzeugt, dass es sich bei dem Buch um ein religiöses Werk handelt( ich denke damit stehe ich nicht alleine und die Überlegung hatten schon viele) und da Canan übersetzt sowohl Geliebte als auch Allah, bzw Gott bedeutet, macht das in meinen Augen Sinn. Nach dem Lesen des Buches ist Osman verzweifelt auf der Suche nach Canan/ Allah/ Gott. Und das neue Leben, da bin ich mir noch nicht so im Klaren drüber, vieles spricht dafür, dass der Tod damit gemeint ist, aber es könnte auch für etwas Anderes stehen.


    Pamuk schreibt sehr fesselnd und schon nach wenigen Sätzen ist man inmitten des Geschehens, das gefällt mir total gut. Ich werde nun mal weiterlesen und bin gespannt, wie sich das alles auflöst. Bis nachher :winken:

    smiley-channel.de_lesen020.gif:<br />Zeruya Shalev- Mann und Frau

  • Hallo,


    ich hoffe, wir sind nicht all zu schnell. :breitgrins:



    Ja mombour, den Schalk spüre ich auch. :D


    Wo hier Canan und Osman nach Güdül kommen, da schwingt mir ein bisschen türkische Tradition entgegen. Männer und Frauen werden getrennt, die Frauen sitzen auf der einen Seite zusammen, die Männer trinken auf der anderen... Raki (das Gesöff, das sich scheinbar in aller Welt als kleine alkoholische Anregung eingeschlichen hat, der Ouzo in Griechenland, der Pernod in Frankreich... usw.)
    Auch hat diese ganze Zusammenkunft der "Buchleser" jetzt etwas von einer politischen Versammlung, wie ich finde.
    Hier baut Pamuk wohl die nächste Kritik langsam auf.


    Schön fand ich bestimmte Sätze der verschiedenen Menschen:

    Zitat

    Mit jedem Atemzug werden wir etwas weniger. Und sie sagten: Wir holen die Dinge hervor, die wir begraben haben.


    Oder der zahnlose Greis, der - wie schade, nicht trinken konnte:

    Zitat

    Er sagt zu uns, fürchtet euch nicht, dann werdet ihr nicht verletzt sein.


    Es heißt ja, dass man das anzieht, wovor man sich fürchtet, wenn man sich aber nicht fürchtet, dann ergreift diese Angst keine Macht, zieht das Befürchtete nicht an und man wird nicht "verletzt".


    Lachen musste ich hier:

    Zitat

    Dem Freund, der ein Spiel Karten aus der Tasche zog, voll Stolz den "Scheich", den er anstelle des Königs, und den "Knecht", den er anstelle des Buben gezeichnet hatte, vorzeigte (... ), gab ich so nachdrücklich recht, dass wir beide staunten (... )


    Da sehe ich Osman direkt vor mir, wie er schwankend von allem Raki und irgendwie euphorisch allem und jedem zustimmt, ohne genau zu hören, was gesagt wird.


    Auch erneut erwähnt, das hier:

    Zitat

    Die Zeit ist ein Unfall, wir sind hier als Ergebnis eines Unfalls. Auf der Welt sein, das ist genauso.


    Wenn man wieder in den Sufismus eintaucht, hört man hier die Klage des modernen Menschen heraus, der sein Ego über alles stellt, der blind läuft und nach allem giert. Darum ist er Unfall, und seine Zeit ist ebenso ein Unfall.


    Und zu guter Letzt dann Osman:

    Zitat

    Wenn das Leben eine Reise ist, so bin ich seit sechs Monaten auf der Reise und habe etwas gelernt (... ) Mir war meine ganze Welt verlorengegangen, weil ich ein Buch gelesen hatte, und ich bin auf Reisen gegangen, um die neue zu finden.


    Liebe Grüße
    PessoA

  • Hallo,


    ich mache mal etwas weiter. Ich hoffe es ist recht so :smile:


    In Kapitel acht fällt die Bemerkung


    Zitat

    ...denk doch mal an die verborgene Logik, die als Zufall auftrat


    Da schluddere ich wieder in Gedanken. Was ist der Zufall, dem Paul Auster in seinen Romanen immer wieder auf der Spur ist. Wenn eine Logik dahinter steht, können wir Menschen niemals erkennen. Ein Elektron verschwindet und taucht dann irgendwo wieder auf. Wir sehen nur die Auswirkungen, nicht das (ein Logik?), was dahinter steht. Und diese Logik führt Cana und Osman in Mehmets Zimmer, der Logik oder der Zufall bringt sie immer ein Stück näher zu Mehmet.


