Beiträge von Gesine

    Hier meine Rezension zu "Die letzten Zeugen".

    Für mich ist es das allertraurigste Buch überhaupt, das mich kaum losgelassen hat. Gelesen habe ich es in der neuen, erweiterten Ausgabe von 2014. Ich kannte schon die alte DDR-Ausgabe von 1989, mit Kinderfotos einiger der Interviewten. Die neue Ausgabe ist viel umfassender, die Texte sind länger, es gibt auch mehr Erinnerungstexte.


    Alexijewitsch hat jahrzehntelang die Erinnerungen von Weißrussen, die als Kinder den 2. Weltkrieg erlebt haben, gesammelt. Aus den vielen Gesprächen hat sie dann das Buch "Die letzten Zeugen" gemacht. Jedes Interview hat sie zu einem Text zusammengefasst, Jeder Text beginnt mit einer Art Motto, einem Zitat aus dem nachfolgenden Erinnerungstext, dann dem Namen, dem Alter beim Beginn des Krieges und dem "heutigen" Beruf (also dem Beruf, den die Interviewten zur Zeit des Interviews ausgeübt haben), und ihrem Wohnort. dann kommt der eigentliche Erinnerungstext.

    Die Vorgabe von Swetlana Alexijewitsch an ihre Interviewpartner war, dass sie sich an ihre kindlichen Worte und Gefühle erinnern sollten.

    Das Ergebnis: Man liest Texte, die so wirken, als würden Kinder erzählen. was sie erlebt haben: Bombardierungen der Städte, das brennende Minsk, Flucht, Hunger, Terror der Wehrmacht gegen die Zivilbevölkerung, Erschießungen, die Verzweiflung der Erwachsenen, Verlust der Eltern, Geschwister, Großeltern, Schulfreunde, Abbruch des Schulunterrichts, das Alleinsein, das Leben bei Nachbarn, entfernten Verwandten, im Kinderheim oder bei den Partisanen, der Verlust der Geborgenheit und Sicherheit vor dem Krieg.

    Das Buch hat mich an die Fotoserie "Gram" von Dimitri Balterman erinnert: Texte, so wie Baltermans Fotos kaum aushaltbar, und doch für mich notwendig zu lesen.

    Hier meine Rezension zu "Die Zeuginnen":

    Das Buch ist die "Fortsetzung" des Buches "Der Report der Magd". Gleichzeitig Perspektivwechsel: "Tante Lydia", eine der brutalen Oberbefehlshaberinnen über die "Mägde" im religiösen Terrorstaat "Gilead" aus dem Buch "Der Report der Magd",erzählt nun, wie es dazu gekommen ist; dass sie diese Funktion einnahm.

    "Die Zeuginnen" hat beim Lesen viele Fragen aufgeworfen: Wollen Männer wirklich die Gleichberechtigung der Frau, oder machen sie dabei nur "mit", weil in den den westl.Industrienationen das zumindest formal der Standard ist? Wollen sie eigentlich die Herrschaft über die Frauen? Was bedeutet es, in einer religiös geprägten Diktatur zu leben? Wie schafft man es, sich dagegen zu wehren, auch wenn man schon in dieser Form von Diktatur aufgewachsen ist? Wieweit kann/muss man sich korrumpieren/scheinbar mitmachen, um die Möglichkeit zu haben, die Diktatur zu stürzen? Wie verändert einen dieser "pakt mit dem Teufel"? Was bedeutet es, Kinder zu haben?

    Konstanze: Interessant für mich, was du schreibst; es ist mir bisher nie gelungen, mit "Rechten" "sachlich zu argumentieren", bei den AfD-Wählern, die ich kenne, steht das Emotionale absolut im Vordergrund (sich abgehängt fühlen in den ländlichen Regionen Sachsens und Thüringens, in denen kaum mehr Busse fahren, Postämter, Bäckereien, Apotheken und Arztpraxen geschlossen werden; und ja, sie sind dort abgehängt); das Gefühl, dass sich die Politiker nicht für sie interessieren usw.; die Abstiegsängste oder, noch häufiger, die wirklich realen Abstiegserfahrungen in den Niedriglohnsektor; Angst vor Muslimen, vor Islamisten; Angst vor Veränderung überhaupt; Angst vor der Unübersichtlichkeit der modernen Welt. Das überlagert irgendwie alles, so dass ich zu einem Austausch von Sachargumenten bisher nichtmal ansatzweise gekommen bin.


