Ramiro Pinilla – Der Feigenbaum

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    Da ich bei der Einzelkriterienliste für den SLW in einer Kategorie den Joker gezogen habe, eröffne ich also schon mal den Thread für die geforderten lektürebegleitenden Postings.


    Klappentext: 1937, ein Jahr nach Beginn des Spanischen Bürgerkriegs. Francos Truppen haben das Baskenland erobert und machen wie überall mit den Anhängern der Republik kurzen Prozess. Mitten in der Nacht reißt das Säuberungskommando die Familie aus dem Schlaf. Als der Falangist Rogelio Cerón dem Lehrer und seinem ältesten Sohn die Hände auf den Rücken bindet, bleiben seine Augen an Gabino, dem Jüngsten, hängen. Unverwandt starrt der Kleine ihn an, sein Blick ist kalt und undurchdringlich. Eine unsagbare Wut steigt in Rogelio auf – doch der faschistische Ehrenkodex verbietet es ihm, ein Kind zu töten.
    Der Falangist hat in diesem Bruderkrieg schon viele erschossen, Gabinos Blick lässt ihn dennoch nicht mehr los. Und so treibt es ihn noch einmal an den Ort, wo sie Vater und Sohn erschossen haben. Jemand hat den beiden ein Grab geschaufelt und darauf einen Schössling gepflanzt. Er reißt ihn heraus, aber in der folgenden Nacht ist ein neuer gepflanzt – und Gabino steht hinter ihm. Wortlos stellt der Zehnjährige dem Falangisten eine volle Gießkanne vor die Füße. Sein Blick ist unmissverständlich. Rogelio ahnt, dass sein Leben fortan vom Wachstum dieses Feigenbäumchens abhängt ...


    Ramiro Pinilla gilt als einer der bedeutendsten baskischen Autoren der Gegenwart und hat mehrfach wichtige spanische Literaturpreise erhalten, so bereits 1960 den Premio Nadal sowie 2005 den Premio de la Crítica de narrativa castellana und 2006 den Premio Nacional de Narrativa. Nach Antonio Muñoz Molinas Die Nacht der Erinnerungen widme ich mich damit lektüremäßig erneut dem Spanischen Bürgerkrieg, diesmal aber nicht in Madrid und aus ganz anderer Perspektive. Ich bin schon sehr gespannt.

  • Zum Aufbau kann ich schon sagen, daß der Roman aus einem langem Mittelabschnitt besteht, der Rogelio Céron überschrieben ist, und zwei umgebenden recht kurzen Abschnitten, die Mercedes Azkorra zugewiesen sind. Den ersten Abschnitt habe ich gerade gelesen, und da in diesem Mercedes als Ich-Erzählerin auftritt und der zweite (wie ich schon kurz geprüft habe) ebenfalls einen Ich-Erzähler aufweist, wird dieser also wohl Rogelios Ich-Perspektive enthalten.


    Mercedes erzählt erkennbar rückblickend von Ereignissen dreißig Jahre zuvor, jenem im Klappentext genannten Jahr 1937. Für sie und die übrigen Bewohner des Ortes, dessen Größe ich nicht recht abschätzen kann, ist das Franco-Regime zu diesem Zeitpunkt bereits eine nicht mehr zu ändernde Tatsache, sie sind „befreit“, auch wenn sich längst nicht alle so fühlen. Viele Nachbarn sind abgeholt worden, von ihrem Verbleib weiß man nichts Definitives, aber wahrscheinlich sind sie tot. Etliche andere sind öffentlich erschossen worden. Und natürlich gibt es auch im Baskenland überzeugte Franquisten und die unvermeidlichen Trittbrettfahrer, die einfach nur von den Umständen profitieren wollen. Denunziantentum greift um sich, sei es, um alte Rechnungen bequem zu begleichen, oder sei es, um sich leicht an anderer Leute Gut zu bereichern. Dies war wohl auch das Schicksal der Familie García, Vater Simón und der älteste Sohn Antonio sind von Falangisten abgeführt worden. Später hat man der restlichen Familie eine Woche Zeit gegeben, das kleine Gut zu räumen und der neue Besitzer ist als zwielichtige Figur bekannt. Jeder weiß oder ahnt zumindest, daß er die Garcías denunziert hat und das Land seine Belohnung darstellt.