    Mir ist aufgefallen (weil, ich schon weiter gelesen habe), dass im Roman öfters auf Kinder - oder Bildergeschichten zurückgekommen wird, (und auch auf Uhren; die Zeit). Die Kindergeschichte von Marie und Ali führt zu wertvollen geistigen Erkenntnissen (Seite 143/144). Der Autor und Zeichner ist Rifki, Osmans Onkel, der schon zu Beginn des Romans erwähnt wurde. Hier laufen jetzt irgendwelche Fäden zusammen.


    Auf jedenfall wird Osman mit seiner Kindheit konfrontiert.


    Liebe Grüße
    mombour

  • Hallo mombour,


    ja, Osman wird nun mit seiner Kindheit und dem Bildband seines Onkels konfrontiert, von dem wir ja später dann auch erfahren,


    Schon vorher fand ich die Szene gut, als Osman von diesen zwei zwielichtigen Typen in das Gasthaus geführt wird, um von ihnen dann durch den Rausch von Dr. Narin zu erfahren, der ja


    Dabei dann das Vertrauen zu ihnen, das sich nur daraus ergibt, dass sie den Augenblick genießen, der sich "zwischen der siegreichen Vergangenheit und der schrecklich elenden Zukunft" befindet und als Frieden ins Herz schleicht.
    In diesem Rausch stellt Osman so schön fest:

    Zitat

    Hier war das Leben, es war weder dort noch an irgendeinem anderen Ort, weder im Paradies noch in der Hölle.


    So viele Menschen laufen, um nach einer möglichen Zukunft zu greifen, oder klammern sich an Altbewährtes, hoffen auf ein Paradies, ein Leben danach und vergessen, das jetzige zu leben. Selbst in so einer Kneipe, wo der "betrunkene Lastwagenfahrer" neben dem "Nähmaschinenvertreter" sitzt und trinkt, zeigt sich das Leben. Ein modernes, dreckiges Leben, wie es viele als normal erachten.


    Aber wieder vorgespult zu Dr. Narin in seiner malerischen Landschaft, alles wirkt wie ein Phantasieland, eine ewige Weite, bei der das Auftauchen Shakespearer Sommernachtsgestalten nicht überraschend wäre.
    Narin war mir zuerst sympathisch, solange er erklärt:


    Zitat

    … die Dinge hätten ein Gedächtnis. Im Grunde genommen besäßen Gegenstände genau wie wir die Eigenschaft, ihre Erfahrungen, ihre Erinnerungen aufzuzeichnen, zu bewahren, doch die meisten von uns seien sich dessen nicht bewusst. „Dinge befragen sich gegenseitig, verständigen sich, flüstern miteinander und sorgen für eine heimliche Harmonie untereinander, sie rufen jene Musik ins Dasein, die wir die Welt nennen“…


    ... was mir in seinem Ursprung gefällt, nur hinterher stellt sich dann heraus, dass Dr. Narin ganz andere Absichten verfolgt, ja


    Zuvor hat ja der geheimnisvolle Fremde, der Osman noch vor aller Auseinandersetzung mit der "Zusammenkunft" und dem "Fernsehfilm-Anschlag" bereits geraunt:

    Zitat

    Kulturen entstehen, Kulturen vergehen. Glaube an ihre Entstehung, wenn sie entsteht, doch greif zur Waffe wie der kleine posauneblasende Spielverderber, wenn sie zusammenbricht! Wie viele von ihnen wirst du töten, wenn sich ein ganzes Volk zu einer anderen Identität bekennt?


    Schön fand ich solche Vorwürfe:

    Zitat

    Genauso wie die COCA-COLA Trinker, die davon verrückt wurden, es aber nicht merkten, weil alle davon tranken und verrückt wurden.


    Ein Kern Wahrheit steckt vielleicht drin? :breitgrins:


    Auch, als Narin hier erwähnt:


    ... war ich noch angetan, denn eigentlich birgt das Buch schon eine gewisse Verbitterung bei denen, die es lesen, führt sie aus einem "blinden" Leben ohne Argwohn in ein Leben der Suche, des "anderen Blicks".


