Kindlers Literaturlexikon, 3. Auflage 2009

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    17 Bände und 1 Registerband umfasst die neue Auflage des Kindler Literaturlexikons. Nicht nur schöngeistige Werke sind diesmal enthalten, sondern auch wesentliche Beiträge aus der Fachliteratur. Bei dem enormen Wissensschatz unserer Gesellschaft wird man natürlich insbesondere im Bereich der Fachliteratur auch vieles vermissen, wie ich es für den Bereich der Wirtschaftswissenschaften feststellen konnte. Aber diese Art der Krittelei liegt in der Natur der Sache, das Buchprojekt ist nun einmal auf etwa 14500 Seiten beschränkt.


    In allen großen Tageszeitungen wurde der neue Kindler besprochen, die m.E. gehaltvollste Rezension liefert Volker Weidermann in der FAZ:
    FAZ-Rezension


    In meiner Rezension möchte ich exemplarisch die Unterschiede zwischen der 2. und 3. Auflage aufzeigen. Dazu liegt mir der Band 11 (Mas – Nek) (also von Masamuno Hakucho bis Viktor Nekrasov) vor. Zum Vergleich ziehe ich amerikanische Autoren gleichen Buchstabens heran, die im Sammelband „Hauptwerke der amerikanischen Literatur“, sozusagen in einem Best-of der 2. Auflage des Kindler, versammelt wurden.
    Es gibt vier Arten von Artikeln:
    1. Vollkommen neu geschriebene Artikel
    2. Vom selben Autor überarbeitete Artikel
    3. Von einem neuen Autor überarbeitete Artikel
    4. Übernommene Artikel


    Ich nehme das Ergebnis meiner Analyse vorweg und stelle fest, dass grundsätzlich auffällt, dass sich die Artikel der 3. Auflage wesentlich besser lesen lassen. Wie ich noch zeigen werde, sind dazu in einigen Fällen manchmal nur sehr kleine Korrekturen notwendig, um die Verständlichkeit deutlich zu erhöhen.
    Als erstes Beispiel greife ich Pnin von Vladimir Nabokov heraus. Der Artikel stammt in beiden Fällen von Dieter E. Zimmer, dem Herausgeber der so schönen Nabokov-Ausgabe im Rowohlt-Verlag.


    Die zweite Auflage beginnt wie folgt:


    Zitat

    Roman von Vladimir Nabokov, erschienen 1957. – In sieben aufs sorgfältigste komponierten Kapiteln portraitiert der Roman den am Schluß des Buches, 1954, sechsundfünfzig Jahre alten Timofej Pavlovic Pnin, der am Waindell-College im Staat New York vor allem dank der Protektion durch den Leiter der Deutschen Abteilung, Dr. Hagen, eine „praktisch tote Sprache“ lehrt, nämlich seine russische Muttersprache; die geringe Zahl und Ignoranz seiner Schüler stehen in komischen Kontrast zu seinen immensen und ungefragten Kenntnissen der russischen Literatur- und Kulturgeschichte.


    Die dritte Auflage löst diesen Mammutsatz nun auf und formuliert wie folgt:


    Zitat

    Gleich im Anschluss an Lolita, 1955 (dtsch. 1959), zwischen 1951 und 1953 geschrieben, portraitiert der 1957 veröffentlichte Roman in sieben sorgfältig komponierten Kapiteln den am Ende des Buches 57-jährigen Timofei Pavlovich Pnin, der am Waindell-College im Staat New York seit 1945 eine „praktisch tote Sprache“ unterrichtet, seine russische Muttersprache. An seinen immensen Kenntnissen der russischen Literatur- und Kulturgeschichte besteht hier kein Bedarf; sein akademisches Überleben verdankt er allein der Protektion des Germanisten Hagen.


    Interessant auch diese kleine Textstelle, die als Beispiel für ein stilistisches Lehrbuch herhalten könnte. In der 2. Auflage heißt es


    Zitat

    … Liza Wind, einem wankelmütigen und selbstsüchtigen Wesen, das ihn immer nur ausgenutzt hat …


    Die 3. Auflage ersetzt nun „Wesen“ durch „Figur“, wodurch der sich anschließende Relativsatz sowohl auf Liza passt als auch auf Figur und dadurch flüssiger lesbar ist:


    Zitat

    … Lisa Wind, einer wankelmütigen und gefühllosen Figur, die ihn immer nur ausgenutzt hat …


    Der Schluss ist in der 2. Auflage doch akademisch verschwurbelt:


    Zitat

    Die Romanfigur also flieht vor einem Vexierbild ihres Autors; vielmehr: Der Autor läßt sein Geschöpf davor fliehen, während er es dingfest macht.


    Gerade dieses „dingfest machen“ verstehe ich auch nach längerer Überlegung nicht so recht, in der 3. Auflage wird daraus:


    Zitat

    Die Romanfigur flieht am Ende also vor ihrem Erzähler, oder vielmehr: Der Autor, der als solcher beider Herzen kennt, lässt sein Geschöpf vor seinem eigenen Double fliehen.


