Beiträge von Rydal


    Franz Hohler ist in der Schweiz sowas wie der neue Tell :breitgrins:


    Eigentlich muss ich mich ja schämen, dass ich noch nie etwas von Franz Hohler gelesen habe - ausser natürlich das Totemügerli.
    Nur ist Kurzprosa meistens nicht so mein Fall. Kennt vielleicht jemand die längeren Arbeiten von Hohler, z.B. den Roman "Der neue Berg" oder die Novelle "Die Steinflug"?

    Dann muss ich eben selbst antworten!
    Als erstes will ich den 2001 erschienenen, seit 2005 in deutscher Übersetzung vorliegenden Roman "Rosie Carpe" lesen.


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    Klappentext:


    Eine junge Frau steht in der überfüllten Ankunftshalle des Flughafens von Pointe-à-Pitre, an ihrer Hand ein ängstlicher Junge. Die Frau wartet. Sie hat ein Leben hinter sich gelassen, fern in Frankreich, und wartet darauf, daß ein neues beginnt, jetzt und hier, im Tropenparadies Guadeloupe. »Und Lazare?« fragt das Kind. »Wo ist Lazare, Mama?« Eine Reisegruppe nach der anderen wird mit Blumen in Empfang genommen. Aber Lazare kommt nicht.


    Und hier noch Pressestimmen (von der Suhrkamp-Homepage):


    »Marie NDiaye spinnt den Leser ein in eine Sprache der sozialen Kälte, verstärkt durch eindrückliche, gelegentlich drastische symbolische Bilder. Ihre psychologischen Tiefenbohrungen ziehen den Leser in den Bann und sind geeignet, seinen Widerwillen gegen diese unerquicklichen Figuren zum faszinierten Grauen über so viel Amoral und gleichgültige Bosheit zu steigern.«
    Sigrid Löffler


    »Ein grosses literarisches Werk. Nicht oft trifft man heutzutage auf diese Dimensionen - der Phantasie in der Figurengestaltung, der sprachlichen Eigenwilligkeit, der sinnlichen Intensität, die, statt Selbstzweck zu sein, eine Poetik der Wahrnehmung herausbildet.«
    Neue Zürcher Zeitung

    Ich habe diesen Roman auch nur begrenzt geniessen können, obwohl ich Thomas Mann sehr mag. Anfangs gefielen mir die ausufernden Dialoge (Monologe?) noch ausgezeichnet, sie entbehren nicht einer gewissen Komik. Bald aber wird es dann etwas ermüdend und ich finde, die im Duktus der Goethezeit geschriebenen, sich unaufdringlich den Gesprächen entwindenden Charakterbilder sind zwar für sich genommen gelungen, wollen aber nicht recht ein Ganzes ergeben. Ich habe den Eindruck, man hätte nach Belieben z.B. Adele Schopenhauer weglassen und ihren ungleich interessanteren Bruder hinzufügen können, und architektonisch würden sich keine einschneidenden Veränderungen ergeben haben.
    Trotzdem las ich die meisten Kapitel gerne, wobei mir z.B. die inneren Monologe Goethes (die auch schön zeigen, wie von so jemandem andere Menschen, sofern sie nicht Hilfskräfte sind, als Störung wahrgenommen werden können, wodurch möglicherweise das Kühle und Abweisende entsteht, das man Goethe nachsagt) mehr sagten als etwa das lange Kapitel zur Zeitgeschichte, das im Zentrum des Romans steht. Für die meiner Einschätzung nach nicht völlig gelungene Übersetzung ins Leben der subtil gezeichneten Gestalten, die Th. Mann auftreten lässt, entschädigten mich die letzten Seiten, in denen Er Selbst als "echter Goethe" auftritt, dort werden erstmals ganz ungezwungen Worte gewechselt. Diese beinahe befreiende Szene führte mir ausserdem vor Augen, wie anstrengend für alle Beteiligten zu jener Zeit der floskelhafte, obligatorische Konversationston gewesen sein muss, in den man auf Abendgesellschaften und dergleichen wie in ein verbales Korsett eingezwängt war.
    4ratten