    Mercedes ist die einzige verbliebene Lehrerin im Ort, daher unterrichtet sie nicht nur die Mädchen, sondern auch die Jungen. Aber der Bürgermeister, selber Überläufer und Franco-Profiteur, hat sich für den Lehrer Manuel Goenaga eingesetzt, der im Gefängnis saß. Natürlich ist dieser nicht mehr derselbe wie vorher und eigentlich will er sich im Ort auch gar nicht zeigen, aber Mercedes schleppt ihn einfach raus und berichtet ihm, wer alles Opfer geworden ist. Sie überredet ihn auch, den Garcías einen Besuch abzustatten, denn Simón war ebenfalls Lehrer im Nachbarort und die beiden kannten sich. Auf dem Weg kommen sie an einem komischen Kauz vorbei, der seit einem Jahr nur ein kleines Bäumchen bewacht, sich ansonsten nicht rührt, sich um nichts kümmert und von dem keiner weiß, wer er eigentlich ist. Er trug anfänglich eine Falangisten-Uniform, von der aber nichts mehr übrig ist. Aus dem Klappentext läßt sich natürlich unschwer ableiten, daß es sich dabei um Rogelio Cerón handeln muß. Die eigentliche Geschichte wird also jetzt beginnen, aber um zunächst einmal eine Einordnung zu geben und einen Eindruck von der herrschenden Stimmung zu vermitteln, fand ich diese „externe“ Stimme der Lehrerin gar nicht schlecht, auch wenn ich natürlich gespannt bin, was Rogelio zu berichten hat.

  • Wie bereits vermutet, erzählt in diesem Mittelabschnitt Rogelio selbst. Er stammt, wie seine Kameraden in dem Säuberungskommando, nicht aus der Gegend, mit Ausnahme von Pedro Alberto. Dieser gehört der Oberschicht an und hätte daher auch einiges zu verlieren gehabt, wenn sich die Gegenseite durchgesetzt hätte. Erschreckend ist, wie festgefügt in ihren Ansichten und Reaktionen diese Falangisten sind. Sie sind selbstverständlich der Überzeugung, im Recht zu sein, wenn sie einfach andere Leute erschießen, weil sie (tatsächlich oder vermutet) einer anderen Partei angehören. „Die Roten“ haben fast immer jemanden aus ihrer Familie auf dem Gewissen und das reicht als Rechtfertigung, völlig unbeteiligte Leute abzuknallen.


    Der letzte Nachteinsatz war für Rogelio allerdings schwierig. Zunächst schien alles wie immer, aber der zehnjährge Sohn der Garcías starrt ihn so merkwürdig an, daß Rogelio den Jungen auch zur Erschießung mitnehmen will und nur mit Mühe von seinen Kameraden daran gehindert werden kann. Er fühlt sich von dem Kleinen und seinem starren Blick regelrecht bedroht. Als dann auch noch Pedro Albertos jüngerer Bruder, im gleichen Alter, ihn ähnlich anstarrt, wenn auch aus anderen Gründen, bricht in Rogelio etwas auseinander. Die ganze Truppe wird bei dem Überläufer-Bürgermeister einquartiert und dessen Frau, Cipriana, ist offensichtlich mit der falangistischen Haltung ihres Mannes, die auch schon auf die beiden Söhne abgefärbt hat, nicht einverstanden. Sie unterstützt Rogelio dabei, sich krank zu stellen, um die nächsten Nachteinsätze nicht mitmachen zu müssen. Stattdessen geht Rogelio drei Abende in Folge an den Platz, wo sie Simón und Antonio García erschossen haben. Am ersten Abend ist er überrascht, ein sauber gearbeitetes Grab vorzufinden, obwohl außer seinen eigenen frischen Stiefelspuren nur eine weitere Spur von sehr kleinen Abdrücken existiert. Zwei Abende reißt er den mitten auf das Grab gesetzten Schößling heraus, als er es am dritten wieder tun will, steht der kleine Gabino mit der Gießkanne neben ihm und zwingt ihn, wortlos, diesen Schößling stecken zu lassen und sogar zu gießen. Rogelio bildet sich ein, in den Augen des Jungen, der ihn nach wie vor ohne zu blinzeln anstarrt, sein Todesurteil zu lesen.


    Pinillas Stil gefällt mir gut. Weder drückt er auf die Tränendrüse, noch ist er pathetisch oder sonstwie überzogen. Rogelio ist einfach ein junger Mann, der – vielleicht sogar wirklich aus Überzeugung, vielleicht aber auch mangels Alternativen – in diese Truppe gerutscht ist und sich langsam unbehaglich fühlt, ob der regelmäßigen Exekutionen. Er würde das natürlich nie offen vor seinen Kameraden zugeben, dann stünde er schließlich als Schwächling da, aber an der Art, wie er die Hilfe Ciprianas Hilfe annimmt, zeigt das sehr deutlich. Er ist innerlich nicht gefestigt in seinen Ansichten, er braucht zumindest die anderen um sich herum, um sich mitziehen zu lassen, aber damit war er einigermaßen sorglos. Nachdem er nun einmal Angst bekommen hat, kann er in diesen bequemen Zustand aber nicht mehr zurück, fast könnte man es ein Paulus-Erlebnis nennen. Ich bin gespannt, wie er sich unter diesen Umständen weiter schlägt und wie er zu dem Typen wird, der in Mercedes' Einführung „vorgestellt“ wurde.