    Die dann folgenden Sekundär-Literaturhinweise sind in der 3. Auflage fast komplett gelöscht, nur noch 3 Werke werden zitiert, während in der 2. Auflage noch 14 Werke sowie alle verfügbaren Ausgaben und Übersetzungen aufgelistet werden.


    Blättert man ein wenig vor, stößt man auf Toni Morrison und ihr Werk „Menschenkind“. Der Artikel dazu wurde vollständig neu geschrieben. Das Gegenüberstellen von Zitaten fällt hier natürlich schwer. Ich zitiere den einleitenden Absatz beider Artikel:


    Zitat

    Roman von Toni Morrison, erschienen 1987. – Morrisons fünfter Roman, 1988 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet, setzt konsequent ihr Programm fort, das Leben der Schwarzen in Amerika aus eigener (schwarzer, weiblicher) Perspektive zu gestalten, für das die Autorin 1993 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wurde. In zeitlicher Ausweitung ihrer fiktionalen Welt wählt Toni Morrison hier einen historischen Stoff auf der Zeit der Sklavenbefreiung. Die Bildkraft ihrer Sprache ist sogar noch gesteigert.


    Auf den Hinweis mit dem Nobelpreis kann in der 3. Auflage im Artikel verzichtet werden, da sogenannte Biogramme, wenige Zeilen zum Lebensweg eines Autors, vorangestellt werden. Im Falle von Morrison 9 Zeilen.


    Zitat

    Der 1987 erschienene und 1988 mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnete Roman gehört zur Gattung der „Neo-Slave Narratives“, die ab den 1960er Jahren einen wichtigen Beitrag zur US-amerikanischen Literatur leisteten. Daneben steht Morrisons fünfter Roman am Anfang einer Trilogie, die sich mit dem Thema Liebe beschäftigt: Während „Beloved“ die Gefahren übermäßiger Mutterliebe zu Zeiten der Sklaverei und der „Reconstruction“ (der Neuordnung des Südens nach dem Bürgerkrieg) beschreibt, handelt „Jazz“, 1992 (Jazz, 1993), von den tödlichen Folgen romantischer Liebe im Harlem der 1920er Jahre, und Paradise, 1998 (Paradies, 1999), von der Liebe zu Gott.


    Gut gefällt mir die Leserführung des Autors durch den Roman, die man in der 2. Auflage vergeblich sucht:


    Zitat

    Der Roman ist in drei Blöcke unterteilt, die insgesamt 28 Kapitel umfassen. Die Handlung wird nicht linear und chronologisch präsentiert, sondern der Leser muss sie aus den Erinnerungen der einzelnen Figuren zusammensetzen. Die Erzählung beginnt 1873 …


    Ein letztes Beispiel, diesmal ist es der Artikel „Moby-Dick, or, The Whale“. Daniel Göske überarbeitet die Version von Klaus Ensslen aus der 2. Auflage. Auch hier machen die ersten Sätze die Unterschiedlichkeit beider Auflagen deutlich. Ich beginne wieder mit der 2. Auflage:


    Zitat

    Roman von Herman Melville, erschienen 1851. – Ishmael – in der Bibel der Prototyp des von der Gemeinschaft mit Gott Ausgestoßenen, bei Melville ein freischaltendes Individuum ohne Vorgeschichte oder sichtbare Verbindung zu anderen Menschen – beschließt, wieder einmal zur See zu gehen, um einer gewissen Lebensunlust und Melancholie entgegenzuwirken. „Wasser und Meditation“ sind von jeher für ihn auf engste verbunden; wie jeder junge Mensch mit einer „robusten, jungen Seele“ sehnt er sich nach Seefahrt, sucht er „das Abbild des unfassbaren Phantoms des Lebens“ in den Spiegelungen der Flüsse und Ozeane.


    In der dritten Auflage verzichtet man weitgehend auf wörtliche Zitate aus dem Werk oder baut sie erheblich geschickter in die Texte ein und erhöht somit deren Lesbarkeit:


    Zitat

    Der bedeutendste Roman des Autors, die Frucht weiter Reisen und ausgedehnter Lektüre, wuchs und wucherte in mehreren Schüben von Frühjahr 1850 bis kurz vor seiner Publikation im Herbst 1851. Er verbindet die realistische Schilderung des Walfangs mit einer tragischen Handlung und einer romantisch-symbolischen Weltdeutung in poetischer Prosa. Das Buch missachtet fast alle Gattungskonventionen, wie schon die vorangestellten Literaturzitate über den Wal andeuten. […] Mit seinem Ich-Erzähler schuf sich Melville eine ideale Sprecherfigur. Zu Beginn des ersten Kapitels gibt sie sich den ominösen Namen Ishmael und verweist so auf den biblischen Prototyp des Verwaisten und Ausgestoßenen (1. Mose 16). Dieser Ishmael, ein an Land gescheiterter junger Mann aus ehemals gutem Hause, beschließt, wieder einmal zur See zu gehen, um seiner Melancholie entgegenzuwirken und sein Fernweh zu stillen. „Wasser und Tiefsinn“ sind für ihn aufs Engste verbunden, und auf See sucht er „das Bild des unbegreiflichen Phantoms des Lebens.“


    Schöne Grüße,
    Thomas