    Das Buch von Pamuk wird immer spannender, und vieles ergibt einen neuen Sinn, andere Deutungen mystischer Art erhalten auf einmal Klarheit. Nicht ein Wechsel an Mensch, denn


    Das erklärt natürlich einiges.
    Und, wir erfahren noch mehr. Osman stellt erstaunt fest:


    Da bricht das ganze Gerüst des Schicksals, des Zufalls zusammen, und das Buch verliert in meinen Augen ein bisschen des mystischen Lichts, diesen völligen Wandel. Es wirkt dabei auf viele Menschen unterschiedlich, so manch einer hat seine Illusion und seinen Glauben verloren und findet im Buch einen Frieden, mit dem er leben kann.
    Aber Osman


    So, jetzt habe ich mal ein bisschen zusammengefasst. Ich hoffe, ich bin nicht zu schnell.
    :zunge:


    Liebe Grüße
    PessoA

    Einmal editiert, zuletzt von PessoA ()

  • Hallo PessoA,


    gerade das sind die Kapitel, die ich als sehr spannend empfunden habe, und ich meine, Pamuk zeigt einige Bezüge zur heutigen Türkei auf.


    . Es liefen erst kürzlich Nachrichten um die Welt, es ging um die Wahl des Ministerpräsidenten, dass es in der Türkei Kräfte gibt, die den Staat islamisieren wollen und die Kemalisten, so kann man bei Wikipedia nachlesen, heißt es, sie streben keinen EU-Beitritt an. Das sage ich nur, weil Narin Bücher aus dem Westen verteufelt.


    Selbst Osman sieht sich als Opfer von Verführungen, darum kommt er nicht zur Ruhe.



    Ich finde es großartig, und es gibt einige Hinweise dafür, dass der Roman Elemente der gothic-novel umsetzt. Der Begriff kommt ja aus der Romantik, und Pamuk bezieht sich u.a. auch darauf. So lesen wir auf Seite 213


    Es gibt natürlich noch mehrere Beisipiel, die hier aufgeführt werden könnten.


    Ich habe gemerkt, den Text muss man ganz genau lesen, und so las ich gestern noch mal ältere Kapitel; und tatsächlich, da entdeckte ich wieder was neues, was ich überlesen hatte. Will sagen, der Roman verdient gute Aufmerksamkeit, manchmal sind es verschiedene Puzzles, die sich zusammensetzen oder man phantasiert als Leser und entwickelt verschiedene Interpretationsmöglichkeiten. Vielleicht auch die Absicht des Autors, den Leser erstmal auf falsche Fährten zu locken, und dann entwickelt sich doch alles anders. Auch in dieser Hinsicht ein sehr geistvoller Roman.


    Wie geht es denn den anderen Lesern damit? :winken:

    Liebe Grüße
    ins Buch stürzend
    mombour

    Einmal editiert, zuletzt von mombour ()

  • Ja, die Meinung der anderen Leser würde mich auch interessieren.


    Aber, was ich noch sagen wollte. Genau das ist es, was du sagst, mombour, ich erlebe mich hier in allen möglichen Interpretationen, Überlegungen, Widerrufen, Verwirrungen, Mußmaßungen, Spekulationen, Phantasien, Deutungen und Hinterfragungen.
    Pamuk schafft es ganz herrlich seine Leser auf falsche Spuren zu locken, ohne sich selbst dabei zu widersprechen. Das ganze Buch birgt eine ganz unfassbare Weite, einen großen Deutungsrahmen, wobei man aber auch wieder dorthin zurückfindet, wohin Pamuk den Leser führen möchte.


    Liebe Grüße
    PessoA

  • Hallo,


    Osmans innere Unruhe und die rastlose Reise,

    kommt mir vor wie eine innere Fahrt, durch die Welt der Psyche, eine Welt, die gespentisch anmutet:


    Zitat

    ..machte sich eines der rührigen Gespenster wiegenden Schrittes an mich heran...


    oder

    Zitat

    ...einer dunstigen Kleinstadt , kaum mehr als ein Dorf und mehr der Phantasie als der Wirklichkeit...


    Ein wenig denke ich an den Steppenwolf, es schlagen nicht nur zwei (Goethe) sondern 1000 Seelen in der Brust. Aus diesen verschiedenen Anteilen der Seele, muss Osman sich diesen Anteil herausschälen, die den Frieden in dem Buch gefunden hat. Und so irrt er wieder in Omnibussen umher. Es gibt übrigens wirklich einen direkten Bezug zu Goethe auf Seite 212:


    :breitgrins:


    Liebe Grüße
    mombour

    Einmal editiert, zuletzt von mombour ()

  • Hallo.


