Beiträge von Glarean

    Einer der einflussreichsten Buchverleger im deutschsprachigen Kulturraum geht; der Schweizer Egon Ammann sagt mit leiser Wehmut in einem Interview:


    «Unsere Branche steht auf der Schwelle einer Revolution. Gutenberg wird nicht abdanken, davon bin ich überzeugt, aber das Geschäft wird andere Wege gehen, sowohl im herstellenden wie im vertreibenden Buchhandel. Das digitale Zeitalter steht ante portas, und dem wollte ich mich nicht mehr stellen.»
    http://glareanverlag.wordpress…nterview_glarean-magazin/


    Ammanns letztes Verlagsprojekt ist die große Pessoa-Werkausgabe, und kürzlich wurde «Genie und Wahnsinn – Schriften zu einer intellektuelle Biographie» fertiggestellt:


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    Ein imposantes Vermächtnis einer bedeutenden Verlegerpersönlichkeit!


    Gruss: Glarean

    [size=4]"Die Moderne bleibt auf der Strecke!"[/size]


    Der bekannte St. Galler Germanistik-Professor Mario Andreotti macht in seinem jüngsten Essay "Aspekte und Tendenzen der neueren und neuesten Schweizer Literatur" (Dezember '09 / "Glarean Magazin") einen entscheidenden Paradigmawechsel in der jüngeren Schweizer Literatur aus - Tendenzen der thematischen Schwerpunkte, die allerdings auch in anderen zentraleuropäischen Literaturen auszumachen sind.
    Andreotti konstatiert eine weitgehende Abwendung der führenden Schweizer Autorinnen und Autoren von allem Politischen einerseits (das allenfalls noch als Gegenstand der Kritik am Selbstverwirklichungstreben der 68er Bewegung präsent sei), und andererseits eine zunehmende Fixierung des Interesses nicht sosehr auf das literarische Werk als vielmehr auf die Person des Autors bzw. der Autorin.
    Erzähltechnisch einher gehe dieser Rückzug ins Private, so der krititische Befund Andreottis, mit einer gewissen Simplifizierung: Nicht mehr Vielschichtigkeit von Handlungs- und Erzählebenen, auch nicht mehr Reflexion der Widersprüchlichkeit von Erzählen selber, und erst recht nicht mehr Auseinandersetzung mit gesellschaftlich determinierter Realität seien die Konstanten des Schreibens, sondern weitgehend "vereinfachende" Linearität, teils dezidiert verbunden mit einer medien- bzw. marktgerechten Hinwendung zum Ego-Tripp oder gleich zum unverbindlich-auflagefördernden Spaß-und-Fun-Event (à la Literaturfestivals oder Poetry Slams) würden die jüngste Literatur prägen.
    Andreotti: "Das kommt den normierten Erwartungen einer breiten Leserschaft entgegen, was den internationalen Erfolg vieler junger Schweizer Autoren zu einem guten Teil erklärt. Dass dabei die Moderne auf der Strecke bleibt, ist die andere, weniger schöne Seite dieser jungen Schweizer Literatur. Die Gefahr, dass solche Literatur, gerade weil sie auf die Errungenschaften der literarischen Moderne mehrheitlich verzichtet, nur ein kurzfristiger Saisonerfolg bleibt, ist auf jeden Fall gegeben."
    (Der ganze Essay von Prof. Dr. M.Andreotti ist hier http://glareanverlag.wordpress…iteratur_glarean-magazin/ zu finden.)


    Gruss: Glarean


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    [size=5]Feinsinnige Musik-Poesie[/size]


    Was geschieht, wenn ein feinsinniger Dichter wie der Kolumbianer Mauricio Botero der Musik als seiner großen Liebe ein Poesie-Bändchen widmet? Es geschieht «Don Ottos Klassikkabinett». Das sind 31 Geschichten und Geschichtchen, vielmehr: 31 Albumblätter, die je ein bedeutsames bzw. berühmtes Stück der Musikgeschichte zum Anfangs- und Endpunkt von menschlichen und zugleich philosophischen bis witzigen Begegnungen nehmen. Auf eine wirklich so unnachahmliche Art, dass man meint, beim Lesen die Aura selbst des fraglichen Werkes ins Ohr zu kriegen.


    Eigentlich ist «Don» Otto Roldán nur ein unscheinbarer CD-Verkäufer, der im «Chapinero», einem äußerst belebten Viertel im Nordosten von Kolumbiens Hauptstadt Bogotá, und zwar gleich gegenüber der gewaltigen «Nuestra Señora de Lourdes», gemeinsam mit seiner treuen Gehilfin Adela einen offenbar gutgehenden Musikladen betreibt. In diesem seinem Hort zur Musikalischen Einkehr, genannt La Caja de Música» (Die Musikschachtel), empfängt Don Otto nun tagtäglich Fremde, Käufer, Leute, Menschen: «Schweigsame, harmonische, atonale oder misstönende Menschen kommen hier vorbei. Auf der Suche nach den großen Werken bevölkern sie die Partitur des Lebens.» Und da trifft er sie denn alle, die schrillen Choleriker oder stillen Melancholiker, die diskutierfreudigen Intellektuellen oder maulfaulen Bauern, die kulturbeflissene Lehrerin oder die versnobte Direktorenfrau, den ausgeflippten Teenager oder den korrekten Buchhalter - sein ganzes «Kabinett» eben.


    Mauricio Botero ist, offensichtlich von einer hervorragend nachdichtenden Übersetzung aus dem Spanischen durch Peter Kultzen unterstützt, in diesem «Klassikkabinett» ein Virtuose des szenischen Kontrasts und der frappanten Skurillität ebenso wie der (musik-)ästhetischen Reflexion und des entlarvenden Dialogs, ein Meister der buchstäblich leisen Töne, doch auch des schockierenden Paukenschlages. Keines seiner Kapitel ohne Humor, ja Sprachwitz, aber auch keines ohne feingewogenen Hintersinn – sei’s nun der «besprochenen» Musikstücke, sei’s der «behandelten» Menschen. Der kleine CD-Laden des Don Otto gerät so zum Abbild eines wahren kulturgeschichtlichen Kosmos’, auch wenn es sich bei den vielen zitierten Tonwerken von Händel bis Bartok um ausnahmslos sehr berühmte Stücke handelt, denen diese «Neuentdeckung» durch Don Ottos Klassik- bzw. Horrorkabinett höchst gut tut (und welche die Lektüre auch für musikalische Laien sehr zum Gewinn macht!).
    Verführerisch ist es dabei, Boteros 31 Kleinode des ebenso informativen wie pointenreichen Reisens durch Musik- und Menschen- und Gedankenwelten in einem Aufguss zu verschlingen, so bescheiden, ja unscheinbar kommen diese Geschichtchen daher. Doch nichts dümmer als das; vielmehr sind sie wohldosiert zu genießen, um ihren je unverwechselbaren Gout zu spüren, man nehme unbedingt nur einen oder zwei Bissen aufs Mal zu sich, sonst verliert dies spezielle Gericht seine geschmacklichen Verknüpfungen. «Don Ottos Klassikkabinett» bedarf des langsamen Genusses eines jeden einzelnen Häppchens, damit sich das reiche Gesamt-Bouquet entfalten kann. Ein Gourmet-Mahl für «Kenner und Liebhaber» und für «stille Genießer». (Walter Eigenmann)


