Ich finde, Antonia Michaelis hat eine tolle Art, den Leser durch die Kindheitserinnerungen von Akelei auf eine Art Zeitreise zu schicken. Das ganze ist so gelungen in die Handlung eingebunden, dass es nicht konstruiert wirkt. Akelei sieht, hört oder riecht etwas und schon schweifen ihre Gedanken zurück, zum Beispiel zu dem misslungenen Gerburtstagsfest.
Dass der geheimnisvolle fremde Mann, der Fin Pauls Mutter besucht, Akeleis Vater sein könnte, hat mich komplett schockiert. Für einen Arzt ist es natürlich auch viel besser, wenn man mit einer linientreuen Frau verheiratet ist, die auf den "richtigen" Veranstaltungen und Vorträgen gesehen wird. Sonst bleiben womöglich irgendwann die Patienten aus...
Danach tun sich weitere Abgründe auf: Fins Bruder unternimmt einen Fluchtversuch; sein Begleiter wird tot aufgefunden. Man erfährt nicht, ob Henner es geschafft hat. Wer Berlin besucht, sollte sich unbedingt das Mauermuseum am Checkpoint Charlie ansehen. Die Atmosphäre dort ist sehr beklemmend; angesichts der ganzen teilweise hochriskanten Fluchtversuche kann man nur erahnen, wie verzweifelt die Menschen damals gewesen sein mussten, um dieses Risiko einzugehen :sauer:
So langsam laufen meine Theorien mit mir Amok: Was, wenn der 18jährige Johann das leibliche Kind von Akelei und Fin Paul ist? Ich könnte mir vorstellen, dass Fin Paul ebenfalls einen Fluchtversuch unternommen hat und dabei umgekommen ist. Akelei wurde ebenfalls gefasst; ihr wurde das Kind weggenommen und dann kam sie erst mal in Haft. Die ganzen Erlebnisse haben sie so traumatisiert, dass sie diesen Teil ihrer Erinnerungen komplett verdrängt hat. Da ihre Eltern als linientreue DDR-Bürger galten, konnten sie sich für Akelei einsetzen und dafür sorgen, dass sie mit dem Genossen Hermann verheiratet wurde, um nicht noch einmal in die Schusslinie der Stasi zu geraten....
Andererseits - wenn Fin Paul bis München gekommen ist, muss ihm die Flucht ja doch irgendwie geglückt sein, oder? Vielleicht sollte Akelei nachkommen und es ist ihr nicht gelungen oder sie wurde verraten?
Sehr eindrücklich fand ich die Szenen mit Katharina und der "geliehenen Trauer". Jemand, der nicht mal eine eigene Traurigkeit oder Trauer besitzt, muss schon ganz arm dran sein, genauso wie jemand, der sich über nichts freuen kann. Wer beides nicht kennt, ist für mich kaum menschlich und lebt irgendwie sein Leben unter einer sicheren Käseglocke. Kein Wunder, dass Katharina selbst eine geborgte Trauer diesem Zustand vorzieht!
Wer hat damals das Feuer gelegt, bei dem das Haus der Familie Paul niedergebrannt ist? Gibt es da einen Zusammenhang zu dem Brand bei Johann? Zum Glück hat Akelei das Schlimmste verhindert. Aber Johanns Reise in die Vergangenheit scheint jemanden zu stören. Es gibt da wohl Dinge, die nicht ans Tageslicht treten sollen. Hängt das mit der Flucht von Fins Bruder und dem Suizid seiner Mutter zusammen?
Ich frage mich auch, warum der Mensch im Wollpulli ein Interesse daran hat, dass Vergangenes vergangen bleibt. Sind es persönliche Gründe (womit ich die zwischenmenschlichen Beziehungen meine) oder handelt es sich bei dem mysteriösen Fremden um einen ehemaligen Stasi-Spitzel, der nicht möchte, dass seine eigene Rolle in den damaligen Ereignissen aufgedeckt wird?
Genau diesen Gedanken hatte ich auch. Obwohl Ronald doch so viel jünger sein muss als Elsbeth, oder?
Ich fand es auch ein bisschen auffällig, als beschrieben wurde, dass Ronald zu allen Vorträgen des Frauenvereins mitgeht oder dass Akeleis Mutter ihm die Hand tätschelt... Aber ich würde es ihr wirklich gönnen, wenn da etwas gelaufen ist. Immerhin vergnügt sich ihr sauberer Ehemann mit der "Wilden"
Ich finde Akeleis Mann Hermann auch irgendwie sonderbar. Er wirkt so distanziert. Warum tut er nichts. Für mich ist es, als säße er still zu Hause, lebe sein Leben weiter und wundere sich nur ein wenig. Komisch!
Es passt irgendwie. Vermutlich hat er 18 Jahre lang in dem Glauben gelebt, dass seine Frau die glücklichste Ehefrau der Welt ist, und jetzt versteht er die Welt nicht mehr. Irgendwie erinnern mich Fin Paul und Hermann in ihrer Gegensätzlichkeit an Werther und Albert in "Die Leiden des jungen Werther" - der eine jemand, den Menschen selbst nach kurzer Bekanntschaft nie wieder vergessen können, der andere so unauffällig, wie man nur sein kann. Hermann scheint mir kein schlechter Mensch zu sein, aber er ist definitiv nicht der Richtige für Akelei.
Ich bin sehr gespannt, wie sich die Geschichte weiter entwickeln wird und wo die Reise für Johann und Akelei weiter geht. Ich mag München, aber in diesem Buch war es mir ehrlich gesagt schon zu weit weg von der unheimlichen Atmosphäre in Akeleis Heimatdorf. Wenn es nach mir ginge, würden die beiden in verlassenen oder verfallenen Gegenden der ehemaligen DDR weitersuchen. Das scheußliche KDF-Gebäude in Prora (wir waren in der Jugendherberge dort auf Klassenfahrt) würde sich ausgezeichnet als Handlungsschauplatz eignen!