    Mir hat der Roman natürlich auch sehr gefallen, obwohl er die eine oder andere etwas ermüdende Passage enthält.
    Eine Frage: offenbar kommt Daniel d'Arthez auch in anderen Romanen von Balzac vor (u.a. "Glanz und Elend der Kurtisanen" und "Vater Goriot") - spielt er dort ebenfalls nur eine Nebenrolle oder hat er irgendwo noch grössere Auftritte? Ich hätte nämlich gerne mehr über diesen Dichter und seinen verschworenen Freundeskreis erfahren, zumal in "Verlorene Illusionen" nicht ganz klar wird, ob das sozusagen 'wahre' Künstler, reaktionäre Naivlinge, teils-teils oder beides gleichzeitig sind.
    Die direkte Fortsetzung "Glanz und Elend der Kurtisanen" wäre für mich aber schon alleine deswegen reizvoll, weil dieser machiavellistische Diplomat am Ende nochmal eine ganz neue Note in die Handlung gebracht hat.

    Ich finde, diese Autorin sollte einen eigenen Thread bekommen. Mittels Suchfunktion habe ich festgestellt, dass einige von euch schon das eine oder andere Buch von ihr gelesen haben. Ich selbst hatte noch nicht das Vergnügen, möchte das aber demnächst ändern.


    Marie NDiaye ist eine französische Schriftstellerin, die 1967 geboren wurde. Im Alter von 18 Jahren veröffentlichte sie bereits ihren ersten Roman Quant au riche avenir. Aus Protest gegen die Wahl von Nicolas Sarkozy verliess die Autorin Frankreich und lebt seither in Berlin. Im Jahr 2009 erhielt sie für den Roman Trois femmes puissantes (Drei starke Frauen) als erste schwarze Schriftstellerin den renommierten Prix Goncourt. Auch im deutschen Sprachraum sind NDiayes Werke von der Literaturkritik immer wieder als herausragend gelobt worden. Zuletzt erschien der Roman Ein Tag zu lang, dessen Originalausgabe (Un temps de saison) aber schon 1994 veröffentlicht wurde.


    Also, raus mit der Sprache: Was habt ihr von Marie NDiaye gelesen und wie hat es euch gefallen?

    So, ich hab's jetzt auch mal gelesen.
    Erstens: Es ist beeindruckend und enthält viele brillante Szenen und Dialoge. Es ist ohne grössere Schwierigkeiten lesbar (!), wenn man akzeptiert, dass man nicht jedes Detail und Fremdwort versteht (oder eben alles nachschlägt).
    Zweitens: Die von der Kritik teilweise gezogenen Vergleiche mit Joyce und Musil sind meiner Meinung nach dann doch arg übertrieben. Leider gibt es in der Literaturkritik so eine Art Hype-Kultur, so dass in jeder Saison irgend ein Jahrhundertbuch erscheinen muss (woher die Jahrhunderte nehmen?).
    Drittens: Es ist zu viel. In dem Buch steckt ein wirklich grandioser etwa 500seitiger Roman - was ich aber halb und halb gleich wieder zurück nehme, weil auch das, was mich genervt oder gelangweilt hat, irgendwie da sein muss. Es gehört alles dazu. Es ist ein in jeder Hinsicht exzessives Buch.
    Viertens: Der Roman ist nicht nur deprimierend. Er macht streckenweise richtig Spass. Man sollte ihn wahrscheinlich nicht zu sehr im Kontext von Wallaces Suizid lesen, immerhin ist das Buch zwölf Jahre vorher geschrieben worden.


