Aber diese Aussagen stehen doch alle in einem eindeutigen Kontext: Robb darf nicht mit einem richtigen Schwert trainieren, aber er hat gelernt, worauf es in den Augen seiner Familie ankommt: eine Armee zu führen, seinen Gefolgsleuten ein Beispiel sein etc. Joffrey dagegen darf natürlich alles, auch mit einem scharfen Schwert trainieren, aber gerade das zeigt ihn als verwöhntes Balg, das ohne einen Ratgeber wie Tyrion aufgeschmissen wäre. Und Jaime wird ja geradezu dadurch charakterisiert, dass er sehr jung in eine hohe Position gelangt ist und die Menschen ein entsprechend festgefahrenes Bild von ihm haben.
Meiner Ansicht nach legt die Geschichte überhaupt nicht nahe, dass die Altersvorstellungen denen unserer Welt ähnlich sind. Die Adelsfamilien erwarten ständig von ihren Kindern, dass sie sich sehr früh wie Erwachsene verhalten, und geben ihnen auch sehr früh Befehlsgewalt über andere Menschen. Erscheinen Kinder zu sorglos, werden sie als »Sommerkinder« bezeichnet und vor dem kommenden Winter gewarnt. Joffrey und Lysas Sohn können andererseits als Beispiele dafür gelten, welche negativen Folgen es hat, wenn selbstsüchtigen Kindern Autorität über andere verliehen wird. Catelyn missbilligt, dass ihre Schwester ihren Sohn nicht richtig auf seine zukünftige Aufgabe vorbereitet. Für mich stellt sich die Sache eher so dar: Kinder westerosischer Adelsfamilien werden in sehr jungem Alter in Erwachsenenrollen gedrängt, auch dann, wenn sie nicht über die entsprechende Reife und Erfahrung verfügen. Dieses System scheint in Westeros niemand zu hinterfragen, und wenn es nicht funktioniert, wird dies dem Individuum angelastet.
Na ja, nur weil Robb gelernt hat, wie er sich verhalten soll, heißt das noch lange nicht, dass seine Meinungen auch ernst genommen werden können oder sollen. Die Tatsache, dass er einige Zeit zuvor noch nicht mit einem Schwert trainieren durfte, zeigt aber doch, dass er nicht als vollwertiger Mann anerkannt wurde. Nicht nur weil er nicht mit dem richtigen Schwert kämpfen darf, sondern auch weil das nicht seine Entscheidung ist. Natürlich verändert sich seine Verantwortungslage, dennoch erscheint das in meinen Augen weit hergeholt, dass er plötzlich den Respekt einer Armee hat.
Wenn ich sage, dass die Altersvorstellungen unserer Welt ähnlich sind, meine ich viel weniger die Altersrollen oder -aufgaben (natürlich ist man in unserer Welt mit elf nicht alt genug für eine Verlobung!), sondern wann eine Person Kinder- oder Erwachsenenstatus hat. Jon beispielsweise wird andauernd als 'grün' bezeichnet, bis er sich den nötigen Respekt erarbeitet hat. Genauso würden wir einen Fünfzehnjährigen auch zunächst als jung und unerfahren annehmen, bis er eben seine Reife bewiesen hat. Robert will ja auch erst mal Ned zum Herrscher machen, weil Joffrey noch zu jung sei. Nur weil die Kinder in Rollen gedrängt werden und Macht haben, heißt das ja nicht, dass sie von den anderen Bewohnern dieser Welt als Erwachsene empfunden werden!
Okay, jetzt verstehe ich besser. Martin verwendet halt durchgehend das Prinzip »Show, don't tell«, also ein aus den visuellen Medien übernommenes Verfahren. Ich vermute, dass gerade deshalb so viele von A Song of Ice and Fire fasziniert sind. Die Möglichkeiten zur Charakterzeichnung und zum Vermitteln von Hintergrundinformationen schränkt es natürlich ein, und dem Format Fernsehserie nähern sich die Bücher dadurch eher an, als sich von ihm abzusetzen. Nähere Informationen über irgendeinen Ort in Westeros erhält man in der Regel erst, wenn POV-Charaktere sich dort hinbegeben. Und die Komplexität der Figuren zeigt sich eher darin, dass es oft zu überraschenden Perspektivwechseln auf sie kommt: Jaime z.B. wirkt in seinen POV-Kapiteln völlig anders als in der Sicht, die andere POV-Charaktere auf ihn haben.
Ich würde sagen: Innerhalb der Begrenzungen seines Erzählprinzips nutzt Martin seine Möglichkeiten optimal, aber das hebt natürlich die Begrenzungen nicht auf. Letztlich ist das ja die große Frage: Wird Martin es schaffen, die sich immer weiter ausfächernde Handlung mit »Show, don't tell« darzustellen, oder wird er sich darin verhaspeln, dass er immer neue POV-Charaktere braucht und das Werk dadurch immer mehr ausufert, ohne zum Ende zu kommen?
Da bin ich anderer Meinung. Ich denke nicht, dass die Leser deswegen fasziniert sind, weil er den discours vernachlässigt; vielmehr verzeiht man ihm diese Vernachlässigung durch die hervorragene histoire. Du siehst das als optimale Ausnutzung seiner Möglichkeiten, ich als klare Missachtung seiner Möglichkeiten. Natürlich ist es eine faszinierende Geschichte, aber ist es auch literarisch wertvoll?
Danke für das Beispiel mit Jaime ([size=5pt]entschuldige übrigens die vorherige Falschschreibung[/size]) - im ersten Buch gibt es diese Kapitel nicht und genau so etwas hat mir gefehlt! Vielleicht muss ich doch weiterlesen, um zu sehen, ob es besser wird.