Grossmann hat keine Neuinterpretation der biblischen Geschichte geschrieben, wie es andere Autoren der Reihe mit ihren Mythen gemacht haben, sondern er liefert eine Exegese. Diese ist in meiner Wahrnehmung jedoch sehr phantasievoll und wenig wissenschaftlich. Das heißt, ich bekomme als Leserin nicht den erwarteten fiktiven Text, sondern eine ernsthafte Analyse eines aus meiner Sicht fiktiven Textes. Denn Grossmann behandelt die Materie, als lägen zweifelsfreie Fakten vor. Nicht nur die Personen und Geschehnisse, sondern vor allem die Aussagen werden wortwörtlich analysiert und interpretiert. Aus meiner Sicht handelt es sich bei biblischen Geschichten um Mythen, in denen übertriebene Situationen entweder ein Detail verdeutlichen oder die Geschichte aufwerten sollen.
Ich habe geisteswissenschaftliche Fächer studiert, ich habe also selbst ausgiebig interpretiert und vermutet. Die Vermutungen, die Grossmann hier auf Basis weniger Zeilen anstellt, ausschmückt und weiterspinnt, sind mir jedoch zu weit hergeholt. Er charakterisiert Samsons namenlose Mutter alleine aufgrund der Namenlosigkeit und der Betonung ihrer Unfruchtbarkeit. Was er daraus ableitet, wie sie die Begegnung mit dem “Mann Gottes” wiedergibt, ist wirklich erstaunlich.
Grossmanns Einschätzung Samsons und verschiedener Situationen ist weit entfernt von meiner Wahrnehmung. Er beschreibt Samson als unsicheres, nach Liebe suchendes Kind. Er sei gelenkt von seiner Aufgabe als Gottes Auserwählter und sich dessen vielleicht gar nicht bewusst. Unsicher? Ja, vermutlich. Und dadurch nur noch rachsüchtiger und brutaler. Ich sehe nichts Poetisches in seinem unlösbaren Rätsel, nur Hinterlist. Grossmann bezeichnet voller Bewunderung das in Brand Setzen der Felder durch Füchse als “prachtvolle, stilvolle, sogar ästhetische Rache”. Am Rande ordnet er es den anderen “brutalen Gewalttaten “ der Bibel zu, bewundert jedoch vor allem die Kreativität der Tat. Ich hingegen sehe Parallelen zu einem Jungen, der einen Weg gefunden hat, nicht nur Ameisen mit einer Lupe zu verbrennen, sondern gleichzeitig auch anderen Menschen Schaden zuzufügen.
Nach rund 80 Seiten nimmt Grossmann einen Gedanken vom Anfang wieder auf: dass Samson in seinem Verhalten mehr den Philistern gleiche und trotzdem ein Held des jüdischen Volkes sei. Diese Ambivalenz ist spannend, die sehr kurze Ausführung Grossmanns ist für mich jedoch nicht ganz nachvollziehbar. Hier streift er ein Themengebiet, das politisch vielleicht zu aufgeladen ist.
Insgesamt wiederholt Grossmann manche Gedanken immer wieder. Er referenziert nicht nur auf eine bereits hergeleitete Erkenntnis, sondern wiederholt diese. Wer weiß, wie kurz dieser Essay ansonsten geworden wäre… Zwischendurch wird er pathetisch (“Und so flackert auch in uns, in uns allen, die traurige Gewissheit…”)., ein anderes Mal kokettiert er mit Erotik. Nichts davon hat bei mir gezündet.