Shalom Weiss, Kapitel 3, "Auferstehung"
Weiss beschreibt die recht mühsame Zeit nach der Befreiung aus dem Lager und dem Tod seines Bruders Avraham, er, ein Jugendlicher ohne direkten Familienanschlss, ohne feste Bleibe, im stalinistischen Ostblock (Jugoslawien, Ungarn, Tschechien), bis er endlich die Möglichkeit hat, nach Israel einzuwandern. Als er sich einer zionistischen Jugengruppe anschließt, ändert sich sein Leben, seine Stimmung, sie wird heiterer, zuversichtlicher, er hat nun seinen Ort gefunden, auch eine Grupe Gleichaltriger, mit denen er ein gemeinsames Ziel verfolgt. Nach der Gründung des Staats Israel, 1949, kommt er über Wien und Bari endlich in Israel an und meldet sich dort sofort zur Armee. Im Unterschied zu seinen Kameraden hat er keinerlei familiäre Anbindungen in Israel, er ist allein. Trotzdem ist er glücklich und dankbar über sein Leben. Nach seiner Zeit in der Armee, die recht abrupt und durch einen Zufall bedingt endet, nimmt er - als ungelernter Arbeiter und ohne Schulabschluss - verschiedene körperlich schwere Arbeiten an. Dann lernt er Lea kennen, die ein Jahr jünger ist als er, auch aus Ungarn stammt und die Ravensbrück überlebt hat. Beide haben nicht nur die Gemeinsamkeit, dass sie die Todeslager überlebt und dort viele enge Familienmitglieder verloren haben, sondern auch, dass sie ihren Glauben, den sie vor der Shoah selbstverständlich gelebt haben, nun verloren haben und sich dadurch eine große Distanz zu den überlebenden entferteren Familienmitgliedern (Onkel, Tanten), die nun noch stärker religiös sind als vor der Shoah, ergibt. Besonders hart ist, es, was Weiss über die Situation der überlebenden Frauen schreibt: Sie wurden von den in relativer Sicherheit (in Verstecken) überlebenden Familienmitgliedern, in denen die Frauen nicht von ihren Familienmitgliedern getrennt wurden und immer unter der Aufsicht der Väter, älteren Brüder usw. standen, verdächtigt, moralisch verkommen zu sein. Der Kontakt zu den gleichaltrigen Kusinen wurde als unpassend und gefährlich angesehen. Lea entscheidet sich unter dem Eindruck dieser Erfahrungen, nach Israel auszuwandern. Sowohl in Leas als auch in Shaloms Familie gibt es Angehörige, die den Zionismus absolut ablehnen und versuchen, die beiden davon abzubringen. Genau das kommt für beide - unabhängig voneinander, schon bevor sie sich kennenlernten - aber absolut nicht in Frage. Lea und Shalom heiraten, beziehen eine kleine Wohnung, Shalom findet Arbeit als Kranführer in einer Raffinerie, sie bekommen zwei Töchter, und Shalom macht Karriere bis zum Produktionsleiter der ganzen Raffinnerie (was mich beim Lesen sehr beeindruckt hat, obwohl er dies nur in einem Satz erwähnt).
Er äußert sich auch zu der Frage, warum gerade er überlebt hat:
Geholfen habe, dass er alle Gefühle von Mitleid, Trauer, Leid, Angst und Sorge in Auschwitz und Bergen Belsen verdrängt habe. Nur die Gefühle, die unmittelbar mit dem Überleben zu tun gehabt hätten, habe er zugelassen. Der Zufall spielt für ihn eine wichtige Rolle, und die Möglichkeit, mit anderen in Gemeinschaft zu sein (vor allem mit seinem Bruder, aber auch mit anderen Jungen aus seiner Stadt). Dann der Umstand, dass er aus einer eher armen Familie kam: die Gewohnheit der Kinder der Armen, selbst für ihre Bedürfnisse zu sorgen - die Kinder der Reichen hätten es demgegenüber viel schwerer gehabt, weil sie genau das nicht gewohnt gewesen seien. Kenntnisse der deutschen Sprache seien wichtig gewesen, aber auch Wagemut, Kreativität und Umsicht. Schuldgefühle, dass er überlebt habe und andere nicht, äußert er nicht.
Schlussfolgerungen aus der Shoa zieht er auch: 1. Die Notwendigkeit der zionistischen Idee, der Gründung des Staates Israel. 2. Die Ablehnung aller totalitären, diktatorischen Regierungsformen. 3. Das Bewusstsein, dass auch die schwierigsten Situationen sich zum Besseren verändern können. Er beschreibt nachvllziehbar und für mich sehr anrührend das Gefühl von Dankbarkeit, das sein Leben grundsätzlich prägt. Auch heute ist das Trinken von Wasser oder das Schlafen in seinem Bett für ihn nichts Selbstverständliches, sondern etwas, wofür er tief dankbar ist. Er ist dankbar für seine Kinder und Enkelkinder, für seine Familie.
Im 3. Kapitel erfährt man "nebenbei" beim Lesen viel über die Anfangsjahre des Staates Israel, über seine Armee, die flachen Hierarchien dort, über die Probleme des Alltags (die Wohnverhältnisse!), über die lebenspraktische Einstellung zu Problemen und Schwierigkeiten. Über das Nicht-Thematisieren der Zeit der Shoa - die Überlebenden eint es, dass sie nicht über ihre Erfahrungen in den Lagerrn sprechen. Dass Shalom Weiss sich nun doch entschieden hat, darüber zu sprechen, öffentlich, in seinem Buch, dafür muss man tief dankbar sein. Ein hervorragendes Buch. Ich habe mich schon viel mit der NS-Zeit. dem 2. Weltkrieg und der Shoa beschäftigt und auch schon wirklich sehr viel dazu gelesen, Sachbücher, Romane, Erinnerungen, und genauso auch über die Gründung des Staates Israel und die Geschichte des Judentums in Deutschland überhaupt, aber hier habe ich eine weitere wichtige, neue Stimme hören können: die von Shalom Weiss.
Das 4.-6. Kapitel, in dem es um das gespräch mit seinen Töchtern und Enkeln geht, werde ich nächste Woche lesen.