    Das Thema von Unendlicher Spass ist m.E. die Performanz von Spass. Spass ist hier nicht ein empfundenes Vergnügen, ist überhaupt kein Gefühl, sondern etwas "Materiales", das man tut oder hat (eine Figur nennt ihre Droge "Zuviel Spass"). Die Kids an der Tennis-Akademie schwurbeln zwar über alles Mögliche daher, sind in zahllosen Diskursen zu Hause, spielen neben dem Training auf den Tenniscourts mitten im Winter bis zum Umkippen oder Ausrasten ein stark mathematisiertes Strategiespiel namens "Eschaton" (nachzulesen auf dutzenden von Seiten); nur eines reflektieren sie überhaupt nicht: ihr eigenes Leben, den Sinn, das Unglück ihrer Existenz. Dass viele von ihnen morgens ein wenig weinen, bevor sie fit werden, wird beobachtet, registriert, aber nicht analysiert. Überhaupt fällt der statische Charakter des ganzen Romans auf. Nicht einmal die politisch-terroristisch-absurde Rahmenhandlung (?) kommt so richtig voran, es gibt weder Anfang noch Ende.


    Kurzum: es ist ein etwas monströses und immer wieder beeindruckendes Buch; dennoch bin ich mir nicht sicher, ob es sich wirklich gelohnt hat, mich zehn Tage lang mit fast nichts anderem zu beschäftigen.
    4ratten

    Ich bin jetzt auf Seite 140 und ehrlich gesagt gefällt mir das Buch nicht besonders. Weshalb erzählt Capus einige Geschichten aus dem Leben dieser drei Personen? Stellt er einen Zusammenhang her? Wirft er interessante Fragen auf? Hat er ein Anliegen? Findet er eine Sprache, die das Ganze rechtfertigen würde? Ich muss das bisher alles verneinen! Gleichzeitig ist der Roman (?) wohl keine Qual, er hat aber meiner Meinung nach einfach keinen Sinn. Vielleicht ergibt sich in der zweiten Hälfte ja noch etwas, ich berichte dann wieder. :leserin:

    Mir ist noch eingefallen, dass gerade Geschichtsrevisionisten wie David Irving, die Hitler als einen wohlwollenden, bestenfalls gemässigt antisemitischen Politiker darstellen wollen, nie über "Mein Kampf" sprechen. Irving sagt ganz deutlich, er habe kein Interesse für dieses Buch und spielt dessen ideologische Bedeutung herunter, weil es natürlich seine abstrusen Theorien überhaupt nicht stützen würde.

    Serdar Somuncu hat früher satirische Lesungen aus "Mein Kampf" gemacht und das ist meiner Meinung nach genau der richtige Umgang mit diesem Schund. Was verboten ist, übt eine Faszination aus, die dieser Text nicht einlösen kann - ausser (vielleicht) für Nazis, aber die kriegen das Buch auch so. Davon abgesehen, würde mich ein guter Kommentar durchaus interessieren, der auch ein wenig aufschlüsseln würde, was Hitler selbst gelesen hat usw.

    Ich finde es schwierig, mich beim Lesen zu "gruseln". Darum geht's mir aber auch nicht.
    So, das war also mein erster King. Wie ich anderswo geschrieben habe, war ich sehr unschlüssig, wo ich am besten anfangen sollte und schliesslich habe ich einfach zu Cujo gegriffen. Von ein paar Andeutungen (der Schrank) abgesehen, gibt es hier nichts Übernatürliches, der Horror der Geschichte liegt in der absurden Situation und der quälenden Langsamkeit, mit der die Handlung fortschreitet, weil niemand auf die richtige Idee kommt. Zugegeben: an einigen Stellen habe ich mich ein wenig gelangweilt, so viel über die Werbebranche hätte ich z.B. nicht zu wissen brauchen. Insgesamt finde ich den Roman aber überzeugend, kaum zu glauben, dass King ihn nach eigener Aussage mehr oder weniger im Vollrausch geschrieben hat. Mit erzählerischer Souveränität handhabt King die drei Handlungsstränge und lässt sie am Ende in recht unerfreulicher Weise zusammenlaufen. Kurzum, Stephen King konnte mich mit diesem recht frühen Werk weitgehend überzeugen und ich freue mich schon auf die nächste Runde - wofür die Auswahl ja gross ist, der Mann scheint über eine unerschöpfliche Produktionslust zu verfügen.
    4ratten

