Beiträge von finsbury

    Vor kurzem habe ich diesen Roman auch gelesen und kann den meisten Ausführungen hier nur zustimmen, vorallem, was von @Holden Caulfield, @b.a.t und anderen zur Schweige"kultur" nach 1945 geschrieben wurde und was wir alle, sofern wir aus Deutschland und Österreich stammen und älter als ca. 50 Jahre sind, in unseren Familien erlebt haben.
    Ich finde es gut, dass Menasse genau das zum Thema ihres Romans gemacht hat, was ihr von den Kritikern ja nicht nur Pluspunkte eingebracht hat.

    Paul Jandl von der Neuen Züricher Zeitung kritisiert z.B. laut Perlentaucher:

    Zitat


    Was dem Roman allerdings fehlt, ist der Wille zur Aufklärung, überhaupt der kritische Blick, den es braucht, damit der Leser hier nicht mit einem "entlastungshumorigen Kuriositätenkabinett" allein gelassen wird, schließt er.

    Ich glaube, dass Jandl und auch andere Kritiker die Intention des Romans überhaupt nicht verstanden haben und auch die Dimension, die Menasse ihrer Sprache zu verleihen versteht, in der hinter der Ironie immer sofort der Verweis auf die Ungeheuerlichkeit des Geschehenen steckt, nicht wahrnehmen. Hier geht es ja gerade darum, warum nicht aufgeklärt wurde und leider immer noch nicht wird und nicht darum, dass Dinge auf den Tisch kommen. DasVerbrechen von Rechnitz ist ja im Wesentlichen bekannt, auch wenn das Grab noch nicht gefunden wurde, aber das Verschweigen ist doch das, was die Aufarbeitung dieser Zeit mit ihren Verbrechen immer so schwierig macht und daher ist es wichtig, dass gerade dieses Schweigen und seine Hintergründe thematisiert werden.

    Ich finde auch, dass Flockes Umgang mit der Situation und auch das Verhalten des jungen Lowetz in diesen Zusammenhang passen: entweder naiver Aktionismus oder so eine gewisse ahnungsgelähmte Indolenz, wie sie Lowetz lange zeigt.

    Mich hat das Buch auch ganz schön gebeutelt: eine wichtiger Beitrag in der Aufarbeitungsliteratur und eine besonders sprachgewaltiger ist Eva Menasse hier gelungen.

    Dieser Roman ist in diesem Jahr erschienen und steht auf der Longlist des diesjährigen österreichischen Buchpreises.


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    Inhalt:

    Charly Benz ist 43 und arbeitet in Berlin im Marketing für eine Lebensmittelpoduzentin, die vegane Convenience- Produkte wie Müsliriegel und TK-Fertiggerichte herstellt.
    Charly findet sich selbst wenig attraktiv und ist selbstbestimmter Single, um nicht irgendwelche zugelaufenen Männer durchfüttern zu müssen. Sie hat eine Postöffnungsphobie und ist daher Premiumabbonentin bei dem 20 Jahre älteren Herrn Schabowski, der berufsmäßig die Post für jene von solcher Angst Betroffenen öffnet. Beide sitzen oft zusammen und genießen ihre Gespräche bei starkem Kaffee, Süßigkeiten (vgl. Titel) und starken Mohawk-Zigaretten.
    Bei einer von ihrer esoterisch orientierten Schwester geschenkten sogenannten systemischen Familienaufstellung trifft sie ihre Jugendliebe Dragaschnig; Gleichzeitig beginnt sie eine Affaire mit einem Kulturjournalisten und ihrem Nachbarn, nachdem sie viele Jahre lang der Enthaltsamkeit gefrönt hatte. Als Resultat ist sie schwanger, was sie von dem Arzt erfährt, der Schabowski nach zahlreichen Untersuchungen, zu denen sie ihn immer begleitet hat, eröffnet, er habe Lungenkrebs mit Metastasen und nur noch zwei Monate zu leben.

    Wie Charly und Schabowski mit diesen beiden Herausforderungen umgehen und welchen Einfluss Charlys schräge Familie auf sie ausübt, nimmt den Hauptteil des Buches ein, das in einem leerstehenden Hotel in Bad Gastein endet.