    Mauricio Botero, Don Ottos Klassikkabinett, Unionsverlag, 188 Seiten, ISBN

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    [size=5]Ostasiatische Poesie aus drei Jahrtausenden[/size]


    Anders als die japanische Lyrik, welche ja in den letzten Jahren mit ihren populärsten beiden Formen Haiku und Tanka auch im Westen einen regelrechten «Boom» erlebte, genießt das «klassische» chinesische Gedicht keine sonderliche Aufmerksamkeit bei der Lyrik-Leserschaft unserer kulturellen Breitengrade – trotz Übersetzungen der Werke so berühmter Dichter wie Tao Yuanming (Jin-Dynastie), Li Bai, Du Fu, Bai Juyi, Du Mu, Li Shangyin (alle Tang) oder Li Qingzhao (Song). Umso größer das Verdienst des deutschen Sinologen Volker Klöpsch – u.a. auch seines «Lexikons der chinesischen Literatur» (2004) wegen einer der führenden Experten für ostasiatische Literatur -, der nun im Insel/Suhrkamp-Verlag eine repräsentative, über weite teile referentielle Sammlung «Chinesischer Liebesgedichte» herausgab. Der Band erstreckt sich zeitlich vom bekannten anonymen «Buch der Lieder», das noch Konfuzius persönlich zusammengetragen haben soll, über die literarisch besonders fruchtbare Tang-Zeit (7.-10. Jh.) sowie die Dynastien Yuan (13./14. Jh.) und Ming (14.-16. Jh.) bis hin zur chinesischen Literatur-Moderne eines Wen Yiduo oder Gu Cheng.
    In der «klassischen» chinesischen Dichtung spielte die Liebe, wie der Herausgeber in seinem instruktiven Nachwort ausführt, nicht die dominierende Rolle, die sie in der westlichen Literatur einnimmt: «Der Dichter war im alten China in der Regel Beamter im Dienste des Staates, und die Dichtung diente vorrangig als Medium des gesellschaftlichen Umgangs. Sie fand im öffentlichen Raum statt und genoss große Beachtung. So war die Abfassung von Gedichten über Jahrhunderte auch Bestandteil der landesweiten Beamtenprüfungen, ohne die kein Aufstieg möglich war. Nach einem Ausspruch des Konfuzius verfügt über keine Sprache, wer die Lieder nicht kennt.»
    Im Schatten der übermächtigen Tradition dieser «Beamtendichtung» konnten sich die vielen Formen einer eigenen Volksdichtung zwar durchaus reich entfalten, mussten sich aber auf die mündliche Überlieferung stützen. Denn das breite Volk verfügte zwar natürlich über dichterische Stimmen, doch wie Übersetzer Klöpsch darlegt: «Die Beherrschung der Schrift auf Grund ihrer Schwierigkeiten war ein noch viel größeres Privileg der ‘gebildeten Stände’ als im europäischen Mittelalter. Das Erlernen von vielen tausend chinesischen Schriftzeichen erforderte eine langjährige Ausbildung, der sich nur die wenigsten unterziehen konnten.»


    Exkurs: Übersetzen aus dem Chinesischen


    Zur Problematik des Übersetzens aus einer so komplexen Hochsprache wie dem Chinesischen führt der deutsche Sinologe aus:


    «Die sprachlichen Strukturen – es gibt im modernen Chinesisch nur etwa 400 unterschiedliche Silben – bedingen eine große Zahl von gkleichklingenden Wörtern und entsprechenden gedanklichen Anspielungen und Zweideutigkeiten. Nehmen wir ein kleines Beispiel: Ein schlichtes, mit ‘Betriebsamkeit’ überschriebenes Lied beschreibt auf der Oberfläche nichts als einfache (und unschuldige) Tätigkeiten im ländlichen Haushalt:


    Der Junge soll Lotos pflanzen -
    sie sieht in den Blüten ein Band.
    Das Mädchen züchtet die Raupen -
    er sieht in der Seide ein Pfand.


    Sie will aus dem Brunnen schöpfen,
    doch fehlt ihr das rechte Gerät.
    Zu gerne schlüpfte er einmal hinein
    in das Hemd, das sie gerade näht.


    Vier Schlüsselwörter vermitteln jedoch für den geübten Hörer oder Leser eine tiefere Dimension: Der Lotus (lian) lässt die vom Mädchen ersehnte ‘Verbindung’ anklingen, die Seide (mian) deutet das Begehren des Jungen an, mit dem Mädchen zu ’schlafen’; das Schöpfgerät (tong) für den Brunnen, welches das Mädchen vermisst, heißt auch ‘miteinander verkehren’, und der Wunsch des Jungen, in das Hemd ‘hineinzuschlüpfen’, ist ebenfalls eindeutig sexueller Natur.» – -