    Bei aller "kompromisslosen Positonierung" finde ich es auch wichtig, sich des eigenen Rassismus bewusst zu sein/zu werden; nur weil man "links" ist, heißt das für mich nicht, dass man immun gegen Rassismus und Antisemitismus ist. Antisemitismus habe ich persönlich z.B. auch bei "Linken", die das nach ihrem Selbstverständnis gar nicht sein konnten, immer mal wieder erlebt. und auch bei Juden habe ich Rassismus erlebt. das ist eben so, mit diesem Gift sind wir ja alle groß geworden. Ich geh mal davon aus,d ass sich die Nutzer dieses Forums damit auch selbstkritisch auseinandersetzen, da es hier ja eine so deutliche Positionierung gibt, und das finde ich total gut.

    Zu dem Thema habe ich zwei für mich sehr interesssante Bücher gelesen:

    Alice Hasten, Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen aber wissen sollten

    und

    Noah Sow, Deutschland schwarz weiß


    Kennt Ihr sicher schon, ich wollte es trotzdem nochmal schreiben.

    Ich finde das Buch von Polack auch sehr gut.

    Zu dieser Positionierung "Keine Toleranz für Faschisten und Nazis" - Faschisten und Nazis sind wahrscheinlich nicht gerade unbedingt die Klientel, die in Literaturforen lesen. Von daher finde ich es recht einfach, hier "Position" zu beziehen. Klar ist es gut, das hier so zu schreiben, es ist nie verkehrt. Aber was folgt für euch daraus? Ich kann mir hier für ein Literaturforum wenig darunter vorstellen.

    "Menschenwerk" finde ich ganz gradios.

    Habe gerade "Die Vegetarierin" gelesen, das hat mich auch umgehauen.

    Interessant fand ich, das beide Bücher das geschehen aus den jeweiligen Perspektiven verschiedener beteiligter Personen erzählen.

    Beides ganz tolle Bücher.

    Auch dieses Buch sortiere ich in die Sparte "Autobografien, Erinnerungen ..." ein.

    Primo Levi, Ist das ein Mensch?

    Levi beschreibt seine Zeit als Häftling in Auschwitz III Monowitz In der Zeit von Februar 1944 bis Januar 1945. Ich habe erst angefangen (gerade bin ich beim 4. Kapitel, "KB"), aber auch hier fällt sofort, wie auch bei dem Buch von Shalom Weiss, der nüchterne, sachliche, "objektive" Erzählstil auf.

    Dieses Buch bietet bis jetzt keine Bibelzitate, aber das Gedicht zu Beginn nimmt eindeutig den Text 5. Mose 6 auf, das finde ich interessant.

    Geschrieben hat Levi das buch kurz nach der Befreiung (1945-47).

    Jertzt habe ich auch das 5. und 6. Kapitel gelesen.

    Im 5. kapitel schreiben die beiden Töchter von Shalom und Lea Weiss, wie sie ihre Kindheit erlebt haben:Ilana Teicher, die ältere Tochter, und Rivka Weiss, die jüngere Tochter. Beide schreiben sehr verständnisvoll über die besondere Situation ihrer Eltern, schreiben aber auch klar auf, was für sie selbst als Kinder schwierig und belastend war: die schweren Depressionen der Mutter, die Zurückhaltung des Vaters, das große Verlustgefühl - keine Großeltern, nur sehr wenig nähere Verwandte, zu denen aber kaum Kontakt besand. Die selbtgestellte Aufgabe, die eigenen Eltern zu "pflegen", Rücksicht auf sie zu nehmen, die Entscheidung für therapeutische und pflegerische Berufe. Im 6. Teil dann die Enkel: Eran Teicher, Noa Teicher, Tamar Werber, Daniela Werber. Auch sie schreiben sehr persönlich, wie sie ihre Eltern und ihre Großeltern erlebt haben, was in der Beziehung zu ihnen wichtig war.