    Meine Meinung:

    Obwohl der Inhalt auch traurige und melancholische Aspekte hat, habe ich bei einer Lektüre lange nicht mehr so gelacht. Charly ist ein Redegenie, ihren Geschichten hört man immer gerne zu. Sie führt uns mit ihren eigenen Unzulänglichkeiten und ihrem liebevoll ironischen Blick auf andere Personen unsere eigenen Schwächen und Verrücktheiten vor Augen. Im Roman spielen Süßigkeiten, Playlists für die Musik der Siebziger bis Neunziger, Star Wars und andere bekannte Filme eine wichtige Rolle, so dass alle, die diese Jahrzehnte auch mit erlebt haben, sich hier gut aufgehoben fühlen. Für jene, die gerne lachen und das Komische auch in ernsten Dingen suchen, ist dieser Roman gut geeignet. Man geht dennoch ein bisschen weiser aus seiner Lektüre hervor.

    Auch von mir ein dreifaches Hurra!!!


    Ich freue mich sehr, Suse, dass du weitermachst und uns hier weiter eine Heimat gibst. Auch ich bin gerne zu einer Spende bereit. Die Hauptseite hatte mich seit Jahren nicht mehr interessiert, wenn du ihr jetzt einen neuen, persönlichen Anstrich gibst, finde ich das sehr gut. Wie schön, dass wir hier alle wieder zusammen schreiben! Einen ganz herzlichen Dank an dich und auch an dich, Katjaja, weil du uns so generös und arbeitsintensiv Unterschlupf gewährt hast.

    Auch ich lese die Hunter-Romane gerne, finde aber, dass dieser hiert im Vergleich zum vorherigen, de die großartig - düstere Marschenlandschaft der Themse-Mündung in Essex als Kulisse hatte, etwas abfällt. Und insgesamt ist mir der ganze Fall auch ein bisschen sehr an den Haaren herbeigezogen. Auch die Anzahl der Schlüsse kam mir eher vor wie in einer Beethovensinfonie: Wenn man denkt, man hat es endlich geschafft, wird noch eins draufgesetzt.
    Spannend war es dennoch.

    Gabriele Tergit: Effingers – ein grandioser Zeitroman



    Der fast neunhundertseitige Familienroman von Gabriele Tergit (d.i. Elise Hirschmann., verh. Reifenberg, 1894-1982) erschien zum ersten Mal nach langen Schwierigkeiten bei der Verlagssuche stark gekürzt 1951 und wurde zuletzt 2019 bei Schöffling & Co. in der ungekürzten Form wieder aufgelegt.


    Was für ein Roman!

    Die Autorin knüpft explizit an die „Buddenbrooks“ an, und sie braucht den Vergleich keineswegs zu scheuen. Ihr Thema ist die Geschichte zweier assimilierter jüdischer Kaufmannsfamilien zwischen 1878 und 1948. Die spannend erzählte und gleichzeitig sprachlich, motivisch und szenisch kunstvoll und sehr modern anmutende Geschichte um den jüdischen Beitrag zum deutschen Wirtschafts- und Kulturleben und seinen Untergang im Holocaust und dessen Vorbereitern beginnt bei einer Uhrmacherfamilie im fiktiven Kragsheim in Süddeutschland und führt uns mit einer der Hauptpersonen, dem jungen Paul Effinger, nach Berlin, denn in Kragsheim kann er seine unternehmerischen Pläne im konservativen Herzogtum nicht durchsetzen. Paul gründet mit seinem lebenslustigen Bruder Karl zunächst eine Schraubenfabrik, aus der später eine bekannte Autofabrik wird, wie sie der Vater der Autorin auch gegründet und aufgebaut hatte. Tergit baut sehr viele autobiografische Elemente aus ihrer und der Familie ihres Mannes ein, weshalb der Roman sehr authentisch wirkt. Die beiden Brüder heiraten in eine jüdische Bankiersfamilie, die Goldschmidt/Oppners ein, die den zweiten personalen Pfeiler des Romans stellen. Nun erleben wir mit den zahlreichen Mitgliedern dieser Familie (ein vorgesetzter Stammbaum erleichtert die Orientierung) die Gründerzeit, den Abstieg Bismarcks und die chauvinistische Regierungszeit Kaiser Wilhelms Zwo, die Jugendbewegung um die Jahrhundertwende, Jugendstil, Expressionismus, Frauenbewegung, den Ersten Weltkrieg, die schwierigen Jahre der Reparationszahlungen und der Inflation und schließlich das Aufkommen des Nationalsozialismus mit seinem später auch staatlich organisierten Antisemitismus bis hin zum Holocaust.