    An dieser Stelle habe ich auch wieder ein bisschen Pamuk'sche Kritik herausgehört:

    Zitat

    Gemächlich und vornehm tranken sie Raki, und in der Gewissheit, die Republik der mit dem Trinken beschäftigten Wirtshausmenge anvertraut zu haben, lächelte Atatürk zwischen den Eisenbahnbildern, Landschaften und Künstlerporträts an den Wänden aus seiner gerahmten Fotografie auf sie alle herab.


    Der Mann, der hier in der Türkei die "westlichen Einflüsse" geltend gemacht hat, lächelt über den Einbruch dieser "Normalität". Erinnert ein bisschen an die Indianer, die auf einmal die Bekanntschaft mit dem "Feuerwasser" gemacht haben.
    Was mich verwirrt:
    Der traditionelle Mensch wird hier als "Natur - liebend" dargestellt, der die "Dinge" achtet, während er vor Mord nicht zurückschreckt, um seine Werte zu verteidigen. Trotzdem steht dem allen gegenüber der moderne Mensch, der durch Atatürk beeinflusste Freiheiten wahrnimmt, der aber dadurch auf erschreckende Art und Weise verkommt, sich von den Medien beeinflussen lässt und gleichzeitig dem Kapitalismus als "normal" erachtet.
    Hier legt Pamuk sich in keiner Weise fest.
    Aber, so gesehen, gibt es ja auch kein richtiges "Gut" oder "Böse", ein nur "Richtiges" und nur "Falsches". Mir haben die Eindrücke Dr. Narins von Welt und Natur sehr gefallen, natürlich nicht der Mensch,


    Im Gedanken an Atatürk, der ja in Thessaloniki (von den Türken Saloniki genannt) geboren ist, muss ich direkt an den "Weißen Turm" denken, den ich unzählige Male in Thessaloniki besucht und bewundert habe. Als Thessaloniki unter osmanischer Herrschaft stand, wurde hier auf recht grausame Art den Griechen von den Osmanen präsentiert, was sie erwartete, wenn sie sich auflehnten. Um die Zinnen hangen abgeschlagene Köpfe von Griechen, die sich widersetzt hatten. Am weißen Turm rannen dann die Spuren des Blutes herab, was gerade durch die Farbe des Turms in seiner "Unschuld" einen grausigen Eindruck vermittelte.
    Heute ist das freilich nicht mehr zu sehen, aber der Schauer dieser Gewaltherrschaft steckt noch irgendwie im Gemäuer.


    In der Unterhaltung zwischen Mehmet und Osman kommen schließlich die Bonbons "Neues Leben" ins Spiel, die, wie ich verstanden habe, einerseits Sinnbild für Kindheitserinnerung, alter Traditionen sind und auch ebenso für die Suche nach dem Ursprung der Dinge stehen.
    Pamuk wählt ja seine Werbenamen recht geschickt.
    Hotels mit den Namen "Welt" oder "Frohsinn" oder Restaurants mit dem Namen "Guter Geschmack".
    Hier zeigt sich eine recht oberflächliche Beeinflussung, als müsse ein Name ausreichen, um zu zeigen, dass es hier ein gutes Hotel ist. Ebenso das Hotel "Sicherheit", in dem Osman über seine

    Ironie!


    Dadurch, dass Osman immer mal wieder auf diese Bonbons "Neues Leben" stößt, ergibt sich zum Beispiel eine dieser Fragen:


    ..., die er Mehmet stellt, und der diese sicherlich nicht beantworten kann. Doch trotzdem ist Osman auf der Suche nach genau diesem Ursprung, während Mehmet


    Diesen Satz von Mehmet fand ich so schön, denn das gilt wohl für alle guten Schreiberlinge und Künstler:

    Zitat

    Da ich kein einziges Wort ohne Gefühl schreiben möchte, ohne dessen Kraft zu spüren, warte ich geduldig auf die Inspiration.