    Wirklich ein besonderes Buch, absolut empfehlenswert. Durch die verschiedenen Perspektiven, die vermittelt werden erfährt man ungeheuer viel. Klare Leseempfehlung, auch für Jugendliche ist es sehr geeignet. zum einen behält Weiss in seinem Text seine Kinder- und Jugendlichenperspektive, in der er die Shoa erlebt, erzählerisch bei, aber auch die Töchter und Enkel erzählen aus dieser Perspektive - natürlich nicht so unmittelbar und direkt, aber doch so persönlich und offen, dass es auch für jungen Menschen gut nachzuvollziehen ist. Ein wirklich wertvolles Buch.

    @ Keshia,

    ich habe das Buch auch gelesen und einen ähnlichen Eindruck wie du.

    Wir haben hier auch einen kleinen Buchladen um die Ecke - geführt von 2 Buchhändlerinnen + 1 Aushilfskraft. Die sind froh, wenn der Laden voll ist und sie viel zu tun haben. Bleiben auch immer ruhig und freundlich - obwohl ich ihnen noch niemals Suppe oder Hähnchen vorbeigebracht habe und auch ihre Kinder noch nie zum Abendessen eingeladen habe. Wenn ich das tun würde, wären sie mit Sicherheit nicht begeistert, sondern im Gegenteil total konsterniert.

    Nach der Lektüre von "Weihnachten in der wundervollen Buchhandlung" habe ich mich auch gefragt: Warum machen die das eigentlich? Buchhändlerin muss so ein schlimmer Job sein - man kann doch auch was anderes arbeiten? Offebsichtlich haben Frau Hartlieb und ihr mann ja vor ihrer Buchhändlerzeit andere Jobs gehabt - wieso nehmen sie diese nicht wieder auf? Und das Beste und Schonendste für alle Buchhändler/innen wäre es doch, alles Buchhandlungen auf der Welt würden schließen und die ganzen unerträglichen Lesewütigen würden ihre Bücher bei Amazon bestellen.

    Erstaulich und positiv finde ich ja, dass anscheinend doch so viele Bücher im Buchhandel gekauft werden. Und Bücher als Weihnachtsgeschenke sind doch auch die besten Geschenke. Insofern ist das ja ein totaöl positiver bericht über die Gegfenwart und Zukunft des Lesens und des Buchhandels.

    Würde ich in Wien leben, wäre ich sicher keine Kundin von Frau Hartlieb - schon aus dem Wunsch heraus, ihr nicht durch meine bloße Existenz als vielkaufende Buchhandlungsbesucherin auf die Nerven zu gehen.

    Kapitel 4: Dies ist quasi ein Kommentar zum Text aus Kapitel 1-3. Jeder Unterabschnitt der einzelnen Kapitel wird noch einmal erläutert, die Kidnder/Enkel stellen fragen, Shalom Weiss beantwortet sie. Hier erhält man noch einmal viele Hintergrundinformationen zum Inhalt der Kapitel selbst, aber auch Weiss`Reflexionen zu seinem eigenen Erinnerungs- und Schreibprozess, auch zu den vielen Bibelzitaten und zu Weiss`religiöer Einstellung. Hier habe ich den text aus Kapitel 1-3 mochmal viel tiefgehender verstanden. Wirklich ein absolut lohnenswertes Buch.

    Witzig, wir mussten das auch machen! Bei allen Kindern. Alle: Im Kindergarten- und Grundschulalter stark untergewichtig, da musste ich mehrfach Essenprotokolle führen, in denen ich genau aufschreiben musste, was ich zu Essen angeboten habe - da lag immer so ein kleines Schulheft mit am Esstisch. Und die Teller waren immer voll, aber gegessen wurde nicht so viel - gespielt, geredet, gelacht die ganze Zeit, sie saßen auch gerne am Tisch, aber gegessen haben sie einfach kaum was. Ging sogar übers Jugendamt, da musste ich diese Hefte vorzeigen (vom Kinderarzt veranlasst). Zwei Kinder wurden in die Klinik eingewiesen, um abzuchecken, ob sie unter Nahrungsmittelunverträglichkeiten leiden - das war nicht der Fall.Seitdem sie in der Pubertät sind, hat sich das Gewicht aber von selbst verbessert, ohne dass sie nun so viel mehr essen würden - noch immer Untergewicht, aber nur noch leichtes Untergewicht. Und ich muss sagen, dass ich das auch anstregend fand, dass am Gewicht der Kinder immer erstmal ich als Mutter die Schuld bekommen habe - in Gesprächen mit Freunden, Verwandten, Kinderarzt usw. wurde jedenfalls immer das als Erstes angenommen. Ich wusste nicht, was ich noch machen sollte außer regelmäßige gehaltvolle Mahlzeiten anbieten mit Sachen, die die Kinder mögen, die Atmosphäre bei Tisch schön gestalten, den Tisch schön decken. Hab ich gemacht, trotzdem mochten/mögen sie nicht essen. "Schuld" war ich natürlich trotzdem, für die Dame vm Jugenamt, den Arzt, die Nachbarn, meine Mutter usw.