    Dem interessierten Leser, geschult an thematisch vergleichbarer Lyrik okzidentalen Ursprungs, erschließt die Sammlung eine ganz eigene dichterische Welt der unverfälschten Sensibilität und einer seltsam naiv anmutenden Seins-Sicht, aber auch der rätselhaften Gefühls-Chiffren und der betont natur- bzw. tierverbundenen, gleichzeitig sehr bedeutungsträchtigen Bildmotive. Diese besondere poetische Qualität der ostasiatischen Liebes-Lyrik zu vermitteln ist ein verdienstvoller Aspekt dieser Tour d’horizont durch drei Jahrtausende Poesie aus China, und mit der Herausgabe dieser Gedichte, welche trotz aller faszinierenden Exotik in Inhalt und Form doch auch die menschlichen Konstanten Liebe und Lust literarisch bewältigen und damit wesentliche Berührungspunkte mit der entsprechenden abendländischen Hochpoesie aufweisen, verbindet Herausgeber Klöpsch neben dem dichterischen auch ein interkulturelles Anliegen. Er hofft nämlich, dass es gelänge, «uns die fernen Menschen näher zu bringen und verständlicher zu machen, so dass das Fremde uns nicht mehr verwirrt, sondern bereichert und beglückt, weil es als ein Teil des Eigenen begriffen wird.» Nicht das schlechteste der Motive, fremdländische Literatur herauszugeben… Eine hochwillkommene Edition, der man etwas breitere Leserschaft als den üblichen Lyrik-Nischenmarkt erhofft! (Glarean)


    Volker Klöpsch (Hrsg.), Chinesische Liebesgedichte, Insel/Suhrkamp Verlag, 144 Seiten, ISBN

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    Diagnose: Bösartiger Hirntumor


    Bücher mit einem ähnlichen Klappentext wie dem folgenden wurden und werden immer wieder publiziert, und liest man in der Buchhandlung solche Sätze wie auf der Rückseite von Eric Baumanns Buch «Einen Sommer noch», denkt man «Armer Kerl!» und stellt es mitfühlend-seufzend wieder ins Regal zurück:


    Zitat

    «Er ist jung, erfolgreich, frisch verliebt - und auf dem Karrieresprung. Dem Journalisten Eric Baumann steht die Welt offen. Doch sein Körper spricht eine andere Sprache, schickt Kopfschmerzen, Sprachaussetzer, Sehstörungen. An seinem 34. Geburtstag erfährt Eric Baumann, dass er einen bösartigen Gehirntumor hat, der sofort operiert werden muss. Seine Überlebenschancen sind auch nach der Operation gleich null. Ab diesem Zeitpunkt steht über jedem schönen Augenblick die Frage: Werde ich das je wieder erleben? Dennoch gibt Eric Baumann auch in Momenten tiefster Verzweiflung nicht auf. Mit offenen Augen schaut er in die Welt und wehrt sich mit Lebensfreude und Mut nun schon mehr als drei Jahre gegen den sicheren Tod.»


    Nun, diesen Band des Luzerner Wirtschaftsjournalisten Eric Baumann sollte man nicht wieder ins Regal zurückstellen. Sondern miterleben.
    Gewiss, Baumann ist weder Poet, noch Literat, noch Wissenschaftler, noch Philosoph, noch Pfarrer, noch Märtyrer. Seine Sprache: Knapp, realistisch, voller Verben und Substantive, ohne alle Larmoyanz, streckenweise schier ohne Sentiment, doch wider Erwarten keineswegs humorlos - wie das alles gute Wirtschaftsredakteure durchaus können. Und überhaupt: «Um mich zu besinnen, muss ich nicht die Hände falten. Ich brauche auch keine Institution, die mir zu erklären versucht, was nach dem Tod passiert.» Denn dieses «Einen Sommer noch» impliziert zwar Hoffnung, es bilanziert gar irgendwie, obwohl es nur nach vorne blickt - aber vor allem sind diese knapp 260 Seiten ein in seiner detaillierten Intensität ungeheuer beeindruckendes, so noch nie gelesenes Stenogramm einer Heimsuchung.
    Und deren menschlicher wie medizinischer Bewältigung. Baumann hat einen wahren Kosmos der inneren Monologe und und der äußeren (medizinischen) Dialoge, auch der sozialen Netze, der widersprüchlichen Therapie-Diskussionen, des Selbstbeobachtens und des Fremdbestimmtseins, bis hin zur Resignation und zur Resurrektion zwischen zwei Buchdeckel gelegt, seine Sätze voller «Ich» und «ich» und voller Namen von Menschen und Leuten und Sachen und Techniken vermitteln zwischen Chemotherapie und Anthroposophie, zwischen Glioblastom und Qigong, zwischen Misteln und Tomographen. Kein Zweifel, nachdenken und reden über eine Krankheit wie Krebs ist ihrer Bekämpfung enorm förderlich. Wiewohl Baumann differenziert: «Den Begriff ‘Kampf’ für den Umgang mit dem Krebs streiche ich aus meinem Vokabular. Ich interpretiere meinen Weg eher als Prozess. [...] Klar ist er ein Biest, dieser Tumor. Nach der Lektüre einiger Bücher wie dem von Simonton (http://www.simonton.ch/de/methode/index.html) verstehe ich ihn aber immer mehr als einen Teil von mir, denn seine Zellen gehören zu meinem Zellenvolk. Wenn ich visualisiere, mag ich mir jedenfalls nicht einen Krieg von gegeneinander antretenden Zellen vorstellen, selbst wenn das der Realität entspricht. Das Putzteam ist mir sympathischer.»


    «Einen Sommer noch» ist das anrührend ehrliche, sensibel, doch ungeschönt notierende, in seiner intelligent sezierenden Präzision fast beängstigende, zwar subjektivst erlebte und erlittene, aber auch in große menschliche und medizinische Vorgänge eingebettete Protokollieren des Überlebens - von der ersten dringenden Hirnoperation bis zur jüngsten Nevada-Reise mit Partnerin Alice. Dazwischen liegen hoffnungsvolle Monate und Jahre - geschenkte Lebenszeit, gemäß Statistik. Doch wie schreibt der inzwischen 38-jährige, noch immer an einem der schlimmsten, weil bösartigsten Hirntumore (= Grad IV der WHO) leidende Autor - alles Gute ihm auch von hier aus! - in seinem Buch-«Epilog»:
    «Es ist Frühling, es ist warm. Wie vor einem Jahr sitze ich im Parkcafé, nippe an einer Apfelschorle. Vor mir liegt ein Manuskript, meine Geschichte. - Ich habe wieder einen Befund aus dem Spital erhalten. Es sieht gut aus. Die Chemomedizin muss ich aber weiterhin schlucken, es wäre fahrlässig, sie abzusetzen. - Ein Sonnenstrahl dringt durch eine Allee von Pappeln. Der Sommer steht vor der Tür. Noch einer. Was für ein schönes Leben! - Ich packe zusammen. Fertig für heute. Es gibt ein Morgen.»