  • Viel mag ich eigentlich gar nicht zum Inhalt verraten, aber es gefällt mir immer noch sehr gut. Die Art und Weise, wie Pinilla hier zwischen Gabino und Rogelio eine perfekt funktionierende, vollständig non-verbale Kommunikation entwickelt, ist beeindruckend. Gleichwohl merkt man darunter ein stummes Ringen darum, die Oberhand zu behalten. Es mag schwer vorstellbar sein, aber der Zehnjährige hat hier meines Erachtens die stärkere Ausgangsposition gegenüber dem doppelt so alten Rogelio.


    Parallel zu dieser ohnehin für Rogelio belastenden Entwicklung stürmen noch andere Dinge auf diesen ein, nämlich einerseits das Unverständnis und schließlich die Verachtung seiner Kameraden, die ihn natürlich nicht verstehen, und andererseits sein neuer Status als „Eremit“, der von Cipriana nach Kräften gefördert wird. Zwar fällt es ihr schwer, sich damit abzufinden, daß Rogelio einfach nicht in eine Höhle ziehen will, wie sich das ihrer Ansicht nach für einen Eremiten gehört, aber er wird schon zum bestaunten Pilgerziel, wenn auch noch lokal, mal sehen, ob das noch weitere Kreise zieht.


    Ich grüble mit Rogelio noch darüber, ob es einen besonderen Grund dafür gibt, daß Gabino unbedingt einen Feigenbaum auf dem Grab sehen will. Hätte es auch irgendein anderer Baum sein können? Liegt es nur daran, daß neben dem Haus der Familie schon ein großer Feigenbaum stand, so daß dies die naheliegendste Erinnerung ist? Ist es eine biblische Anspielung? Vielleicht gibt es auch dazu noch eine Antwort, aber falls nicht, dann macht es auch nichts.

  • Im letzten Teil hat Pinilla das Tempo noch mal ordentlich angezogen, was die verstreichende Zeit innerhalb der Erzählung angeht. Dabei steuerte er auf ein Ende zu, das ich so nicht erwartet hatte. Unmittelbar nach dem Zuklappen des Buches war ich auch gar nicht sicher, ob ich dieses Ende gelungen finde, oder ob es mir nicht in Teilen fast zu sehr absurdes Theater war. Aber mit dem Abstand einiger Tage halte ich es für eine gute Wahl. Es erlaubt Pinilla nämlich eine sehr interessante Betrachtung von Schuld, Gewissen und Sühne, die bei anderem Schluß vermutlich weniger beeindruckend ausgefallen wäre. Dabei trifft dieser Blick nicht nur die Falangisten, sondern quasi im Vorbeigehen auch noch „die anderen“, die Leute im Ort, die irgendetwas ahnen, aber dann lieber doch nicht so genau wissen wollen, sich ein eigenes Bild zurechtbasteln und damit eine Verdrängung der Greuel erst möglich machen.


    Das alles kommt in sehr unaufgeregter Sprache daher, und gerade das Fehlen jeglichen Pathos einerseits, wie irgendwelchen Jammern andererseits steht dem Thema auch gut an. Pathos legen zwar die Falangisten gerne mal in ihren Schlachtruf, aber das wirkte oftmals eher wie eine Inszenierung und nicht wie Überzeugung, wodurch es seinen Schrecken etwas verlor. Das gilt aber nicht für deren Auftreten und Handeln. Und gerade weil Pinilla auch hier die Einzelheiten meidet und sich nicht in seitenlangen, detailverliebten Schilderungen von Verbrechen ergeht, wird durch die lakonische Darstellung völlig klar, was für eine entsetzliche Zeit hier geherrscht hat. Daß Pinilla nicht mit den Falangisten sympathisiert, ist überdeutlich, deren tatsächliche Gegner kommen aber praktisch nicht vor, sondern „nur“ die Bewohner des Ortes, denen – mit Ausnahme von Cipriana – mangelnde Zivilcourage vorgeworfen werden könnte. Sicher, die Atmosphäre war von Gewalt beherrscht und viele hatten Angst. Aber Cipriana zeigt eben auch, wie man Widerstand leisten kann, und letztlich tut sie das durch und mit Rogelio sogar recht wirkungsvoll. Weitere Werke von Pinilla werden jetzt definitiv den Weg in mein Bücherregal finden.


    5ratten + :tipp:


    Schönen Gruß
    Aldawen