    Die Kritik am Buch entzündete sich vor allem am Elle-Interview, das sie mal gegeben hat und für das sie auch ein Foto von sich und ihrer Tochter hat machen lassen. Sie schreibt ja auch selbst, das sie das kritisch sieht.


    Was "mein Weg" wäre, wenn ich wirklich ein adipöses Kind hätte, das beim Essen wenig Impulskontrolle hat - ich weiß es wirklich nicht. ich kann nicht mit Sicherheit sagen, dass ich es ganz anders machen würde als die Autorin. Das finde ich auch so schwierig bei der Kritik an dem Buch. Massives Übergewicht ist nicht nur ein gesundheitliches Problem, sondern irgendwann auch ein psychisches. "Dicke" werden verachtet. Der erste Harry-Potter-Band fängt gleich damit an, das geschildert wird, wie blöd und gemein und bescheuert der Cousin von Harry Potter ist - und dick ist er natürlich dazu, logisch. In der neuen illustrierten Ausgabe sind gleich zu Beginn Bilder von ihm drin, auf denen er unsäglich fett, dumm und nervig dargestellt wird. Im Text wird er mit einem überfressenen Schwein verglichen. Als das gelesen hab, hatte ich gleich keine Lust mehr, diese sagenhaften Harry-Potter-Bcher weiterzulesen. Aber so geht es doch nicht nur bei Harry Potter, ssondern überall in der Gesellschaft. Ich bin mir sicher, dass alle Eltern normalgewichtiger Kinder froh sind, kein adipöses Kind zu haben - nicht nur wegen der rein körperlichen Aspekte, sondern weil gleich negative Rückschlüsse auf den Charakter des Kindes und den der Eltern gezogen werden. Die Eltern mit normalgewichtigen Kindern haben natürlich immer alles richtig gemacht in der Ernährung der Kinder. Das wurde mir von anderen Eltern auch oft gesagt, dass sie ja alles richtig gemacht haben - für mich beeindruckend, ich habe es auch geglaubt - das Ergebnis des normalgewichtigen Kindes sprach ja für sich - , aber weitergeholfen hat mir das nicht.


    Ich würde wohl schon auch die Essensmenge begrenzen, so wie sie es gemacht hat. Und sehe auch den Konflikt, dass man dann schnell als unmenschliche Rabenmutter dasteht, die ihrem Kind ein wichtiges Bedürfnis versagt: essen, den Hunger stillen. ich kann mir aber nicht vorstellen, dass Adipositas anders geheilt wird.

    Shalom Weiss, Kapitel 3, "Auferstehung"