    Eric Baumann, Einen Sommer noch, Mein Leben mit der Diagnose Hirntumor, 268 Seiten, Lübbe Verlag, ISBN

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    Roland Topor: «Tragikomödien»


    Vom Aberwitz des Wirklichen


    Nein, für Puristen, Romantiker, Kinder und Herzkranke ist sie nicht gedacht, die soeben erschienene Kurzprosa-Anthologie «Tragikomödien» des Pariser Kultur-Allrounders Roland Topor (1938-1997). Denn der Diogenes Verlag legt mit diesen «Erzählungen» und «Manifesten» einen Schriftsteller auf, dessen maliziöse Raffinesse nur noch von seiner grinsenden Bösartigkeit, allenfalls noch von seinem bizarren Zynismus übertroffen wird. Sensible (Sprach-)Ästheten dürften also den 350 Seiten schweren Prosa-Brocken aus der Feder eines der berühmtesten französischen Zeichner, Literaten, Graphiker und Schauspieler bereits nach wenigen Zeilen aus der Hand legen. Nicht so aber all jene, welche die giftspritzende Satire, die heimtückische Anti-Moral-Attacke, die ätzende Normalitäten-Häme, den schamlosen Griff zwischen die Beine aller «Netten und Guten» zu schätzen wissen. Und natürlich alle jene, welche der Surrealität der zwischenmenschlichen Realität einen (zugegebenermaßen: gehörigen) Schuss makabre Degoutanz abgewinnen können.
    Und wie liest sich das genau?
    So, zum Beispiel (Zitat):



    Kein Zweifel also: Topor schrieb, wie er zeichnete - tabulos bis zur tabula rasa, und immer der Absurdität noch ein unmoralisches Augenzwinkern entwindend. Vollends offen-sichtlich wird das in seinen Zeichnungen - beispielsweise in «Le Fourmilier»:


    roland-topor_le-fourmilier.jpg


    Geschmack? Tabu? Anstand? Norm? Gewiss keine von Topor erfundenen Begriffe - auch wenn sie für den «Reiz» gerade eines «Rasenden» wie Topor unverzichtbar sind.
    Den «Tragikomödien» ist ein aufschlussreiches Interview mit dem Autor beigefügt, worin der «Possenreisser» (Topor über Topor) zu seinen Zeichnungen u.a. meint: «Ich will nicht schockieren, ich zeichne und male. Die Psychologie spielt in dem Moment überhaupt keine Rolle.» Dieselbe Psychologie-Abstinenz schlägt einem bei Topors Erzählungen entgegen: Der Schreibstil ist knapp, raffend, nichts reflektierend, völlig auf den aberwitzigen Plot der Story fokussiert, unbarmherzig gradlinig in den lustigen Abgrund führend. Zurecht verwahrte sich Topor stets dagegen, als Humorist oder gar Komiker gehandelt zu werden - allenfalls «schwarzen Humor» ließ er sich attestieren. Dementsprechend kommt auch seine Definition von Humor daher:
    «Der typische Humor ist für mich die Geschichte von dem zum Tode Verurteilten, der die letzte Zigarette mit den Worten ablehnt: ‘Nein danke, ich will doch aufhören!’»
    «Tragikomödien» bringt einen unverwechselbaren, den vielgerühmten französischen Esprit absurd brechenden, die Realität ins köstlich Bodenlose zerbröselnden «Sound of Dead» aufs Papier. Die Welt des Roland Topor, sie ist weder tragisch noch komödiantisch, aber «tragikomisch» durchaus. Nicht am Strand in der Sonne zu lesen - aber vielleicht bei Whisky und Kerzenschein? (Walter Eigenmann)


    Roland Topor, Tragikomödien, Erzählungen, Diogenes Verlag, 348 Seiten, ISBN 978-3257065992


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    Von der Liebe und anderen Dummheiten


