Wissenschaftler, auch Linguisten, beobachten und interpretieren/ sortieren ja nur, sie bewerten in der Regel nicht. Insofern ist ja für Linguisten Sprachwandel und Sprachdiskussion erst mal aus beruflicher Sicht interessant, selbst wenn so etwas aus privater Sicht schon stört.
Bei Korrekturen (Sinn machen/ Sinn ergeben) geht es mMn meist darum, dass LEHRER ihren Schülern die Sprache beibringen, die formal aktuell richtig ist, manchmal auch die Sprache, die sie in der Schule selbst als richtig gelernt haben.
Das betrachte ich nicht als Mangel.
Die Schüler können und werden in der Freizeit von der Standardsprache abweichen und bspw. "Digga" mehrfach in ihre Sätze einbauen - aber es wäre mMn nicht sinnvoll, wenn deshalb der Deutschlehrer sagen würde, dass sie das auch folgenlos für die Note in ihren Aufsätzen machen dürfen/ sollen. Eine kleine Richtlinie sollte es schon geben.
Wir sehen doch, dass bspw. die Jugendsprache der 70er heute fast ausgestorben ist, was damals als modern galt, fühlt sich heute skurril an.
Beim Gendern stört mich tatsächlich das Zeichen in der Mitte, völlig unabhängig davon, ob es ein Doppelpunkt der Sternchen ist und diese Idee, dass eine winzige Minderheit der Menschen bedacht werden muss, die sich weder als Mann noch als Frau definiert, und man daher nicht "Bürgermeister und Bürgermeisterinnen" sagen "darf", sondern ein Konstrukt wählen soll, das nicht durch natürlichen Sprachwandel gewachsen und sperrig ist. Und bei mir zumindest immer die Idee auslöst, dass wahlweise nur Frauen gemeint wären oder es um Gebäude geht (man hört "(Pause) innen" - und die Assoziation ist erst mal "drinnen, im Gebäude", bevor man aktiv korrigiert - "oh, sie meinen Frauen, Männer und Nichtbinäre").
Gelassenheit kann man natürlich problemlos propagieren, wenn man als Linguist nur Beobachter ist, aber weniger problemlos annehmen, wenn man das Gefühl hat, es würde einem eine künstliche Sprache aufgezwungen, die ein geringer Teil der Bevölkerung eventuell begrüßt, aber eben noch nicht mal (vermutlich) alle Nichtbinären. Denn für die dürfte es zumindest zum Teil auch einen Unterschied geben zwischen dem Gefühl über die eigenen Identität und dem Annehmen einer künstlich aufgezwungenen Sprache.
Warum sollte ein Nichtbinärer "Ärzt-innen" als Wort begrüßen, warum sollte ausgerechnet er (generisch gemeint - der Mensch!) sich von dem Wort "Ärzten" ausgeschlossen fühlen? Wie ist das, wenn dieser Mensch gar kein Arzt, sondern Patient ist? Würde er sich dann auch von dem Wort "Ärzte" ausgeschlossen fühlen, obwohl es ihn selbst gar nicht betrifft?
Aus meiner Sicht wurde da von einer Minderheit an Aktivisten ein Problem geschaffen, das vorher bei den meisten Menschen gar nicht existierte.
Es wird das Geschlecht massiv in den Vordergrund gerückt in Situationen, in denen es um die Funktion geht (es sind bspw. Ärzte im Flugzeug, die in Notfällen helfen können. Oder man hat freie Arztwahl und muss nicht die nächstbeste Praxis ansteuern. Da ist die Information doch das Wort "Wahl" und es geht nicht darum, ob der Arzt ein Mann ist, ob es sich um eine Ärztin handelt oder gar, ob der Arzt nichtbinär ist. Das interessiert doch meist den Patienten auch gar nicht, der möchte den Arzt in seiner Funktion als "Fachmann". "Fachfrau"? Fachmenschen? Fachpersonal? Es geht also um das Wissen des Menschen, nicht um sein Geschlecht.
In einigen Bereichen wurde das gut gelöst, bspw. "Pflegende" statt "Pfleger", in anderen Bereichen rückt das Geschlecht so in den Vordergrund, dass man die Funktion fast überhört.
Mir wäre ein "Ärzte und Ärztinnen" oder meinetwegen auch "Ärztinnen und Ärzte" viel lieber und ich wäre begeistert von einer Studie, die mal belegt, wie viele der Menschen, die sich nicht unter Mann oder Frau wiederfinden denn WIRKLICH für das Gendern mit dieser Sprechpause oder gar diesen Sonderzeichen sind!
Wie viele Menschen "identifizieren" sich quasi mit Sprechpause und Sonderzeichen? Und wie vielen davon wurde es durch die Diskussionen der letzten Jahre eingeredet? Wie viele haben GELERNT "wenn man Schüler und Schülerin sagt, bist DU nicht gemeint, weil du dich anders identifizierst" - und wie viele von denen hätte das vor der Diskussion gar nicht gestört, wie viele hätten von diesen Worten gar nicht auf ihre Identität und Eingebundenheit geschlossen?
Es ist jedenfalls immer ein Unterschied, ob ich als Wissenschaftler ein Phänomen beschreibe, beobachte, einordnet, interpretiere und ggf. benenne - oder ich als Wissenschaftler als Privatperson betroffen bin.
Der Onkologe mag fasziniert von verschiedenen Krebsformen und Heilungsansätzen sein - aber wenn er selbst eine Krebsdiagnose bekommt, ändert sich seine Sichtweise.
Es wäre interessant zu wissen, wie es da dem Linguisten als Privatperson geht.
Wenn dich das Thema weitergehend interessiert - also, Linguistik, nicht Gendern! - dann kannst du mal verschiedene Linguistikblogs recherchieren und lesen.
Hier wäre eine Liste englischer Linguistikblogs.