    Ich finde es verständlich, dass es eine gewisse Beschränkung gibt. Und das mit den Tieren, also Zufallsprinzip, ist immer noch besser, als z.B. das hier:

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    Das war bei Morrissey in Göteborg und laut der Videobeschreibung haben die Leute vier Stunden Schlange gestanden. Aber man kann eben auch nicht erwarten, dass ein Autor - zumal ein so populärer wie Stephen King - sechs Stunden lang signiert, nur damit jeder drankommt. Und das dann überall und immer wieder...

    Ich habe die Lektüre soeben beendet und bin hin und her gerissen. Das erste Drittel des Romans hat mir sehr gut gefallen, später war die Lesefreude nicht mehr ganz ungetrübt. Mich stören nicht so sehr die surrealen Vorgänge an und für sich, sondern die doch etwas gar wohlfeile Metaphysik, die Murakami immer wieder gerne (so auch in "1Q84") zum Besten gibt. Am besten finde ich es, das habe ich schonmal anderswo geschrieben, wenn Murakami surreale Geschehnisse als Stilmittel verwendet, immer da, wo sie als inhaltlich tragende Elemente dargestellt werden, überzeugen sie mich nicht. Das bezieht sich für diesen Roman vor allem auf die Kafka-Kapitel und deren spirituelles Gesülze, Nakatas "Queste" finde ich besser ausgearbeitet.
    Zweiter Kritikpunkt: Es ist eine Unart, immer so viele Markennamen zu nennen. Warum, bitte, muss ich erfahren, dass Hoshino Nike-Turnschuhe trägt?!
    Dritter Kritikpunkt: Kafka ist mir als Figur nicht ganz glaubwürdig erschienen - weder als Junge (der er theoretisch ist), noch als quasi-Erwachsener (als welcher er eigentlich agiert). Bei aller ödipalen Mystik ist Kafka für mein Empfinden immer ein wenig blass geblieben. Nakata hingegen gefiel mir sehr und ich hätte es begrüsst, wenn er im "Jenseitsdorf" noch einen kurzer Auftritt gehabt hätte - vielleicht als "normaler Nakata", wie er es sich gewünscht hat.


    Trotz allem habe ich "Kafka am Strand" insgesamt gemocht. Ich habe, je mehr ich von Murakami lese, irgendwie das Gefühl, dass seine "Denkweise" mit meiner inkompatibel ist, wenn man so sagen kann.


    edit: Ach, was soll der Geiz, ich lege noch eine halbe Ratte drauf und runde auf vier auf!
    4ratten
    Denn im Prinzip bin ich ein zufriedener Kunde. :zwinker:

    Ha, ich hab's mir schon wieder anders überlegt und will doch zwei oder drei der Romane lesen.
    Wahrscheinlich muss ich einfach mal mit etwas anfangen und schauen, wie es mir gefällt. Ich neige ein wenig zur obsessiven Recherche vor der Lektüre. :rollen:


    Bei seiner Antipathie gegen alle Möglichen, sieht er sich außerhalb billigen Rassismusses etc:


    Gerade deshalb fand ich es auch unsinnig, dass Eco in irgendeiner Rezension vorgeworfen wurde, er reduziere den europäischen Antisemitismus auf die Privatpathologie einer Einzelperson. Simoninis Weltsicht ist ganz anders gelagert, er verabscheut alle. Es wird ausserdem deutlich gesagt, dass der Protagonist hauptsächlich deshalb antisemitische Propaganda produziert, weil es dafür einen riesigen Markt gibt.