    Schließlich sagt Mehmet zu Osman:


    ..., denn man kann nichts zurückdrehen oder ein völlig neues Leben beginnen. Man kann das "Ding an sich" nicht erfassen, nur ahnen, man sieht nur das, was man sehen möchte. Darum wirkt das Buch auch so unterschiedlich auf die Menschen, weil sie eben alle unterschiedlich leben und denken. Osman verzweifelt


    Liebe Grüße
    PessoA

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  • Hallo PessoA,


    zu deinem Ausflug nach Thessaloniki,


    mombour war im Kloster Arkadi auf Kreta, dort war am 09. 1. 1866 die letzte Schlacht der Griechen gegen die Türken. Eine Waffenkammer explodierte und viele Unschuldige kamen ums Leben. Dort stand, als ich erstmals dort war, ein verkohlter Olivenbaum. Als ich ein zweites mal dort war, waren die Äste schon abgefallen, nur der Baumstamm stand einsam dort.


    Der Spiegel als Symbol der Seele, in die man hinneinschaut. In E. Th. Hoffmanns Erzählung „Die Geschichte vom verlorenen Spiegelbild“ aus der Sammlung "Phantasiestücke in Callots Manier" verkauft Erasmus Spikher das Spiegelbild Giulettas, die mit dem Teufel im Bunde steht.


    Zitat

    Ich ....betrachtete mich in dem zersprungenen Spiegel...


    In Osmans Seele ist ein Loch, heißt es irgendwo. Solange dieses Loch nicht geschlossen wird, solange ist der Mensch auf der Suche (oder sollte man sich bescheiden in den Sessel setzen und dankbar hinnehmen, wie es ist?)


    Zitat

    Er hatte verstanden, was das Leben bedeutete. Aber er konnte diese Bedeutung nicht erklären.


    Nicht so bei Osman: Ihm entschwindet Canan, seine Seele zersprungen, er wird sein ganzes Leben lang getrieben. Die Suche verliert sich irgendwo in seiner Kindheit. Man denke an die Psychoanalyse, die verschüttete Seelenbereiche aufdecken will. Man könnte sich sogar, so hat mir eine Psychologin erzählt, sich an seine Geburt erinnern. Aber hilft das weiter?


    Den Ursprung der Dingen nachzujagen, wird nie zu einem Ergebnis führen. Mir scheint hier eine Besessenheit vorzuliegen, die Osman durch das Leben treibt.



    In dem Roman kommt die romantische Idee der belebten Dinge zu Tage. Im Ofterdingen heißt es:


    Zitat

    Ich hörte einst von alten Zeiten reden; wie da die Tiere und Bäume und Felsen mit den Menschen gesprochen hätten. Mir ist gerade so, als wollten sie augenblicklich anfangen, und als könnte ich ihnen ansehen, was sie mir sagen wollten (Novalis).


    Im Roman:

    Zitat

    Also schienen auch die Dinge eine Sprache zu besitzen, und dank der vorübergehenden Lautlosigkeit, in die mich das Buch hineingezogen hatte, begann ich jetzt, diese Sprache zumindest ein wenig zu verstehen.


    (der Zitatenvergleich steht auf der wikipedia-Seite zu unserem Roman).


    Die Frage nach den letzten Dingen, nach der Bedeutung und den Sinn des mystischen Buches, die Frage nach dem neuen Leben, darauf kann unser Roman natürlich keine Antwort finden, deswegen zieht Orhan Pamuk, und darin liegt u.a. auch die Bedeutung des Romans, den Leser selber in sein Verwirrspiel mit ein. Der Roman besticht durch die vielen Deutungsmöglichkeiten, trotzdem denke ich, dass wir diese Diskussion sehr schön bewältigt haben. Die Spannung hielt mich bis zum Schluß.


    Und was bleibt? Ein Glas Raki mit Auberginenpaste und Fladen, in der Hand den Novalis, den Gespensterhoffmann....ein Sufibüchlein und die Hoffnung auf ein neues Leben. :zwinker:


    Liebe Grüße
    mombour

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  • Hallo mombour,


    ja, es war ein ganz großartiges Buch und eine wunderbare Unterhaltung mit dir, und als ich es gestern zuschlug, wollte ich es gar nicht zur Seite legen, habe hier und da noch einmal gelesen.
    Mir kam es ein bisschen vor, als wäre ich durch alle Seiten g e i r r l i c h t e r t, als wäre das Lesen wie ein Theaterstück, bei dem das Publikum mit einbezogen wird.


    Für mich fügt sich am Ende alles ein bisschen zusammen. Hier ist Osman, der durch das Buch auf die Suche geht und, wie sollte es auch anders sein, letztendlich auf sich selbst trifft.


    "Ich werde deine Geschichte schreiben..." hat Onkel Rifki gesagt und somit die Spuren für den Vergesslichen gelegt, der ganz langsam wieder dorthin zurückkehrt, um sich seiner selbst BEWUSST zu werden.