    «Zickzack der Liebe», «Happy End», «Eine Liebe fürs ganze Leben», «Mara», «Liebesterror» - kein Zweifel: Jenes, welches man/frau gemeinhin mit der allesumarmenden Worthülse «Liebe» zu umreißen pflegt, ist eine thematische Konstante im Werk der heute 70-jährigen Moskauer Schriftstellerin Viktorija Tokarjewa. Und noch ein roter Faden - womöglich (oder: ziemlich sicher) resultierend aus dem ersten - zieht sich zentral bis total dominant durch beinahe jeden ihrer literarischen Texte, nämlich die Frau: z.B. die Nutten-Frau («Mara»), die Caritas-Frau («Happy Ende»), die Reife-Frau (»Sag ich’s…»), die Vamp-Frau («Der Pianist»), die Hoffnungs-Frau («Eine Liebe…»), oder auch die Sieges-Frau («Glücksvogel»). Und nun also, in ihrer neuesten Kurzprosa «Liebesterror», der Kopf-Erzählung dieser im Diogenes Verlag aufgelegten vierteiligen Sammlung, noch die Mutter-Frau.
    Diese Mutter-Frau, das ist Tante Tossja, wie sie in überschwenglicher «Mutter-Liebe» ihre Tochter Nonna und ihren Schwiegersohn Zarenkow hegt und pflegt und - terrorisiert. Denn «Liebesterror» ist eine Dreiecks-Geschichte der dritten, ganz besonders komplizierten Art: «Tante Tossja arbeitete wirklich mit enormen Fleiß und brummte und summte ebenso wie eine Biene. Sie erschuf jeden Tat etwas. Und sie wollte eine Belohnung für ihre Arbeit, wenn auch nur mit Worten. Aber Nonna war ganz mit ihrem Mann beschäftigt. Und Zarenkow war nur mit sich selbst beschäftigt. Und die arme Tante Tossja konnte nur auf dem Treppenvorplatz heulen und um Mitgefühl schluchzen.» Verschärfend kommt hinzu: «Anderer Leute Elend wirkte auf Tante Tossja immer wohltuend. Das söhnte sie mit der Wirklichkeit aus.» Solche psychischen Dispositionen pflegen zu eskalieren - schon gar in der Schönen Literatur, und unausweichlich zwangsläufig bei der auf zwischenmenschliche Tragikomödien geradezu chirurgisch spezialisierten Autorin Tokarjewa. Ein Plot von «Liebesterror» sei darum verraten: Der Schwiergersohn, Tante Tossja buchstäblich bis aufs Blut und bis aufs Beißen in die Hand im Wege, erliegt nach 95 lakonischen, teils auch zärtlichen, oft fein zeichnenden, teils wieder diffusen Seiten einem Herzinfarkt. (Dessen Beschrieb übrigens - Zarenkow stirbt, vom Meer und von seiner Nonna träumend, an einem Herzinfarkt im Bett - wie ein Sportlight den stilistischen, sarkastisch gebrochenen, aber auch melancholisch-sensiblen Zugriff der Erzählerin Tokarjewa in wenigen Sätzen fokussiert: «Und plötzlich versank er. Das Wasser schwappte über seinen Kopf. Zarenkow bewegte Arme und Beine, er wollte auftauchen, aber es gelang nicht. Das Wasser erstickte ihn. Sein Herz bewegte sich fort und flog irgendwohin. Zarenkow flog seinem Herzen hinterher - und starb.»
    Man hat der gebürtigen Leningraderin, die zuerst eine künstlerische Laufbahn als Musikerin, dann als Drehbuch-Schreiberin einschlug, aber seit 1964 ausschließlich als Prosa-Autorin arbeitet, zuweilen handlungstechnische Klischees und - als Schilderin sowjetrussischer Milieus - gesellschaftspolitische Simplifizierung vorgeworfen. In der Tat eignet zumal ihren langen Texten («Glücksvogel», «Der Pianist», «Happy End») eine teils fast zufällig anmutende Sprunghaftigkeit der äußeren Abläufe, der personalen Bezüge, der Handlungsfelder. Das Prinzip der «Bilder-Reihung», im Film effektvoll als dem Medium immanent, aber in psychologisierender Prosa unvermittelt wirkend, strapaziert die Autorin zu oft auch dort, wo «im Bilde zu bleiben» die Glaubwürdigkeit der Geschichte(n) heben könnte.
    Was diese äußerst produktive, zu Beginn nur im Heimatland bekannte, längst nun auch im Westen erfolgreiche Schriftstellerin jedoch vom schön-unver-bindlichen Plaudern über leichte oder schwere Gefühls-Unpässlichkeiten schwacher oder starker (Frauen-)Figuren hinaushebt, ist diese unnachahmliche Lakonie, die Knappheit des Schilderns, die präzise Beobachtung, das beinahe kühle Sezieren, dann auch wieder der zuweilen resignative Ton, das manchmal fatalistische Laisser-faire der im Alltag tragikomisch untergehenden, zuweilen doch wieder triumphierenden Protagonistinnen. Vor allem aber ist Tokarjewa eine Meisterin der Situations-Ironie und der Typisierung. Ihre wichtigste Waffe allerdings, um die Leserschaft bei Lektüre und Laune zu halten, ist die Rasanz und die Schnörkellosigkeit ihrer Sprache - woran allerdings ihre «Leib- und Magen-Übersetzerin Angelika Schneider wesentlichen Anteil haben muss. Da finden sich nirgends Füllungen noch grammatikalische oder semantische Redundanzen, die Verknappung der sprachlichen Mittel (aber nicht des Wortschatzes) bewirkt eine eigentümlich faszinierende Coolness der Distanz - und doch auch wieder der identifizierenden Sympathie ob soviel unbeschönigter Realität, die gleichsam jeder/m zustoßen könnte. Ein großer Teil des Publikum-Erfolges dieser Autorin geht aufs Konto solcher manchmal unbarmherzigen, mit viel Wortwitz und frappanten Psycho-Drehs auffahrenden, wohltuend unsentimentalen Sachlichkeit und Einfachheit; das Lese-Resultat ist atemlose Neugier. Kein Zweifel, Viktorija Tokarjewa ist eine Meisterin der Erzählkunst, ihre frühere unüberlesbare Holzschnittigkeit in den ersten Veröffentlichungen ist inzwischen der routiniertesten Eloquenz gewichen, ihre Kunst der Prototypisierung hat an Differenziertheit gewonnen.
    Eine der vier Erzählungen in «Liebesterror» heißt - durchaus programmatisch für die Tokarjewa - «Salto mortale», und als quasi zusammenfassende Kost-Probe ihrer stilistischen Hexenküche sei aus diesem 21-Seiten-Stück kurz zitiert:


    (Zitat):
    Wie schwer es war, allein zu leben, wenn man mit keinem Menschen ein Wort wechseln konnte.
    Der einzige Seelentröster war der Fernseher. Schura hing am Fernseher wie ein Süchtiger an der Nadel. Aber auch im Fernsehen gab es nur leben und leiden. […]
    Schura liebte die sowjetischen Filme der siebziger Jahre. Und sie sehnte sich nach dieser Zeit zurück. Da war sie noch jung gewesen, ihre Mutter war noch gesund und munter, und Pawel war damals Oberleutnant gewesen. Er machte ihr den Hof und kam zu ihnen nach Hause. Und ihre Mutter kochte eine Pilzsuppe aus getrockneten Champignons. Noch jetzt konnte sie das Aroma riechen. Ihre Mutter hatte goldene Hände. In ihnen steckte kulinarisches und menschliches Talent. […]
    Schura stieg langsam in den fünften Stock hoch. Neben dem Heizkörper hatte es sich ein grauhaariger Mann bequem gemacht. Er sah aus wie ein Ingenieur aus den siebziger Jahren und trug einen webpelzgefütterten Kunstledermantel.
    Allgemeiner Eindruck: ein Ingenieur - kein Unhold, nur ein ganz gewöhnlicher Mensch, und ein Ingenieur hatte eben keinerlei besondere Kennzeichen. Dafür aber um so mehr Bescheidenheit und Schicksalsergebenheit, das Wissen um die Unmöglichkeit, etwas zu verändern. All das konnte man in den Augen dieses da sitzenden Menschen ablesen.
    «Was machen Sie hier?» fragte Schura.
    «Ich wärme mich auf», sagte der Ingenieur bloß.
    «Und wieso hier?»
    «Weil es der oberste Stock ist», erklärte der Ingenieur.
    «Ja und?» fragte Schura verständnislos.
    «Kommen weniger Leute vorbei. Schmeißt einem niemand raus.«
    «Sind Sie etwa obdachlos?»
    «In gewissem Sinne«, antwortete der Ingenieur und fügte dann hinzu: «Bitte, schicken Sie mich nicht weg.»
    »Nein, nein, dann bleiben Sie eben sitzen«, sagte Schura beschämt.
    Und sie dachte bei sich: Was es nicht alles gibt, ein anständiger Mann, und sitzt da wie ein Vagabund… Vielleicht hat man ihn aus seiner Wohnung geworfen? Möglicherweise war er ein Opfer von Wohnungsspekulanten geworden…
    Schura schloß ihre Wohnung auf.
    (Zitat Ende)