    Weiss beschreibt die recht mühsame Zeit nach der Befreiung aus dem Lager und dem Tod seines Bruders Avraham, er, ein Jugendlicher ohne direkten Familienanschlss, ohne feste Bleibe, im stalinistischen Ostblock (Jugoslawien, Ungarn, Tschechien), bis er endlich die Möglichkeit hat, nach Israel einzuwandern. Als er sich einer zionistischen Jugengruppe anschließt, ändert sich sein Leben, seine Stimmung, sie wird heiterer, zuversichtlicher, er hat nun seinen Ort gefunden, auch eine Grupe Gleichaltriger, mit denen er ein gemeinsames Ziel verfolgt. Nach der Gründung des Staats Israel, 1949, kommt er über Wien und Bari endlich in Israel an und meldet sich dort sofort zur Armee. Im Unterschied zu seinen Kameraden hat er keinerlei familiäre Anbindungen in Israel, er ist allein. Trotzdem ist er glücklich und dankbar über sein Leben. Nach seiner Zeit in der Armee, die recht abrupt und durch einen Zufall bedingt endet, nimmt er - als ungelernter Arbeiter und ohne Schulabschluss - verschiedene körperlich schwere Arbeiten an. Dann lernt er Lea kennen, die ein Jahr jünger ist als er, auch aus Ungarn stammt und die Ravensbrück überlebt hat. Beide haben nicht nur die Gemeinsamkeit, dass sie die Todeslager überlebt und dort viele enge Familienmitglieder verloren haben, sondern auch, dass sie ihren Glauben, den sie vor der Shoah selbstverständlich gelebt haben, nun verloren haben und sich dadurch eine große Distanz zu den überlebenden entferteren Familienmitgliedern (Onkel, Tanten), die nun noch stärker religiös sind als vor der Shoah, ergibt. Besonders hart ist, es, was Weiss über die Situation der überlebenden Frauen schreibt: Sie wurden von den in relativer Sicherheit (in Verstecken) überlebenden Familienmitgliedern, in denen die Frauen nicht von ihren Familienmitgliedern getrennt wurden und immer unter der Aufsicht der Väter, älteren Brüder usw. standen, verdächtigt, moralisch verkommen zu sein. Der Kontakt zu den gleichaltrigen Kusinen wurde als unpassend und gefährlich angesehen. Lea entscheidet sich unter dem Eindruck dieser Erfahrungen, nach Israel auszuwandern. Sowohl in Leas als auch in Shaloms Familie gibt es Angehörige, die den Zionismus absolut ablehnen und versuchen, die beiden davon abzubringen. Genau das kommt für beide - unabhängig voneinander, schon bevor sie sich kennenlernten - aber absolut nicht in Frage. Lea und Shalom heiraten, beziehen eine kleine Wohnung, Shalom findet Arbeit als Kranführer in einer Raffinerie, sie bekommen zwei Töchter, und Shalom macht Karriere bis zum Produktionsleiter der ganzen Raffinnerie (was mich beim Lesen sehr beeindruckt hat, obwohl er dies nur in einem Satz erwähnt).


    Er äußert sich auch zu der Frage, warum gerade er überlebt hat:

    Geholfen habe, dass er alle Gefühle von Mitleid, Trauer, Leid, Angst und Sorge in Auschwitz und Bergen Belsen verdrängt habe. Nur die Gefühle, die unmittelbar mit dem Überleben zu tun gehabt hätten, habe er zugelassen. Der Zufall spielt für ihn eine wichtige Rolle, und die Möglichkeit, mit anderen in Gemeinschaft zu sein (vor allem mit seinem Bruder, aber auch mit anderen Jungen aus seiner Stadt). Dann der Umstand, dass er aus einer eher armen Familie kam: die Gewohnheit der Kinder der Armen, selbst für ihre Bedürfnisse zu sorgen - die Kinder der Reichen hätten es demgegenüber viel schwerer gehabt, weil sie genau das nicht gewohnt gewesen seien. Kenntnisse der deutschen Sprache seien wichtig gewesen, aber auch Wagemut, Kreativität und Umsicht. Schuldgefühle, dass er überlebt habe und andere nicht, äußert er nicht.


    Schlussfolgerungen aus der Shoa zieht er auch: 1. Die Notwendigkeit der zionistischen Idee, der Gründung des Staates Israel. 2. Die Ablehnung aller totalitären, diktatorischen Regierungsformen. 3. Das Bewusstsein, dass auch die schwierigsten Situationen sich zum Besseren verändern können. Er beschreibt nachvllziehbar und für mich sehr anrührend das Gefühl von Dankbarkeit, das sein Leben grundsätzlich prägt. Auch heute ist das Trinken von Wasser oder das Schlafen in seinem Bett für ihn nichts Selbstverständliches, sondern etwas, wofür er tief dankbar ist. Er ist dankbar für seine Kinder und Enkelkinder, für seine Familie.