    Lotte Effinger, die Tochter Pauls kann in den Zehner Jahren studieren und wird dann eine erfolgreiche (Film)schauspielerin, an ihr wie an anderen weiblichen Romanpersonen wird das erstarkende Selbstbewusstsein der Frauen gezeigt, die doch immer wieder mit dem Chauvinismus des zunächst preußischen Militarismus, dann aber auch der zum Teil bereits ins Nationalpathetische überdriftenden Jugendbewegung konfrontiert werden.

    Schließlich erleben wir Leser die grausame Demontierung und Verdrehung aller Leistungen der deutschen Juden mit, und ein großer Teil des noch lebenden Romanpersonals wird schließlich deportiert. Doch gibt es auch Fluchten sowie den Staat Israel, dessen damaligen zionistischen Bestrebungen aber auch kritisch beleuchtet werden.


    Diese Kritik erfolgt aber nie auktorial und fast nie im Erzählerkommentar, sondern die Charakterisierung der Personen und ihrer Einstellungen zeigt sich überwiegend in den Dialogen und der detailreichen Schilderung ihrer Umgebung. So wird uns auch das Interieur und die Mode jener Zeiten nebenbei vor Augen geführt.


    Trotz des Umfangs und der hohen Komplexität wird einem hier auf keiner Seite langweilig und keine hätte weggekürzt werden dürfen. Ich kann diesem Roman und seiner Autorin nur wünschen, dass er endlich in unserem literarischen Bewusstssein ankommt und eine breite Rezeption erfährt. Uns entginge sonst nicht nur ein großartiges Stück deutscher Literatur, sondern auch ein sehr wichtiger Beitrag zur deutsch-jüdischen Geschichte.

    In letzter Zeit war ich nur noch selten hier, deshalb habe ich das hier gar nicht mitbekommen.
    Mir läuft da schon ein kalter Schauer über den Rücken: In diesem Forum habe ich überhaupt erst begonnen, das Internet für mehr als nur als Suchmaschine zu nutzen und bin seit 2004 dabei.
    Vielen Dank, Suse, für die jahrzehntelange Arbeit, die du wohl oft gegen deine eigenen Interessen gemacht hast.

    Ich hoffe sehr, dass es eine Lösung für den Herbst geben wird, denn viele der User*innen sind mir wichtig geworden mit ihrer Auffassung zu Büchern und zum Teil auch anderen Themen. Auch der Humor kommt hier nicht zu kurz. Und dein kämpferischer Einsatz für Gleichberechtigung und gegen jede Form von Diskriminierung, Nazismus und Umweltlügen, Suse, macht auch eine Menge an Charakter in diesem Forum aus und wird von einigen altbekannten User*innen ja auch mehr oder weniger geteilt.
    Natürlich interessieren mich, wie vermutlich die meisten von euch, 2/3 bis 3/4 der Themen nicht, aber das ist nun mal so bei einem so großen und vielfältigen Forum.

    Ich drücke uns allen sehr die Daumen, dass es weitergeht.

    Auch widmen sich die ersten 100 bis 200 Jahre vor allem einem Tag und schildern in aller Ausführlichkeit das jungfräuliche Leben der fünf Schwestern, aus deren Mitte die jüngste an diesem Tag, dem Verlobungsfest ihrer ältesten Schwester, durch einen schwarzen Ballon entführt wird hinein in ein von Geistern geprägtes Leben.

    Du meinst sicher "Seiten", oder?


    "Bellefleur" habe ich vor Jahren mal gelesen. Allerdings erst im zweiten Anlauf.

    Vielen Dank, yanni! Gefühlt waren es halt 100 bis 200 Lesejahre :breitgrins:. Hab's oben aber korrigiert!

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    Der Roman, der zweite in einer Reihe von fünf dem Gothic-Genre gewidmeten Romanen, beschäftigt sich mit dem Schicksal von fünf Schwestern, die von der Mutter her zu der fiktiven reichen US-Gründerfamilie Kiddemaster gehören. Ihr Vater ist ein genialer, aber erfolgloser Erfinder, John Quincy Zinn. DIe Handlung spielt von den 80er Jahren bis zum Silvesterabend 1899.