    Ich habe mir übrigens bei der Lektüre gedacht, dass es reizvoll gewesen wäre, wenn sich der süffisante Erzähler als eine weitere abgespaltene Persönlichkeit der Hauptfigur herausgestellt hätte. Aber dann hätte die psychopathologische Geschichte wohl der historischen gegenüber anders gewichtet werden müssen.

    Ich möchte schon lange irgend etwas von Stephen King lesen, werde aber einfach nicht schlüssig, was es sein soll. Die Sache ist die: als Lovecraftianer sage ich Ja zum Grauen, aber Nein zum Splatter und irgendwelchen (vermeintlichen) Schockeffekten. Ist z.B. in "Es" die Spannung einigermassen subtil aufgebaut? Oder empfehlen sich dann eher die neueren Sachen, etwa "Wahn"? Es wird manchmal darauf verwiesen, einige der Kurzgeschichten seien lovecraftianisch angehaucht - "Crouch End", "The Mist", "Jerusalem's Lot" -, nur dass diese alle in verschiedenen Sammlungen enthalten sind, so dass man jede Menge anderes Zeug mitgeliefert bekommt.
    King reizt mich irgendwie und ich will ihn nicht völlig ignorieren, nur möchte ich mir die doch sehr umfangreichen Bücher dann auch nicht aus Jux aufbürden.

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    Morrissey - Autobiography