    Im 3. Kapitel erfährt man "nebenbei" beim Lesen viel über die Anfangsjahre des Staates Israel, über seine Armee, die flachen Hierarchien dort, über die Probleme des Alltags (die Wohnverhältnisse!), über die lebenspraktische Einstellung zu Problemen und Schwierigkeiten. Über das Nicht-Thematisieren der Zeit der Shoa - die Überlebenden eint es, dass sie nicht über ihre Erfahrungen in den Lagerrn sprechen. Dass Shalom Weiss sich nun doch entschieden hat, darüber zu sprechen, öffentlich, in seinem Buch, dafür muss man tief dankbar sein. Ein hervorragendes Buch. Ich habe mich schon viel mit der NS-Zeit. dem 2. Weltkrieg und der Shoa beschäftigt und auch schon wirklich sehr viel dazu gelesen, Sachbücher, Romane, Erinnerungen, und genauso auch über die Gründung des Staates Israel und die Geschichte des Judentums in Deutschland überhaupt, aber hier habe ich eine weitere wichtige, neue Stimme hören können: die von Shalom Weiss.


    Das 4.-6. Kapitel, in dem es um das gespräch mit seinen Töchtern und Enkeln geht, werde ich nächste Woche lesen.

    Danke für die Antwort! Dann habe ich dich falsch verstanden. Ich bezog mich auf diese Aussage in Keshias Text:

    "Das Kind war mMn am Ende der Diät bzw. des beschriebenen Jahres "kaputt" fürs Leben." (Tschuldigung, die Zitierfunktuion hier kriege ich rírgendwie nicht hin). Das hatte ich so verstanden, als wenn du dir sicher darüber wärest, dass das Kind "kaputt fürs Leben ist".


    Ich habe auch eine dünne, sogar untergewichtige Tochter - obwohl wir ihr nicht von klein auf eine gesunde Lebensweise vorgelebt haben. Sie ist trotzdem dünn und geht vernünftig mit Essen um. Vielleicht ist es das, was mich etwas stört an der Kritik an der Autorin (wobei ich mich nicht unbedingt auf deinen beitrag bezogen habe; ich habe schon viele sehr kritische Rezensionen dieses buches gelesen): Man denkt, dass man selbst nie in die Situation kommt, dass das eigene Kind adipös wird, weil man selbst ja "alles richtig" macht mit seinem Kind. Beas Bruder ist ja aber auch dünn. Bea ist eben anders - sie hat kaum Impulskontrolle beim Essen, von sich aus wrde sie immer eher zu viel essen, wenn man sie ließe. Und klar haben die Eltern sie zu lange so viel essen lassen, wie sie wollte, das sehe ich auch so. Aber ich kann auch verstehen, dass es schwierig ist, einem Kleinkind das Essen wegzunehmen, wenn es sagt, dass es hingrig sei. Bei meinen Kindern glaube ich nicht, dass wir alles richtig gemacht haben, sondern dass wir eher Glück gehabt haben, dass sie - bisher jedenfalls - so vernünftig sind. Ich kenne etliche Eltern, die ihren Kinder alles richtig und vorbildlich vorleben (Umgang mit Essen, Medien, Konsum, Alkohol usw.), und die Kinder das nicht übernehmen. Wenns mit dem eigenen Kind rundläuft, schreibt man sich das oft zugute und kann dann nicht verstehen, wenn es bei anderen weniger rund läuft. Aber das ist natürlich wieder ein anderes Thema.

    Danke für eure Hinweise und Bemerkungen, auch zum Hinweis auf das Buch "Der Schrecken verliert sich vor Ort", danke, Anne.

    Ja, "Maus" und auch "Metamaus" von Spiegelman werde ich demnächst lesen.


    Shalom Weiss Buch finde ich besonders interessant, weil er zum einen als Erwachsener schreibt, in einem langen zeitlichen Abstand zum Geschehenen, und trotzdem seine eigene damalige Kinder-/Jugendlichenperspektive auf das Erlebte so gut zum Ausdruck bringen kann. Seine teilweise sachliche, unbeteiligt wirkende Schilderung erinnert mich ein bisschen an Imre Kertesz Schreibweise, der ja ähnlich jung war, als er nach Auschwitz gekommen ist.


    Zum anderen hat das Buch noch ein viertes, ein fünftes und ein sechstes Kapitel, das die Fragen von Weiss`Töchtern und Enkeln zu ihrer Lektüre von Teil 1-3 wiedergibt und natürlich auch Weiss`Antworten auf diese Fragen. Der Untertitel des Buches heißt ja auch "Drei Generationen versuchen zu verstehen". In Kapitel 4-6 gibt es viele Bezüge auf Kapitel 1-3 des Buches, die er hier noch einmal erläutert. Wie bei "Maus" geht es wohl auch in diesem Buch um das Gespräch der Nachgeborenen mit den Überlebenden, um ihr Bemühen, zu verstehen, was die Shoa und das Erleben von ihrem Vater/Großvater auch für sie bedeutet. Aber wie gesagt - an dieser Stelle bin ich noch nicht wirklich, hab nur schon ein bisschen vorgeblättert.