    Dante und Ofterdingen, Jules Vernes und Rilke, "Beatrice" und "Die blaue Blume", alles findet man im Pamuk Text.


    Wenn der Sinn des Lebens die Suche nach dem Sinn des Lebens ist, dann muss, sobald der Sinn begriffen ist, etwas enden.
    Und wo Osman endlich losgelassen hat, sein Leben als das akzeptiert hat, was es ist, mit all seinen kleinen Freuden, hat er das "Gesamte" verstanden:
    Was ist Zeit? Ein Unfall! Was ist Leben? Eine Zeit! Was ist der Unfall? Ein Leben, ein neues Leben!



    Zurück bleibt ein Lächeln, neue Eindrücke über "fremde Länder", keine Melodie :breitgrins:, sondern das Zitat von Dante:

    Zitat

    Ich habe meinen Fuß auf jenen Lebensabschnitt gesetzt, von dem es keine Rückkehr mehr gibt!


    Denn jeden Schritt, den wir tun, führt uns letztendlich in diese Richtung.


    Wer beim Lesen denken und phantasieren, das Buch fast selbst schreiben, es für sich interpretieren, neu entwerfen, wieder verwerfen, anders zusammensetzen, umwälzen, erfahren, durchforschen, sich irritieren lassen, wer sein eigenes Denken und Mutmaßen auf die Probe stellen und Bedeutungen durch alle Überlegung am Ende als selbst erschaffen betrachten möchte, dem empfehle ich von ganzem Herzen "Das neue Leben".


    Liebe Grüße
    PessoA

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  • Hallo allerseits,


    :grmpf: , da gibt es mal einen sehr intensiven Austausch zu einem Leserundenbuch, und gerade da spielt mein Internetanschluss nicht mit. Eure Kommentare habe ich mit Interesse gelesen, hatte allerdings teilweise Probleme zu verstehen, auf welche Szenen im Buch ihr euch bezieht, da meine schwedische Übersetzung eine andere Seitenzahl hat.


    Ich bin noch am Lesen, habe vorhin das 12. Kapitel beendet. Ich werde versuchen, einige der Gedanken, die mir während des Lesens durch den Kopf gegangen sind, wiederzugeben.


    Meine hauptsächliche Reaktion über weite Strecken hin lässt sich am Besten so darstellen: :confused: . Lange war ich mir noch nicht einmal im Klaren darüber, ob ich das Buch überhaupt mag. Einerseits habe ich anfangs oft angenervt geseufzt, andererseits übte das Buch aber eine Faszination auf mich aus, die mich jeden Tag wieder zum Weiterlesen brachte.


    Meine Abneigung gegen das Buch beruht zu einem guten Teil auf der schwedischen Übersetzung, mit der ich nicht ganz zufrieden bin. Oder ob es an mangelnder Korrekturlesung liegt? An einigen Stellen kam es bei den teilweise recht langen Sätzen Pamuks mit der Grammatik nicht ganz hin. Auch nach mehrfachem Lesen musste ich leider manchmal feststellen, dass eine Konjunktion oder eine Präposition fehlte. Das mehrfache Lesen war erforderlich, da der Übersetzer mit Kommas sehr sparsam umgeht, nur hie und dort eins setzt und das dazu noch an manchmal verblüffenden Stellen. Nichts also, das die Lesbarkeit des Buches, das durch seine rätselhafte Handlung schon genug Fragen aufwirft, erhöhen würde. Dazu kommt eine mir zu weit gehende Beibehaltung türkischer Ausdrücke. So wird z. B. öfter ein "s" mit einem "Schwänzchen" unten (keine Ahnung, wo ich auf diesem Computer die Sonderzeichen finden kann) dort benutzt, wo in der normalen schwedischen Umschrift ein "sh" (bzw. in der deutschen ein "sch") steht, wie etwa in dem Wort Scheich/shejk oder Pascha/pasha. Störend und unnötig. (Für euch wohl nicht so interessant, aber mich würde ein Vergleich mit der deutschen Übersetzung interessieren.)


    Nicht dem Übersetzer anlasten kann ich aber die vielen Aufzählungen, die Pamuk in seinem Buch benutzt und die auf mich anfangs gewollt und aufgesetzt wirkten. Daran allerdings habe ich mich mittlerweile nicht nur gewöhnt, sondern ich finde das Stilmittel auch passend.


