[Sierra Leone] Syl Cheney-Coker – Der Nubier

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    Autor: Syl Cheney-Coker
    Titel: Der Nubier
    Originaltitel, Jahr: The Last Harmattan of Alusine Dunbar, 1990
    Übersetzung aus dem Englischen: Thomas Brückner
    Verlag: Peter Hammer Verlag
    ISBN: 978-3-87294-726-5
    Ausgabe: Hardcover
    Seiten: 558


    Inhalt: Nach einem mißglückten Putsch wird General Tamba Masimiara inhaftiert und wartet auf seine Hinrichtung. Während er auf einer vom Atlantik umtosten Insel im Gefängnis sitzt, zieht die Geschichte Malaguetas in seinen Gedanken vorbei. Vor langer Zeit kam Suleiman, der Nubier, nach Kasila und sagte den Menschen dort die Zukunft voraus, was er auch in den nächsten Jahrhunderten immer wieder tun wird. Tatsächlich kommen eines Tages schwarze Menschen übers Meer, um dort zu siedeln, es handelt sich um frühere Sklaven aus Amerika, die auf Seiten der Briten im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg gekämpft haben und zur Belohnung freigelassen wurden. Viele von ihnen haben sich entschlossen, in die Heimat der Vorfahren zurückzukehren, so auch Sebastian und Jeanette Cromantine, die zu wichtigen Persönlichkeiten in der neuen Siedlergemeinschaft werden, ebenso wie Gustavius Martins, der als einziger eine einheimische Frau, Isatu, heiratet. Der ersten Siedlung ist nicht viel Glück beschieden, nach Auseinandersetzungen mit den einheimischen Nachbarn, löst sie sich quasi auf bis aus Kanada Thomas Bookerman mit einer weiteren Gruppe ankommt.


    Der zweite Siedlungsversuch gelingt besser, die Strukturen der Gemeinschaft festigen sich, die Gemeinsamkeiten im Schicksal sorgen für eine recht homogene Gesellschaft. Aber idyllisch bleibt es nicht, es folgt die Phase der Rekolonisierung durch die Briten, ungewollt von den Siedlern, heftig bekämpft, aber letztlich erfolglos, Denn das aufstrebende Malagueta hat eine Vielzahl weiterer Menschen angezogen, die hier ihr Glück machen wollen, und viele davon sehen in den Briten und ihrer Herrschaft einen Fortschritt. Gewalt in verschiedensten Formen wird ein Markenzeichen Malaguetas, und daran ändert auch der Wechsel vom britischen Kolonialregime zur Unabhängigkeit nichts: die neuen Herrscher, auch wenn sie aus Malagueta selbst kommen, interessieren sich nicht für die Geschichte ihres Landes und die Werte der ersten Ansiedler, sie plündern nur die Ressourcen zu ihrem eigenen Vorteil.



    Meine Meinung: Syl Cheney-Coker breitet hier in Form eines mehrere Generationen überspannenden Gesellschaftsromans die wesentlichen Etappen westafrikansischer Geschichte allgemein, vor allem aber von Sierra Leone und seiner Hauptstadt Freetown aus. Daher empfiehlt sich eine Beschäftigung mit dessen Grundzügen vor der Lektüre, da sich die wesentlichen Eckpunkte problemlos wiederfinden lassen und ein wenig Orientierung in diesem Opus zu geben vermögen. Nichtsdestotrotz handelt es sich nicht um einen einfachen historischen Roman, vielmehr verwebt Cheney-Coker hier Elemente der traditionellen Überlieferung, von Vorbildern aus der afrikanischen Literatur (so gibt es z. B. eine unverkennbare Hommage an Amos Tutuolas Der Palmweintrinker in einem Kapitel) und des magischen Realismus, der hier aber eine intensivere Form mit mehr Rückgriffen aus spirituelle Traditionen annimmt, als ich es aus lateinamerikanischen Romanen kenne. Wem der magische Realismus eines García Márquez allerdings schon zu viel ist, der wird an diesem Roman möglicherweise recht wenig Freude haben, da man sich bei der Lektüre nicht nur auf diese magische Ebene einlassen muß, damit die Geschichte funktioniert, sie ist eben auch durchdrungen von afrikanischem Geisterglauben, was den Zugang für „Ungeübte“ nicht gerade erleichtern dürfte.


    Bemerkenswert ist auch, daß hier die Frauen die weitaus stärkeren Personen sind und auch dank oder wegen ihrer Langlebigkeit ausgesprochen matriarchalische Züge entwickeln. Dabei bleibt aber Sexualität ein begrenzender Faktor für die persönliche Freiheit, egal, ob man dabei auf Fatmatta (eine Tochter des Nubiers, die als Sklavin nach Amerika verkauft wurde und mit der ersten Gruppe als alte Frau zurückkehrt), Jeanette Cromantine oder Isatu Martins schaut. Sobald es um Sexualität geht, wird Cheney-Coker gerne einmal deftig (wenn auch nie überzogen), davon sollte man sich jedoch nicht abschrecken lassen.


    Auch wenn die Geschichte zwischen Familienchronik, Phantastik und Historie oszilliert, so bleiben doch im wesentlichen zwei Punkte als zentral erhalten. Zum einen ist es die Selbstvergewisserung über Geschichte und Kultur, die gerade in einem Land wie Sierra Leone, wo Kreolen neben „echte“ Einheimische treten und gesellschaftliche Verwerfungen entlang dieser Linie verlaufen, von großer Bedeutung ist. Aus dem Bewußtsein einer gemeinsam gewachsenen Geschichte und kulturellen Tradition ließe sich vielleicht so etwas wie ein nationales Gefühl aufbauen. Zum anderen ist Cheney-Coker sehr explizit in seiner Kritik an den nachkolonialen Eliten, die die Machtübernahme vor allem als Freibrief zur Ausplünderung und Selbstbereicherung verstanden haben, sei es durch die Ausbeutung von Rohstoffen oder Diamanten oder sei es durch den Verkauf der eigenen Umwelt als Giftabladeplatz an den reichen Norden. Wie so viele seiner kritischen Autorenkollegen aus anderen afrikanischen Ländern ist auch Cheney-Coker auf Grund seiner Werke (vor diesem Roman hat er vor allem Gedichte veröffentlicht und als Journalist gearbeitet) ins Exil gegangen und lebt in den USA.


    4ratten + :marypipeshalbeprivatmaus:


    Schönen Gruß
    Aldawen