    Mag sein, dass einige Titel aus der Feder dieser Schriftstellerin früher oder später als den Massen-Geschmack allzu willfährig bedienende «Trivialitäten» auf den tonnenschweren ungelesen-vergessenen Halden der Literatur-Musealität landen. «Liebesterror» dürfte nicht dazu gehört. (Walter Eigenmann / www.glareanverlag.wordpress.com)


    Viktorija Tokarjewa, Liebesterror und andere Erzählungen, Diogenes Verlag, 217 Seiten, ISBN 978-3-257-06643-2

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    Ist ebenso zu empfehlen; Aus dem Inhalt:


    • Heiße ich Sie willkommen oder Willkommen?
    • Ein paar Sätze über »über«.
    • Unser Lieblingssatzzeichen: der Doppelpunkt.
    • Sie lieben sich und hassen einander.
    • Melde, dass das Dass wegstirbt.
    • Wie mir das Scheinen erscheint.
    • Hallo Komma Dieter.
    • Die Art, wie man den Bauern beugt.
    • Trotz und Dank mit Wem- und Wesfall.
    • Die Scheinblüten des Genitivs.
    • Ist zeitgleich gleich gleichzeitig?
    • Ein paar Gedanken zum Gedenken.
    • Weitestgehend und pflichtschuldigst.
    • Die Kraft und die Pauer.
    • Das Hin und Her mit ab und an.


    Ganz amüsant - vielleicht nicht so maliziös wie Ruppert Skasa-Weiß, und mehr in die stilistischen Sprach-Kerben hauend - ist ein Band, der vor bald 30 Jahren erschien (und evtl. noch erhältlich ist?):


    Hans Sommer: "treffend schreiben", ott verlag thun


    Gruss: Glarean

    Wider den Sprach-Murks



    Man kann beim öffentlichen Anprangern von Sprach-Übeln, Grammatik-Verstößen, Moden-Blödsinn, Begriffs-Unsicher-heiten und anderer Deutsch-Stümperei grundsätzlich auf zwei Arten zugange sein: Entweder man stellt den Unsinn wissenschaftlich korrekt-sachlich-lexikalisch-langweilig in den Senkel, womöglich mit oberlehrerhaft erhobenem Zeigefinger - oder wie beispielsweise Ruprecht Skasa-Weiß.
    Der Germanist und Philosoph begann im Herbst 2003 in einer samstäglichen Kolumne der Stuttgarter Zeitung mit betont unterhaltsamem, durchaus informativem, aber wirklich pointiertem «kritischem Beäugen von Schlampereien» - weil «alles knapper wird in der Welt, das Öl, der Regenwald, die Menge der fortpflanzungsfreudigen Deutschen», hingegen der «modische Murks in der Sprache der Medien» uns «täglich reicher zu Gebote» stehe. Das Verlagshaus Klett-Cotta sammelte Skasa-Weiß’ jeweils unter dem Titel «Fünf Minuten Deutsch» erschienenen StZ-Glossen - und gibt mittlerweile bereits seinen zweiten Band mit vergnüglich-lehrreichen Aufsätzchen zur «vermurksten Gegenwartssprache» heraus.
    Die jüngste «Sprachlehre in Plauderform» des 72-jährigen einstigen Feuilleton-Redakteurs, Bavaria-Atelier-Dramaturgs und Korrektors beim A.-Springer-Verlag hält dabei süffisant, oft maliziös, zuweilen sarkastisch Gericht über eine Vielzahl modischer oder «denglischer Packpapierformulierungen», wie sie das «verholzte Deutsch unserer Nachrichtenmedien» massenhaft zumutet. Ein Blick auf ein paar Inhalte der insgesamt 88 thematisch sehr vielfältigen, dabei den Vorgänger-Band erweiternden bzw. ergänzenden «Deutsch-Minuten»:
    «Macht, was Macher machen, Sinn? - Effektiv Fremdes, lapdar beurteilt - Na, heut schon was runtergebrochen? - Ist unakzeptabel inakzeptabel? Das Darstellbare, deutlich realisiert - Unsere Liebl.-Abkz. Kita und Soli - Gehen Studierende über Studenten? - Wem oder wes gegenüber? - Bringen wir’s mal auf den Eckpunkt - Gammellager der Umgangssprache - Wir, die schweigende Mehrzahl - Auf Augenhöhe mit der Augenhöhe - Fahren lassen und fahren gelassen - Hautpsache, kein Nebensatz - Das Stattgefundene, hier findet’s statt - Gesucht: Verfechter für den Genitiv - Zweifel zweifelsfrei in Abrede gestellt - Erschreckte ich Sie, wär’ ich erschrocken».
    So manche der gerade im deutschsprachigen Blätterwald üppig sprießenden Sprach-Blüten und viele der in diesem Band genüsslich-informativ «vorgeführten» Dummheiten der Massenmedien finden ihre Behandlung durchaus auch bei einem berühmten Kollegen von Skasa-Weiß, nämlich bei Bastian Sick und dessen «Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod». Aber Ruprecht Skasa-Weiß schreibt meines Erachtens - natürlich auch unter der strengen Form-Fuchtel der Zeitungskolumne - nicht so langatmig, formuliert witziger, plastischer, bringt seine Sache(n) immer sofort auf den (meist humorigen) Punkt. Der Autor ist ein scharfer, buchstäblich umfassend be-lesener Sprachbeobachter, der zitiert, was das Zeug hält - zur Untermauerung seiner Kritik, und der Leserschaft zum reinsten Lektüre-Spaß. Jenseits aller Duden-Hörigkeit also eine rundum vergnügliche (und sichtlich vergnügte), dabei keineswegs nur von Sprach-Laien mit Nutzen zu lesende «kleine Fibel», welche tatsächlich - der Klappentext verspricht nicht zuviel - geeignet ist, «in vielen Zweifelsfällen Orientierung zu geben».
    (Walter Eigenmann / http://www.glareanverlag.wordpress.com)


    Ruprecht Skasa-Weiß, Weitere Fünf Minuten Deutsch, Die vermurkste Gegenwartssprache, Klett-Cotta Verlag, 208 Seiten,
    ISBN

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    Die Aufklärung - oder
    Maschinen, Manufakturen, Mätressen


