Rabindranath Tagore – Gora

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    Inhalt: Gora und Binoy sind eher Brüder als Freunde, allerdings ist Gora der bestimmende Part. Aus Brahmanenfamilien stammend legt Gora mehr Wert auf die Einhaltung der hinduistischen Regeln und Traditionen als Binoy. Das verschärft sich noch, als Binoy durch Zufall Kontakt zur Familie von Poresh-Babu bekommt, die dem Brahmo-Samaj angehören, einer hinduistischen Splittergruppe, die wegen ihrer Einstellungen oft in die Nähe des Christentums und damit der britischen Herrscher gerückt wird. Ist es zunächst Poresh-Babus Ziehtochter Sucorita, die Binoy fasziniert, so entspinnt sich bald eine problematische Liebe zwischen ihm und Lolita, einer anderen Tochter. Obwohl die beiden zunächst gar nicht an eine Heirat denken, da sie aus unterschiedlichen Gemeinschaften kommen, die einen Abfall zur jeweils anderen Seite nicht tolerieren würde, sprudeln schon bald die Gerüchte und beide werden von verschiedenen Seiten heftig unter Druck gesetzt. Für Binoy ist besonders schmerzhaft, daß Gora sich von ihm abwendet.


    Gora hat eine recht festgefügte Vorstellung von Indien, seiner (moralischen und sonstigen) Größe aus der Geschichte heraus und engagiert sich gegen die englische Herrschaft. Was er nicht weiß (der Leser aber recht früh erfährt): Er ist gar nicht der Sohn seiner Eltern, sondern ein angenommenes Kind britisch-irischer Eltern. Durch Binoy hat auch Gora Kontakt ins Haus Poresh-Babus und vor allem Sucorita läßt ihn nicht kalt, auch wenn er sich nicht eingestehen will, was da mit ihm passiert. Bei einer Reise ins Umland von Kalkutta erregt er das Mißfallen einiger Beamter und landet für einen Monat im Gefängnis. Von dort zurückgekehrt, beginnt er mit den Vorbereitungen für eine große Reinigungszeremonie, da er sich durch die Haft „befleckt“ fühlt. Die Auflösung sämtlicher Gefühlsverwirrungen und religiösen Knoten braucht dann noch ein paar Schlenker.



    Meine Meinung: Gemeinhin kann ich mit Indien, diesem Kastenwesen und dem ganzen Drum und Dran nicht so furchtbar viel anfangen. Und so kann und will ich auch nicht behaupten, daß ich die religiösen Streitigkeiten problemlos und gerne verfolgt habe, in den Details habe ich sie eher achselzuckend zur Kenntnis genommen. Mangels entsprechender Kenntnisse sind mir sicher auch nicht alle Aspekte der politischen Ebene des Romans bewußt geworden, das beigegebene Nachwort versucht sich zwar an einer Einordnung, aber das half mir auch nur bedingt. Trotzdem war dies mal wieder ein Roman eines Literaturnobelpreisträgers, den ich mit einigem Interesse und durchaus gern gelesen habe.


    Gora erschien erstmalig 1910 und für seine 100 Jahre wirkt das Buch erstaunlich frisch. Nun sind Fragen nach Identität, die hier eine große Rolle spielen, ja eigentlich auch immer aktuell, aber das war es gar nicht so sehr – auch wenn ich diese Aspekte schon schlechter präsentiert bekommen habe. Viel interessanter waren zwei andere Punkte. Der erste betrifft die Ansichten von Sucoritas Vater Poresh-Babu über Selbstverantwortung und Achtung der Mitmenschen, mit denen er auch bei seinen Glaubensbrüdern nicht gerade Begeisterungsstürme entfacht. Das ist zwar verständlich, denn seine Ansprüche sind – wenn man es genau betrachtet – immens hoch und vermutlich nur von wenigen zu erreichen, aber das schließt ja zumindest ein Bemühen darum nicht aus. Mit ihm hat Tagore eine ungemein positive Figur geschaffen, der ich auf ihren Gedankengängen gerne gefolgt bin und der mich manchmal nachdenklich gemacht hat. Er ist neben Binoy eigentlich auch die einzig wirklich positive männliche Figur in diesem Roman, bei den Frauen ist das Verhältnis gerade umgekehrt und damit komme ich zum nächsten Punkt.


    Dieser betrifft nämlich das Frauenbild in diesem Roman. Vor allem die Töchter von Poresh-Babu aber auch Goras Mutter Anondomoyi sind keine gut versteckten Hinterzimmerschönheiten, sondern durchaus selbstbewußte Frauen, die sich nicht alles sagen lassen, schon gar nicht von Männern. Wenn man sich überlegt, daß 1910 das Frauenwahlrecht selbst in Europa noch kein rechtes Thema war, dann wirken diese Frauen erstaunlich emanzipiert. Tagore läßt vor allem Gora einen drastischen Lernprozeß durchmachen, an dessen Ende die Erkenntnis des jungen Mannes steht, daß Indien nicht zu eigenständiger Stärke und Größe finden kann, wenn es die Hälfte seiner Bevölkerung ignoriert. Das dürfte in Bengalen zu jener Zeit vermutlich auch eine recht revolutionäre Ansicht gewesen sein.


    Insgesamt hätte es der ein oder andere Schlenker zwischen Ich-lieb-Dich-Ich-lieb-Dich-nicht und Ich-wechsle-meine-Religion-Ich-wechsle-meine-Religion-nicht sein dürfen, aber insgesamt fand ich es durchaus lesenswert.


    3ratten + :marypipeshalbeprivatmaus:


    Schönen Gruß,
    Aldawen