    @Holden Caulfield, was mich interessieren würde (falls du antworten magst, natürlich nur): Du schreibst, dass du nicht sicher bist, ob du das Buch "lesen kannst".

    Das habe ich auch von anderen immer mal wieder gehört - gerade in Bezug auf Bcher über die Shoa - dass sie nicht wissen, ob sie es aushalten, das zu lesen.

    Vielleicht bin ich einfach zu abgebrüht, aber mich wundert das immer und ich wüsste gerne, was das bedeutet - falls man das sagen kann. Bei der Lektüre von Shalom Weiss`Buch gestern habe ich z.B. gemütlich in meinem Bett gelegen. Und auch sonst: Weder muss ich frieren, hungern, Angst vor Gewalt, Ermordung oder Tod haben, Zwangsarbeit oder Pogrome erdulden, ich werde nicht permanent gedemütigt, meine Familie ist wohlauf, mein Leben ist also so derartig anders als das von Auschwitz-Häftlingen, dass ich für mich natürlich aushalten kann zu lesen, was sie schreiben. Hätte ich erlebt, was Weiss erlebt hat - DAS hätte ich wohl nicht "ausgehalten", allein schon körperlich nicht. "Auschwitz" ist für mich schon das "ganz Andere", an das ich mit meinem Vorstellungsvermögen niemals wirklich herankomen werde, auch wenn ich Bücher darüber lese. Also: Das Lesen darüber ... ich halte das jederzeit aus. Die Schuldfrage ("warum habe ich überlebt") stellt Weiss sich bis zum jetzigen Punkt der Lektüre kein einziges Mal, er nimmt es vielmehr so hin, dass viele seiner Nachbarn, Mitschüler, Freunde, Familienangehörige ermordet wurden und er eben überlebt hat. Dass er es einfach so hinnimmt, also gar nichts anderes tun kann, als es irgendwie hinzunehmen, finde ich fast noch härter, als wenn er sich in Schuldgefühlen ergehen würde.


    sandhofer, Ja, "Die Nacht" kenne ich auch, auch Wiesels Äußerunge darin über Gott. Diese Rabbiner, die als Häftlinge einen Gerichtshof gegen Gott halten, die Gott schuldig sprechen und dann zu ihm beten. Die Hinrichtung eines Kindes, in dem nach Wiesel Gott zu finden ist. Gott hängt dort am Galgen, er greift nicht ein, er hilft nicht, er leidet selbst und wird ermordet. Das ist schon hart.

    Bei dem Buch von Weiss möchte ich mich nochmal genauer mit den ganzen Bibelzitaten beschäftigen, die er seinen Einzelabschnitten in Kapitel 1-2 voranstellt.

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    Erst einmal - ich weiß nicht, ob das Buch von Shaom Weiss in dieser Rubrik richtig aufgehoben ist. Da es aber seine Lebenserinnerung beinhaltet, möchte ich hier etwas dazu schreiben.


    Shalom Weiss, in Ungarn geborren und aufgewachsen, beschreibt sein Leben und unterteilt dies in drei Abschnitte: "Kindheit", "Shoa", "Auferstehung". Dies sind auch die ersten drei Kapitel seines Buches.


    Kindheit: Er beschreibt, dass er bereits hier brutale Erfahrungen von Antisemitismus durch die nichtjüdischen Ungarn macht (die Pfeilkreuzler vor allem), dass er aber trotzdem insgesamt geborgen zusammen mit seinen fünf Brüdern bei seinen Eltern aufwächst. Vor allem zu seiner Mutter hat er eine sehr positive, liebevolle Beziehung. Er erhält selbstverständlich eine religiöse, traditionelle jüdische Erziehung und Schulbildug, ist aber auch neugierig auf die nichtjüdische Umwelt und kann auch hier Erfahrungen machen und Kontakte knüpfen. Die Familie ist relativ arm. In diesem Abschnitt wird auch die Nachricht vom deutschen Überfall auf Polen erzählt, dann die Ghettoisierung der Juden aus Shaloms Stadt nach dem deutschen Einmarsch in Ungarn und die Deportation nach Auschwitz von ihm, seinen Brüdenr und seiner Mutter - einer seiner Brüder und der Vater sind bereits vorher zum "Arbeitseinsatz" eingezogen worden, die Familie hat keine Nachricht von ihnen.