    Der deutschstämmige Schweizer Finanz-Publizist und Technik-begeisterte Hobby-Historiker Dr. Carsten Priebe (geb. 1967) stellt seinem neuen 156-seitigen Traktat über die «Maschinen, Manufakturen und Mätressen» in der Aufklärung einen «gloriosen» Ausspruch des maliziösen Ironisten Voltaire voran: «… ohne … die Ente von Vaucanson hätten wir nichts, was noch an die Glorie Frankreichs erinnert…»
    Die Rede ist von der berühmten mechanischen Ente des Grenobler Konstrukteurs Jacques Vaucanson, der sein technisches Meisterwerk erstmals 1738 in Paris einer staunenden Gelehrten-Welt präsentierte. Die Ente, auf einem Podest fixiert, vermochte nicht nur mit den Flügeln zu schlagen und zu schnattern, sondern auch zu fressen, zu «verdauen» und sichtbar auszuscheiden - die perfekte Illusion eines Tieres, welches offenbar, zeitgenössischen Berichten zufolge, von nicht wenigen Betrachtern sogar aus der Nähe für lebendig gehalten wurde.
    Mit seiner «Reise durch die Aufklärung» legt Carsten Priebe eine gleichermaßen informativ wie genussvoll zu lesende Dokumentation vor über eine Ente, die keine ist, und doch mehr ist als eine Ente… Ein Mythos nämlich, und in Wirkung und Geschichte ein Synonym für eine ganze Epoche europäischer Geistesgeschichte. Dabei spart der Autor keineswegs an martialischen Schilderungen auch der finstersten Hinterhöfe jener Zeit, welche bekanntlich nicht nur naturwissenschaftliche Errungenschaften, sondern auch Pest und Siechtum, nicht nur Freigeist-Theorien und revolutionäre Polit-Bewegungen, sondern auch Folter und Hinrichtung, nicht nur technische Höhenflüge, sondern auch Willkür und Feudalismus kannte.
    Aufklärung mal ganz anders - als üppig aufbereitete Fährtensuche nach einer Maschine, deren Spur durch ganz Europa an vielen wichtigen Denkern vorbei in zahlreiche wissenschaftliche und gelehrte «Salons» führt und dabei der Leserschaft auf unterhaltsamste Weise nicht nur ein Technik-Genie jener Zeit, sondern auch ein Gedankengut näherbringt, das bis in unsere Tage nachwirkt. Walter Eigenmann


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    Brillante Sprache


    Am Anfang ist eine Nummer, die Nummer 75. Nur eine von vielen Häftlingsnummern - in einem Lager, dessen Insaßen allein wegen Lügens drahtstranguliert werden. Aber sonst: «die arbeit ist nicht zu hart. nicht einmal, dass einen die wächter treiben, wenn man kurz verschnauft…» Und immerhin: Keine Freiheit, aber stabilisierende Routine. Sogar ein offenes Feuer im Mitttelgang der Baracke ist möglich, und man gönnt sich abends etwas Bob Dylan bei Tabak und Pökelfleisch… Es lässt sich also gerade so eben aushalten, dieses Leben als nummerierter Verbrecher unter vielen anderen anonymen Nummern - auch wenn 75 inzwischen vergessen hat, warum er Sträfling ist. Und wie er heißt. Und wie er überhaupt vorher war und lebte.
    Eines Tages kriegt 75 eine Pistole mit genau vier Schuss Munition in die Finger. Man beschließt den Ausbruch. Die Flucht gelingt - aber nicht die Freiheit…


    «vier schuss» von Stefan Schmitzer hat mit anderen Erzählungen und Romanen zum Lager-Flucht-Traumata die Düsternis des Szenariums, die psychologische Bedrohung solcher existenziellen (Todes-)Erfahrung, die Ich-Entgrenzung bis zum totalen Identitätsverlust gemeinsam. Auch die paranoide Optik des um seine Vergangenheit betrogenen Protagonisten, vom Geschehen in und um ihm/n zu einem geradezu kafkaesken Innenleben getrieben, weil Schuld und Sühne ohne erinnerte Biographie scheitern muss, ist so neu nicht.
    Was aber dieser Debüt-Kurzprosa des 28 Jahre jungen Grazers ein besonderes Faszinosum hinzufügt, ist ihre Sprache. Schmitzer schreibt, als schieße er. Ein semantisches Staccata des gezielten Pfeilens, der wohldosierten Kugel, kalkuliert gesetzt, häufig im Ein- bis Drei-Worte-Rhythmus, mit höchster Präzision treffend, die Handlung vor sich her peitschend, als flüchte nicht nur Nummer 75, sondern flüchteten auch die Wörter: «atem, überholspur. schattenlinien. abrupt anderer tonfall von ihr. nicht genau spielerisch. als wollte sie etwas wettmachen, denkt der flüchtling, aber vielleicht ist das auch nur er. alles so ungewohnt.»
    Wenn Übereinstimmung von literarischem Gegenstand mit seiner sprachlichen Form Qualitätsmerkmal ist, dann ist «vier schuss» von erlesenster Qualität. Und es ist unmöglich Zufall, dass diese Prosa von einem Lyriker stammt - nur dass sie zwar hoch artifiziell ist, aber alles Ätherische, Bildhafte, Verweisende verbannt. Und stattdessen ein Vokabular installiert, welches den Leser mit der unwiderstehlichen Kraft des Faktischen von Punkt zu Punkt schwemmt - atemlos treibende Kleinschreibung inklusive. «vier schuss» ist ein Psycho-Stenogramm von seltener Eindringlichkeit. Und dem Verlag kommt das Verdienst zu, einen wirklich interessanten neuen Prosaisten ins Licht der Buchwelt geholt zu haben. Man ist gespannt darauf, wie dieser Autor mit größeren Formen umgehen wird.
    Walter Eigenmann


    Stefan Schmitzer: vier schuss, Erzählung, Leykam Verlag, 96 Seiten, ISBN 370117590X

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    Die 31. Ausgabe von «Tintenfass» widmet sich «Gott und der Welt»


    In seiner neuen Ausgabe will jetzt das legendäre, im Schweizer Diogenes-Verlag jährlich jeweils zur Frankfurter Buchmesse frisch aufgefüllte «Tintenfass» ganz hoch hinaus. Genau genommen bis in den Himmel - allerdings mit gelegentlichen Abstechern zur Hölle. Denn das just erschienene neue «Magazin für den überforderten Intellektuellen» widmet sich dezidiert einer Frage, die gerade Intellektuelle seit Nietzsches Befund, dass Gott tot sei, permanent (über-)fordert: «Was zum Teufel ist mit Gott los?»


