Jonathan Lethem -Amnesia Moon

Es gibt 2 Antworten in diesem Thema, welches 1.789 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von Bartlebooth.

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    Die Handlung beginnt in einer postatomaren, zerstörten Welt: Die Bomben sind gefallen, der gesellschaftliche Zusammenhalt ist auseinandergebrochen. Lokale Tyrannen, die die Hand auf den verbleibenden konservierten Lebensmitteln haben, beziehen daraus ihre Macht und bestimmen so über die anderen. Ein solcher Tyrann ist Kellogg, scheinbar der letzte übergewichtige Mann auf der Welt. Sein Gegenspieler in Hatfork/Wyoming ist Chaos, ein junger eigensinniger Mann, der sich in einem verwaisten Multiplexkino eingerichtet hat.
    Eine Sache ist jedoch seltsam in dieser Welt: Nicht nur die Realität des Tages wird von den Einwohner/innen eines Ortes geteilt, sondern ebenso die Träume. Alle träumen jede Nacht die Träume, die Kellogg ihnen schickt und die er dazu benutzt, seine neuesten Theorien über den Zustand der Welt in der Bevölkerung zu verbreiten.
    Chaos hat von dieser Gängelung eines Tages genug, doch als er Kellogg ankündigt, dass er Hatfork verlassen wird, muss er diesen Beschluss mit Gewalt durchsetzen. Kellogg will ihn nicht gehen lassen. Chaos erfährt aus dessen Mund dabei eine verwirrende Neuigkeit: "The bombs never fell," behauptet Kellogg und Chaos ist sich nicht sicher: Ist dies wieder einer von Kelloggs perfiden suggestiven Tricks oder hat dieser aus Angst Chaos zu verlieren, ein Stück der Wahrheit preisgegeben? Warum sträubt er sich überhaupt so sehr gegen Chaos' Weggang? Nur weil er dadurch seinen Widersacher und Sündenbock verliert?
    Chaos macht sich mit Melinda, einem Mädchen, dass durch strahlungsbedingte Mutation am ganzen Körper mit Fell bedeckt ist, auf zu einem Trip ohne klares Ziel, quer durch Amerika. Tatsächlich ändern sich auf dem Weg seine Träume. Nun ist er es nämlich, der den Menschen, denen er begegnet, die eigenen Träume aufzwingt. Und diese Träume scheinen etwas über Chaos' Vergangenheit zu erzählen, über eine Vergangenheit vor der großen Katastrophe, von der Chaos überhaupt nichts mehr weiß.


    Jonathan Lethem ist vor ungefähr zwei Jahren mit einem völlig anderen Buch zu größerer öffentlicher Aufmerksamkeit gelangt. In "Motherless Brooklyn" entwarf er eine Kriminalgeschichte mit einem Detektiv, der am Tourette-Syndrom leidet. Durch den immensen Erfolg dieses Titels wurden auch die älteren Bücher Lethems wieder aufgelegt, unter anderem seine frühen SF-Titel, von denen ich nun mit "Amnesia Moon" den zweiten gelesen habe. Wie auch in "As she climbed across the table" beschäftigt sich Lethem hier mit der Konstruktion von Wirklichkeit. Während es jedoch dort um ein wissenschaftliches Experiment geht, bei dem mehr aus Versehen ein mysteriöses totales Nichts geschaffen wird, liegt "Amnesia Moon" der Gedanke einer besonderen individuellen Fähigkeit zugrunde, die darin besteht, als Einzelner äußere Gestalt und innere Regeln der Welt zu bestimmen, in der alle leben.


    Die Idee ist nicht ganz neu, spontan ist hier zB an Philip K. Dicks Klassiker "Ubik" zu denken. Doch während bei Dick eine Figur vollkommen bewusst die Illusion einer Welt schafft, ist Lethems Entwurf vager. Er hat als Zentrum eher die Idee eines Wegfalls aller Verbindungen zwischen den Dingen (so oder so ähnlich drückt es an einer Stelle des Textes eine Figur aus), die nun von Einzelnen gar nicht unbedingt willentlich wieder hergestellt werden, sondern einfach nur, weil sie es eben können. Die Frage, um die sich das Buch dreht und mit der auch Chaos irgendwann konfrontiert wird lautet folgerichtig: Sollte man versuchen die Fähigkeit, eine gemeinsame Realität zu entwerfen, bewusst ausüben?


    Was man Lethem zugute halten muss, ist, dass er sich nie um Antworten auf solche Fragen drückt. Wie schon in "As she climbed across the table" spielt er auch hier mit den Implikationen seiner Frage. Leider habe ich bei ihm aber auch immer das Gefühl, dass hinter den Antworten kein wirklich durchdachtes Konzept steht. Anders als Philip K. Dick verliert sich Jonathan Lethem gern in den unendlichen Weiten des eigenen gedanklichen Entwurfs. Die Auflösungen, um die er niemals verlegen ist, geraten daher häufig etwas künstlich und die verschiedenen Erzählstränge dienen oft dazu, verschiedene mögliche Antworten auszuprobieren. Das wirkt häufig ein bisschen beliebig.


    "Amnesia Moon" fällt aber für mein Empfinden weniger stark auseinander als "As she climbed across the table"; die Konstruktion ist dichter und die Auflösung driftet nicht ins Banale ab. Insofern halte ich diesen früheren SF-Roman Lethemsfür den klar lesenswerteren.
    Ich weiß leider nicht, ob Lethem noch mehr Romane in diesem Genre geschrieben hat. Aktuell hat er verlauten lassen, er habe der SF für immer den Rücken gekehrt... Mal sehen, ihm eine zweite Chance zu geben, hat sich durchaus gelohnt, vielleicht sollte ich dann doch auch mal zu einem seiner realistischeren Titel greifen.


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    Einmal editiert, zuletzt von nimue ()

  • Hallo Bartlebooth!


    Ich hatte keine Ahnung, dass Lethem früher SF gschrieben hat. Vielleicht sollte ich mich mal über den Autor informieren, ich hatte ihn für relativ jung gehalten...


    Ich habe letztes Jahr "The Fortress of Solitude" gelesen. Ein sehr interessantes Buch, mit dem ich mich gut unterhalten habe.


    Ein paar eher fantasymäßige Elemente gibt es jedoch auch dort...


    lg, adia

  • Hallo adia,


    ja, Lethem ist auch noch relativ jung, ich würde denken so Anfang vierzig. Und dennoch hat er schon mehrere Phasen in seinem Schaffen hinter sich gebracht... ;)


    Über eine Rezension von "Fortress of Solitude" würde ich mich übrigens freuen!


    Herzlich, B.