    Teil 2, "Shoa", beginnt mit der Ankunft in Auschwitz. Seine Mutter und seine drei jüngeren Brüder werden sofort in der Gaskammer ermordet. Er selbst schafft es, zusammen mit seinem älteren Bruder Avraham zu den "arbeitsfähigen" Juden eingeteilt zu werden, obwohl er eigentlich noch zu jung ist. Schon bald erfährt er von der Ermordung seiner Mutter und seiner Brüder und glaubt dies sofort. Kapitel 2 schildert den Lageralltag in Auschwitz, die Zwangsarbeit in einer Raffinnerie und das Überleben bis zum Todesmarsch im Januar 1945, dann den Transport nach Bergen-Belsen und den schrecklichen, völlig ungeordneten Aufenthalt dort, dann den kurzen Aufenthalt in Bremen Farge und wiederum den Transport und Aufenthalt in Bergen Belsen, dann die Befreiung durch die Engländer. Sein Bruder stirbt an Flecktyphus - nach der Befreiung. In Kapitel 1 und 2 wird jeder Unterabschnitt mit einem Bibelzitat eingeleitet, den man zum Inhalt in Beziehung setzen kann - Zusagen Gottes, Verheißungen, aber auch Unheilsankündigungen, wie sie in der Hebräischen Bibel zu finden sind.


    Teil 3, "Auferstehung" beschreibt seine Rückkehr nach Ungarn (über Jugoslawien). Er erhält die Nachricht, dass sein älterer Bruder noch lebt und schlägt sich in seine Heimatstadt durch, um ihn zu treffen. Aber er findet ihn nicht - sein Bruder hat sich den ultraorthodoxen Satmarer Juden angeschlossen und will mit ihnen in die USA gehen. Besonders schwer zu lesen fand ich den Abschnitt "Die Zerstörung des Tempels": Shalom, gerade 18 Jahre alt, steht im Innenhof seines alten Hauses, sein Herz schlägt normal. "Ich bin nicht mitgenommen angesichts dieses Hofes, der einst voll von Kindern war, die es nun nicht mehr gibt. Auch bin ich nicht aufgeregt vor dem Treffen mit meinem älteren Bruder .... und ich höre auch nicht Mutters Ruf zum Abendessen..." Niemand reut sich, dass er wieder da ist, die nichtjüdische Familie, die nun ind er Wohnung seiner Eltern lebt, jagt ihn davon. In der halbkaputten Synagoge (der einzigen von dreien, die geöffnet ist) findet er Unterschlupft für die Nacht, zusammen mit einem anderen Überlebenden, der auf die Frage nach seiner Familie nur "Treblinka, Majdanek, Auschwitz" sagen kann. Über Umwege schließt er sich einer zionistischen Gruppe an und bereitet sich auf die Auswanderung nach Israel vor, indem er Landwirtschaft lernt.

    Bis dahin habe ich bis jetzt gelesen.


    Interessant finde ich, dass Kapitel 3 einen religiösen Titel bekommen hat - "Auferstehung" - dass aber die einzelnen Abschnitt nicht mehr mit Bibelversen eingeleitet werden. An mehreren Stellen klingt durch, dass Shalom nach Auschwitz seinen Glauben verloren hat.

    Mitleid empfinden kann Shalom nur seinen nächsten Verwandten/Bekannten gegenüber, für alles andere reicht die Kraft nicht. Vor dem Todesmarsch beschreibt er, dass eine Gruppe Häftlinge erschossen wird, er und die anderen, die auf den "Todesmarsch" gehen müssen, essen noch eine Scheibe Brot und gehen los. Diese "Gleichgültigkeit" kommt bei der Schilderung mehrere Situationen zum Ausdruck, ich konnte beim Lesen nachvollziehen, dass sie notwendig war, um diese Exremsituation irgendwie bestehen zu können, ohne verrückt zu werden.


    EDIT: Buchverlinkung eingefügt. LG, Saltanah