    Erzählt wird in dem knapp 900 Seiten dicken Roman die Emanzipationsgeschichten vierer der fünf Töchter, die aber alle am Frauenbild der patriarchalisch-bigotten Ostküstengesellschaft scheitern. Den Witz bezieht der Roman aus der ironischen Brechung, dass die Erzählerin sich als Sachwalterin gerade dieses konservativ-chauvinistischen Weltbildes geriert und daher voller Missbilligung die Fluchtgeschichten der vier Schwestern schildert. Eine wird Schauspielerin, eine Spiritistin, die vierte wird Erfinderin wie ihr Vater und die älteste - Skandal! - ändert ihr Geschlecht und führt ein aufregendes, alle Gesetze brechendes Leben im jungen Westen der Staaten. Nur die zweitälteste heiratet standesgemäß und erträgt klaglos ihren heuchlerischen Ehemann, seines Zeichens Pfarrer, der sie für allerlei sexuelle Praktiken missbraucht und damit sie nichts davon sieht, ihr immer eine Kapuze überzieht.

    Der Anfang ist mir ganz schön auf den Geist gegangen, weil man erstmal die ironische Brechung durch die empörte Haltung der Erzählerin akzeptieren muss, bevor man die Erzählweise des Ganzen genießen kann. Auch widmen sich die ersten 100 bis 200 Seiten vor allem einem Tag und schildern in aller Ausführlichkeit das jungfräuliche Leben der fünf Schwestern, aus deren Mitte die jüngste an diesem Tag, dem Verlobungsfest ihrer ältesten Schwester, durch einen schwarzen Ballon entführt wird hinein in ein von Geistern geprägtes Leben.

    Ich denke, es gibt bessere Romane von Oates, z.B. den ersten der Gothic Novels "Bellefleur", aber wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hat, liefert dieser Roman einen sehr guten Eindruck von einer Gesellschaft, in der die Frauen durch die Verinnerlichung der durch die Männer und die KIrche gesetzten Grenzen selbst zu ihrer Versklavung beitragen.

    Das ist wirklich mal eine tolle Idee, illy: So kann man dem Karneval, auch wenn man ihn nicht mag, wenigstens eine lustige Büchersuche abgewinnen. Und ich kann gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen und auch noch die Cocktail-Liste des SUB-Listen-Wettbewerbs bedienen.

    Joyce Carol Oates: Die Schwestern von Bloodsmoor

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    Von den fünf besagten Schwestern werden wohl einige zu Beginn des Buches noch Jungfrauen sein, die eine verweigert laut Umschlagtext ihrem Mann, einem Adeligen (sic!), sogar das jus primae noctis.

    Dies war mein erster Roman von Mechtild Borrmann und es wird wohl nicht mein letzter sein.

    Wie einige meiner Vorschreiber*innen ausführten, finde auch ich den Teil, der 1948 und in den Jahren danach in der stalinistischen Sowjetunion spielt, am stärksten. Diese Schilderungen sind zum Teil schwer erträglich, wie die Verwaltung des Unrechts völlig entmenschlicht und Menschenschicksale nur aufgrund eines wohlgemeinten HInweises völlig gedreht und in eine verzweiflungsreiche Zukunft, ja in den Tod geschickt werden. Ich fand das sehr eindrücklich und trotz des bedrückenden Themas sehr spannend geschrieben.

    Den Teil, der sich um den Enkelsohn Sascha dreht, finde ich nicht misslungen und auch diese Verfolgungssequenzen erscheinen mir nicht als unwahrscheinlich. Ich habe nur nicht richtig verstanden, welche Bedeutung die Seilschaften der Roten Armee und der Verbrechersyndikate mit eigenem Ehrenkodex neben dem Geheimnis um die Stradivari haben.

    Mein drittes MLR- Buch ist auch gelesen und war ziemlich schrecklich, weshalb ich auch auf eine Besprechung verzichte:

    Clara Maria Bagus: Die Farbe von Glück

    so eine Art Märchen für Erwachsene vollgestopft mit Sentenzen, die sich gegenseitig erschlagen und vielen kitschigen Beschreibungen.