    Zum Inhalt:
    Ich kann nicht behaupten zu verstehen, worum es "eigentlich" geht. Was für ein Buch liest Osman* eigentlich? Anfangs, d.h. in den ersten beiden Kapiteln ging ich von einem politischen Buch aus, später kam auch mir der Gedanke, dass es sich um ein religiöses Werk irgendeiner Religion/Glaubensrichtung handeln könnte. Eure Hinweise auf Parallelen zum Sufismus klingen interessant, nur weiß ich leider darüber so gut wie nichts; viel zu wenig jedenfalls, um etwas dazu sagen zu können.
    Aber egal, um welche Art von Buch es sich handelt: auf jeden Fall ist es eines, dass seine Leser zu "Gläubigen" macht. Und dies ist etwas, worauf ich mit sehr großem Vorbehalt reagiere. Alle Alarmglocken läuten bei mir, wenn es um Gläubige irgendwelcher endgültigen Wahrheiten handelt. Der Schritt zum Fanatismus oder von einem Glaubenssystem zum nächsten ist oft nur klein. Gerade das 12. Kapitel, in dem Osman auf der Suche nach Mehmet ist,

    bestärkt mich in meiner Angst. Nicht nur Dr. Narin und seine "Vertreter mit den gebrochenen Herzen", die alle modernen "westlichen" Produkte ablehnen, sind zu Gewalttaten bereit. Auch Osman, auf der Suche nach dem "neuen Leben" begibt sich auf seltsame Wege. Ist er auf seiner Reise eigentlich den Grundsätzen der Traditionalisten immer näher gekommen, obwohl diese ja gegen das Buch arbeiten? Oder treffen sich die auf den ersten Blick gegensätzlichen Lebensanschauungen irgendwo doch? Da - zumindest mir - bisher nicht deutlich wurde, was in Osmans Buch eigentlich steht, ist es mir nicht möglich, darauf eine Antwort zu geben, aber mir schienen sich Osman und Dr. Narin zu gut zu verstehen, als dass ich von wirklich unterschiedlichen Grundsätzen ausgehen kann. Oder handelt Osman doch vor allem aus privaten Gründen (und gegen das Buch)?


    *Osman:
    ??? Wieso schreiben wir eigentlich alle, dass der Erzähler Osman heißt? Wenn ich nicht irgendetwas überlesen habe, wurde sein Name bis zum Ende des 12. Kapitels nicht erwähnt. Nur auf meinem Klappentext stand der Name. Oder täusche ich mch da? Falls ja, könnt ihr mir sagen, wo der Name fällt?
    Wie auch immer; jedenfalls erinnert mich der Name an das Osmanische Reich. Steht Osman also stellvertretend für die alle Türken, oder vielleicht für die Türken, die sich der Modernisierung widersetzen, die sich zurück in die "gute alte Zeit" sehnen? Ist Osman also tatsächlich ein Vertreter der Traditionalisten?


    So Leute, eigentlich hätte ich noch viel zu schreiben, aber mittlerweile bin ich zu müde, meine eh' schon verwirrten Gedanken einigermaßen verständlich auszudrücken. Hoffentlich könnt ihr zumindest in etwa nachvollziehen, was ich meine. Mehr von mir gibt's, wenn mein Internetanschluss wieder funktioniert.


    Ach ja, noch eins: dieses Buch ist definitiv eins, das man (ich) mehrmals lesen muss, um es nur einigermaßen verstehen zu können. Ich bin jedenfalls versucht, es noch einmal ganz von vorne zu beginnen.

    Wir sind irre, also lesen wir!

  • Hallo Saltanah,


    das ist ja schön, dass du dich meldest.
    Dass deine Übersetzung so miserabel ist, liegt auf jeden Fall an der Ausgabe, denn in meinem Buch hatte ich keine Probleme, weder mit der Kommasetzung noch der Sprache Pamuks.
    Ich habe aber die Erfahrung gemacht, dass eine schlechte Übersetzung einem sehr viel vom Lesespaß nehmen kann. Das erlebte ich mal bei einer schlechten und einer ganz wunderbaren Übersetzung von Dostojewskijs "Schuld und Sühne".


