„Flughunde“ - Roman einer Parallelwelt zwischen Realität und Fiktion
Inhaltliches:
Abwechselnd erzählen der Stimmforscher Hermann Karnau und die Tochter des Propagandaministers, Helga Goebbels, von ihrem Leben unter dem Hitler-Regime. Der Tontechniker beschäftigt sich intensiv mit der Aufzeichnung und Erforschung menschlicher Stimmen. Sein Plan ist es, eine Karte zu erstellen, die alle möglichen Laute (Klagelaute, Hustlaute, usw.) kartographiert. Zunächst benutzt er Pferde- und Schweineschädel und seziert diese, um die Funktion des Kehlkopf zu erforschen.
Bei Großkundgebungen Goebbels` hat er dafür zu sorgen, dass der Redner auf allen Plätzen gut zu hören ist. Goebbels ist mit seiner Arbeit sehr zufrieden, und als seine Frau Magda das 6. Kind entbindet, vertraut er die fünf anderen Kinder vorübergehend Hermann Karnau an. Durch seine Bekanntschaft mit Goebbels wird Hermann die Möglichkeit geboten, dass er um eine Einberufung als Soldat umhin kommt. Karnau nutzt im Weiteren die Parteilinie auf unmenschliche Weise, um seine eigenen Interessen voranzutreiben.
Währenddessen erlebt Helga den Krieg auf ihre Weise: die Luftangriffe, die Einquartierung von Flüchtlingen, die Nahrungsmittelknappheit, sie können nicht mehr einfach rausgehen und spielen - und erst die beklemmende Atmosphäre im Sportpalast, während ihr Vater sich am Rednerpult in Ekstase redet und den totalen Krieg heraufbeschwört und die Massen fanatisiert.
Gegen Ende des Krieges kommen Hermann und Helga wieder zusammen, in Hitlers Bunker. Was dort noch passiert und warum das Buch schließlich in das Jahr 1992 springt, das lese man doch besser selbst!
Eigene Meinung:
Marcel Beyer lässt dokumentarisches Material (Namen, Orte, Daten) in seine eigenen fiktionalen Zusammenhänge einfließen. Vor allem den Medien kommt auch in diesem Roman Beyers eine besondere Bedeutung zu. Durch die von Stimmen, Tönen und Akustik besessene Figur des Hermann Karnau wird folgendes für den Leser besonders deutlich: Zum einen wird das Dritte Reich als Medien- Phänomen entlarvt (Aufmärsche, Radiodurchsagen, Bücherverbrennungen, v.a. im Zuge der Entwelschung im Elsass). Zum anderen werden die unterschiedlichsten Erscheinungsformen akustischer Propagandamittel deutlich und somit auch die Massensuggestion durch eine optimale Beschallung bzw. Mikrophoneinsatz.
Dem Leser wird hier ein Roman geboten, den man so schnell nicht wieder weglegen kann, der einen in den Bann zieht, traurig macht, fassungslos, fragend, ... Kurzum: Ich empfehle dieses Buch, weil es anders ist, als all die üblichen Romane, die man zum Thema Nazi-Deutschland kennt. Das Doppelleben Karnaus, die kindliche und doch schon erwachsene Sicht Helgas, geht unter die Haut und bietet einen fast erschreckend authentisch wirkenden Einblick in die Zeit des Dritten Reichs.
„Beyer erklärt nicht die Katastrophe der Unmenschlichkeit, er führt sie zurück auf die historischen Individuen auf ihr Ichgefühl, ihre Dispositionen, ihre Ticks und fixen Ideen, all das, was ab einem bestimmten Zeitpunkt, getragen von einem suggestiven öffentlichen Diskurs zu einer kollektiven Obsession zusammenschoß.“
(Thomas E. Schmidt)
Ich gebe deshalb keine 5 Ratten, weil die Ausführungen zur Akustik, Technik, Sprache etc. für meinen Geschmack teilweise zu länglich waren:
[size=1]EDIT: Betreff angepasst. LG, Saltanah[/size]