    Es handelt sich hier um die Autobiografie von Steven Patrick Morrissey, bekannt geworden als Sänger und Lyriker der Band "The Smiths", die 1982 bis 1987 existierte. Seither hat Morrissey (Vor- und Mittelnamen legte er gleich zu Beginn ab) zahlreiche Soloalben veröffentlicht und wird von Anhängern ebenso abgöttisch verehrt, wie von teilweise hauptberuflichen Kritikern zutiefst verabscheut. Einig sind sich indes alle, dass Mozzer ein schwieriger und nicht gerade umgänglicher Charakter ist. Seine Autobiografie, die er schon vor etwa zehn Jahren angekündigt hatte, ist nun endlich am 17. Oktober 2013 erschienen - und zwar, was wieder einmal für Irritation sorgte, in der Reihe Penguin Classics, die normalerweise, nun ja, eben Klassikern vorbehalten ist. Auch dies hat bei eingeschworenen Feinden Zähneknirschen ausgelöst.
    Als Fan sowohl der Smiths als auch Morrisseys musste ich das Buch natürlich lesen. Zunächst wird Morrisseys Kindheit und Jugend als Sprössling einer Arbeiterfamilie in Manchester beschrieben, dieser Teil ist von der professionellen Kritik besonders gelobt worden: Es ist eine düstere, aber poetische Milieuschilderung und anders, als im weiteren Verlauf des Buchs, hält der Autor seine Person hier noch etwas im Hintergrund. Mein Lieblingssatz: "Birds abstain from song in post-war industrial Manchester [...]". Morrissey weiss nicht, was er mit seinem Leben anfangen soll und macht die traditionell höchst traumatische Erfahrung einer englischen Schul-"bildung", die im wesentlichen aus dem Bekanntwerden mit jeder Form von Gehässigkeit und fortwährender Disziplinierung besteht. Hier lernen die Arbeiterkinder, dass sie keine Zukunft haben und auch keine erwarten sollen - und das noch vor Thatcher, einem besonderen Hassobjekt (sicher nicht nur) Morrisseys. Aber Individualist, der er ist, lässt sich Morrissey nicht so ohne Weiteres im Zaum halten, er entdeckt Bands, die einen neuen Ton, etwas von Freiheit in die triste Landschaft hineintragen, den frühen David Bowie, T. Rex - und vor allem die New York Dolls, die in full drag auftreten und an den Klischees der Rockmusik rütteln. Schliesslich trifft Morrissey auf Johnny Marr, einen brillianten Gitarristen und Songwriter, und die Smiths erblicken das schummrige Licht der Welt. Wie es weiter geht, ist weitgehend bekannt...
    Für mich als "Anhänger" Morrisseys war die Lektüre natürlich spannend und gewinnbringend, trotzdem kann ich die Autobiografie - vor allem nicht-Fans - nicht ganz vorbehaltlos empfehlen. Der vielgelobte erste Teil erschien mir ungeachtet seiner Qualitäten ein wenig desorganisiert, Morrissey springt hin und her, zeitlich und thematisch, hier hätte ich mir etwas mehr Struktur gewünscht. Der Rest des Buches war für mich äusserst interessant, sogar über Morrisseys Privatleben - bzw. seine vieldiskutierte freiwillige celibacy - erfährt man ein wenig: seine erste ernsthafte Beziehung hatte er Mitte dreissig mit einem Mann namens Jake. (Einer Pressemitteilung zufolge sieht sich Moz allerdings eher als "humasexual" denn "homosexual", falls das weiterhilft.) Ein Kritikpunkt ist die unvermeidliche Giftigkeit vieler Passagen - endlos schreibt sich, so scheint es, die Liste der Menschen fort, die von Morrissey "gerettet" worden sind und ihn schliesslich böswillig verraten haben - und der Abschnitt über die gerichtlichen Auseinandersetzungen über Smiths-Erträge des Schlagzeugers Mike Joyce ziehen sich geradezu ewig hin und jeder kriegt sein Fett gleich mehrfach weg. Wenn jemand einmal als Böser gebrandmarkt ist, schreckt Morrissey auch nicht vor ziemlich fiesen Kommentaren über Aussehen und mangelnde Eloquenz der betreffenden Personen zurück. Leider lässt sich (naturgemäss) oft nicht erschliessen, in welchem Ausmass die Fehler tatsächlich bei den "anderen" liegen und wie gross umgekehrt der Anteil von Morrisseys Selbstverklärung ist - aber das ist wahrscheinlich auch gar nicht nötig und Privatsache der Beteiligten.
    Insgesamt handelt es sich hier um Pflichtlektüre für alle Fans, frisches Futter für alle Hasser, und eine über weite Strecken wirklich interessante und stellenweise etwas langwierige und ermüdende Lebensbeichte für alle anderen, so sie denn, durch welchen Zufall auch immer, über dieses Buch stolpern sollten - geschrieben von einem höchst sensiblen, überaus intelligenten, hoffnungslos narzisstischen und wohl auch einigermassen verbitterten Zeitgenossen, der meiner unmassgeblichen Meinung nach einer der grössten Lyriker der Popmusik ever ist. Wie so oft steht vermutlich, das ist jedenfalls mein Gefühl, Unsicherheit hinter der Arroganz, besonders deutlich wird das gegen Ende, als Morrissey unermüdlich und immer wieder die Begeisterung beschreibt, die ihm bei Konzerten entgegengebracht wird, während er gleichzeitig darüber reflektiert, dass er all das niemals einfach akzeptieren, damit zufrieden sein, es gut sein lassen kann. Aber wo käme man auch hin, wenn man es gut sein liesse, zumal es doch schlecht ist? Jedenfalls nicht dorthin, wo Morrissey ist - und ganz genau dort gehört er auch hin: auf einen Sockel, eine lebende Ikone.
    Für all das kann es vielleicht keine volle Punktzahl geben, jedoch auch keine Ratte weniger als:
    4ratten & :marypipeshalbeprivatmaus:


    ---
    PS.
    Morrissey hat übrigens in keinem Geringeren als Terry Eagleton einen besseren Fürsprecher als mich gefunden, hier der Link zu seiner Rezension im Guardian:
    http://www.theguardian.com/boo…raphy-by-morrissey-review