    Der Inhalt des Buches zeigt sich erst am Ende des Buches. Dann erfährst du, was darin steht, wer es geschrieben hat, usw.
    Der Name Osman fällt schon früher, so weit ich mich erinnere, muss aber noch einmal nachsehen. Ich glaube, der Name ist ein ganz normaler in der Türkei, so erscheint mir die Verbindung zum Osmanischen Reich eher sehr einfallsreich von dir.
    Das Buch verändert die Menschen, und zwar alle unterschiedlich. Osman reagiert hier am verwirrtesten (weil er eine etwas andere Beziehung zum Buch hat, wie sich nachher herausstellt), er verliert sein ganzes Selbst, aber nicht nur wegen dem Buch, auch wegen der Liebe zu Canan.


    Um das fanatische Verteidigen alter Traditionen und den ebenso trügerischen Einbruch an Modernität geht es Pamuk ja gerade. Hier werden beide Seiten dargestellt, wie sie sind. Die Traditionen werden mit Blut und Mord verteidigt, die modernen Einflüsse senken sich über die Menschen und erschaffen eine neue Welt des Stumpfsinns, der Abhängigkeit, der Manipulation. Auch die Eisenbahn-Liebe des Onkel Rifki steht für das Vertreten der modernen Einflüsse.
    Dass Osman und Dr. Narin sich so gut verstehen, liegt darin, dass Osman unter Narins Bann steht. Er lässt sich eine Waffe schenken und macht sich auf die Suche nach Mehmet. Diese Waffe ist auch Symbol seiner blinden Hörigkeit. (Das merkt man auch, bis zum Schluss!)
    Das Buch selbst steht nicht für die modernen, westlichen Einflüsse, gegen die Dr. Narin kämpft. Es hat seinen ganz eigenen "intimen" Inhalt. Die westlichen Einflüsse verbreiten sich durch Atatürk und seine ehemalige Politik. Dr. Narin ist Vertreter der alten Tradition und entfacht eine Gegenbewegung, die im Endeffekt sinnlos ist. Das wäre so, als würden wir paar Leser uns gegen die Medien erheben. Die Entwicklung kann man nicht aufhalten.


    So, ich gucke nachher, wenn ich mehr Zeit habe, ob ich noch ein paar Fragen beantworten kann.
    Liebe Grüße
    PessoA

    Einmal editiert, zuletzt von PessoA ()

  • Hallo ihr Lieben,


    Das ist ja ärgerlich Saltanah, das würde mich auch sehr stören :knuddel:



    auch ich melde mich mal wieder. Ich weiß nicht woran es liegt, aber ich komme in dem Buch nur sehr schleichend voran, stecke im 8. Kapitel fest und stelle tausende von Spekulationen und Thesen auf, die ich aber ein paar Seiten später sofort wieder revidiere. Mit dem Inhalt tue ich mich also ein bisschen schwer, ich hoffe, dass sich bald alles aufklärt. Aber ihr habt ja angesprochen, dass man gegen Ende des Buches seine Antworten findet. Ich bin gespannt.
    Ansonsten bin ich eher fasziniert von dem Buch, selten habe ich ein Buch gelesen, wo ich mir so viele eigenständige Gedanken machen musste, die selten bestätigt werden. Teilweise hätte ich aber auch Lust das Buch einfach mal wegzulegen, aber irgendwie geht es nicht, genau wie bei Osman :zwinker: Ja, Pamuk versteht es einfach, seine Leser an seine Werke zu binden.
    Ich hoffe heute schaffe ich ein paar Kapitel!


    Liebe Grüsse
    booki

    smiley-channel.de_lesen020.gif:<br />Zeruya Shalev- Mann und Frau

  • Hallo Saltanah,



    ausgehend von meiner Lektüre zum Roman "Das schwarze Buch" kam ich auf den Gedanken, "Das neue Leben" könne etwas mit dem Sufismus zu tun haben. Tatsache ist, über Sufismus weiß ich nur das, was auf der betreffenden wikipedia-site steht, zuzüglich das, was Pamuk im schwarzen Buch darüber schreibt. Zwischen den beiden Romanen gibt es durchaus Zusammenhänge. Darin wird von einer schiitischen Hurufi-Sekte gesprochen, die hinter den Buchstaben des Korans noch eine Doppeldeutigkeit suchten. Das erinnert mich an Narin, der sie Seele in den Dingen sucht (bzw. glaubt, gefunden zu haben).


    Hallo booki,


    mir ging es so wie dir. Thesen aufstellen, dann werden sie wieder umgeworfen. Gerade das, hat mich u.a. fasziniert. :smile:


    Liebe Grüße
    mombour