[Nigeria] Ben Okri – Songs of Enchantment

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    Inhalt: Unmittelbar an die Ereignisse in Die hungrige Straße anschließend, verläßt die Mutter die Familie, um für Madame Koto, die Barbesitzerin, zu arbeiten. Die Armut einerseits sowie andererseits die mythische Welt und die Tagträumereien, in die sich ihr Mann geflüchtet hat, will sie hinter sich lassen, gerät damit aber in den nicht weniger mythischen Bannkreis von Madame Koto. Indessen versuchen Azaro und sein Vater sich durchzuschlagen und die Familie wieder zu vereinen, aber die Geisterwelt, die immer noch Azaro zurückholen will, hat mittlerweile auch Zugriff auf seinen Vater. Zudem wird das Viertel von gewaltsamen, politischen Unruhen erschüttert, die neben viel Zerstörung auch Tote zur Folge haben. Das Leben aller im Viertel wird dadurch verändert, Mißtrauen und Angst breiten sich aus. Ein unbegrabener Leichnam mit seinen Ausdünstungen der Verwesung sorgt für eine nahezu kollektive Blindheit im Viertel, die nicht nur den Einfluß der Geisterwelt weiter stärkt, sondern auch den Druck der um die Macht streitenden Parteien, der von den Menschen ängstlich ertragen wird, erhöht. Eines der ersten Opfer der Blindheit ist Azaros Vater, der dadurch unter besonderen spirituellen Druck von Madame Koto gerät. Azaro und sein Vater suchen nach einer Möglichkeit, den Toten endlich ordnungsgemäß zu bestatten, um die Blindheit zu besiegen und zu beenden ...



    Meine Meinung: Was sich hier wie eine nacherzählbare Handlung anhört, auch wenn sie einen starken phantastischen Einschlag hat, muß man sich als Leser aus dem Roman schon sorgfältig zusammensuchen. Schwankte in Die hungrige Straße die Handlung noch zwischen der realen und der Geisterwelt hin und her, so wird die Erdung hier zugunsten des mythischen Aspektes nahezu vollständig aufgehoben. Nur noch wenige reale Ereignisse dringen spürbar an die erzählte Oberfläche, sie sind offensichtlich von der frühen postkolonialen Phase Nigerias inspiriert, spielen aber als solches keine eigenständige Rolle. Alles hat seine tieferen Bezüge und seinen Grund in der nicht sichtbaren Welt, die Azaro als abikú, als Geisterkind, genauer wahrnimmt als andere Menschen, auch wenn hier viele Leute gleichfalls mit Erscheinungen, Visionen und Geistern konfrontiert sind.


    Was der Erzählung in Die hungrige Straße zudem Kontur gab, die Konzentration auf wenige, immer wieder aufgesuchte Orte, auf feste Handlungen oder Gegenstände, fehlt hier nahezu völlig. Zwar spielt Madame Kotos Bar immer noch eine große Rolle, aber kaum in ihrer eigentlich Funktion als Bar. Vielmehr ist sie, wegen Madame Kotos eigener riesiger spiritueller Kräfte, ein Kristallisationspunkt für eine Reihe phantastischer Ereignisse und Treffpunkt für mythische oder magische Wesen, die von hier in die Umgebung ausstrahlen und wirken. Besondere Bedeutung kommt hierbei der schakalköpfigen Maske und dem alten, blinden Mann zu, letzterer schon ein eher unangenehmer Zeitgenosse im Vorgängerbuch.


    Man könnte zwar manches auch als Allegorie lesen, aber das wäre nicht der richtige Ansatz, da es Okri vermutlich nicht darum zu tun war (höchstens als ein Nebeneffekt). Es trüge auch nicht durch den ganzen Roman. Vielmehr muß man sich hier, mehr noch als in Die hungrige Straße auf das afrikanische Verständnis der Geisterwelt als einer Parallelwelt, die von der unseren nicht völlig geschieden ist, einlassen und die phantastisch erscheinenden Wesen und Handlungen als Realität annehmen. Obwohl ich glaube darin inzwischen ein wenig Übung zu haben, muß ich gestehen, daß es mir hier über die Dauer des Romans doch schwer fiel. In Anlehnung an den magischen Realismus Lateinamerikas hat man Okris Stil als spiritual realism bezeichnet, was mir als Charakterisierung durchaus gut gefällt. Aber ein bißchen weniger spiritual und ein bißchen mehr realism wäre mir in diesem Fall doch lieb gewesen.


    3ratten


    Schönen Gruß
    Aldawen