    Eine Frage wahrlich gott-losen, ja teuflischen Ausmaßes, und eine, die zu beantworten man eine Armada von Geistesgrößen aller Zeiten, Kontinente und Stile aufzufahren gezwungen ist. Was die beiden Herausgeber Daniel Kampa und Winfried Stephan denn auch 414 üppig vollgeschriebene und -gezeichnete Buchseiten lang tun. Das Autorenverzeichnis liest sich beinahe wie das Who-is-Who des Theismus, Atheismus und Agnostizismus der neueren menschlichen Geistesgeschichte. Da steht ein Gespräch mit Bernhard Schlink über «Ethikunterricht in der Schule» neben einem Aufsatz von Ludwig Marcuse über «Kann man heute noch beten?»; Satiren wie H.G. Wells’ «Jimmy Glotzauge, der Gott» neben Tiefgründigem wie Marc Aurels «Selbstbetrachtungen»; Chaplins berühmte Schlussrede aus seinem «Diktator» neben Lessings noch berühmterer «Ringparabal»; ein Interview mit Woody Allen («Kunst ist der Katholizismus der Intellektuellen») neben einem vielseitigen Sammelsurium von «ehrfürchtigen und weniger ehrfürchtigen» Gebeten von Teresa v. Avila bis Hans M. Enzensberger; oder der «Brief aus dem Gefängnis» von KZ-Opfer Graf von Moltke neben Prosa-ischem der Regisseurin Doris Dörrie («Burberry-Blues»).


    Das Motto des neuen «Tintenfasses», nämlich «Sinnstiftendes und Übersinnliches», verspricht also keineswegs zuviel. Kommt noch hinzu, was in den Diogenes-Tintenfässern immer hinzukommt, nämlich eine Fülle von exquisit-handverlesenen Zeichnungen, Cartoons und Illustrationen, welche dem religiösen Wort dort weiterhelfen, wo es Bilder braucht. Und seien es solche respekt- bis pietätlosen Schwarz-Weiß-Maliziösitäten wie beispielsweise von Bosc, Ungerer, Chaval u.v.a. Wobei die stilistische und inhaltliche Vielfalt des Bild-nerischen jenem des Wort-lichen in nichts nachsteht. Jedenfalls «zeichnet» ein wahrhaft bunter Haufen von (teils berühmten) humoristischen Philosophen und philosophierenden Humoristen für das Unsinnige im scheinbar Sinnigen verantwortlich; dieses «Tintenfass» ist nicht nur tief, sondern auch breit.
    Wer also nicht Theologie-Systeme, sondern den süffisanten Widerspruch, und nicht kitschige Pietá, sondern kritische Nachdenklichkeit, und schon gar nicht religiösen Gehorsam, sondern aufgeklärte Ehrfurcht verbunden mit verständnisvollem Augenzwinkern fürs Menschlich-Allzumenschliche sucht, der liegt genau richtig mit diesem eindrücklichen, editorial sehr gelungenen Panoptikum «über Gott und die Welt» aus dem für frappantes Lesevergnügen immer wieder rührigen Verlag des gleichnamigen Fass-Denkers.


    Tintenfass, Magazin für den überforderten Intellektuellen Nr.31, Diogenes Verlag, 416 Seiten, ISBN 978-3-257-22031-5


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    Das Schlitzohr von einem Pflichtverteidiger namens Leibowitz dealt mit Gangstern - und kommt im Milieu-Paris kräftig unter die Justiz-Räder. Doch der Winkeladvokat mit grossem Herz und noch grösserer Klappe weiss zurückzuschlagen...
    Der Lumpenadvokat» ist ein mit psychologischem Tempo vorangetriebenes, mit professionell-verständnisvollem Blick für kriminaltechnischen und strafrechtlichen Aberwitz komponiertes, den alltäglichen Justiz-Irrsinn süffisant-lachhaft kredenzendes, dabei atemraubend Hacken schlagendes Stück «Schelmen»-Literatur. Und zwar von jener Art, die man gierig verschlingt und dann für ewig weglegt - aber ziemlich lange nicht vergisst.
    Gute Längere-leicht-trübe-und-etwas-nasse-Herbst-Tage-Lektüre.


    Gruss: Walter

    Hallo


    Hand aufs Herz:
    Wer liest heute noch Gedichte?!


    Aber:
    Ist das Gedicht nicht eigentlich die literarische Gattung der Moderne?


    Denn das zeitgenössische Gedicht mit seiner formalen Experimentierlust,
    seiner lapidaren Knappheit, seiner subjektivistischen Bildsprache,
    seinem sprachlichen Spielwitz, seiner unterkühlten Emotionalität,
    seiner Abkehr von politischen oder psychologischen "Programmen" -
    sind nicht das genau auch wichtige Mainstreams der aktuellen
    deutschsprachigen Kultur- bzw. Literaturszene?


    Jedenfalls gehört zu meinen grössten Leseabenteuern u.a.
    die jährliche Lektüre von "Das Gedicht" (http://www.dasgedicht.de)
    aus dem Münchner A.G.-Leitner-Verlag. Der aktuelle Band Nr. 14
    (ISBN 978-3-929433-66-1) widmet sich dem Tier und zimmert
    aus diesem Thema eine 180-seitige "Arche der Poesie".


    Beeindruckend, welch weites und tiefes Meer
    diese Gedichte-Arche durchmisst!
    Vom kalauernden Reimen eines Frantz Wittkamp...


    Zitat:


    "Neunhundertneunundneunzig Bienen.
    Alle summen, um mir zu dienen.
    Weil ich Summa summarum bin.
    Ich bin die Bienenkönigin."


    ...bis hin zum Mitleid eines Werner Dürrson...


    Zitat:


    "MANN UND KIND BEIM ANGELN
    Du musst den Fisch
    totschlagen
    sieh mal
    Kopf
    schwupp gegen die
    Steinkante
    streicheln
    weisst du
    das dauert zu
    lang"


    ...schöpft "Das Gedicht" aus einer wirklich
    fulminanten Fülle zeitgenössischer Lyrik.


    Bin begeistert!


    Zugreifen, Leute; lest wieder Gedichte! :)


    Gruss: Walter


    Threadtitel-Icon entfernt. LG, Valentine