Die Geschichte vom jungen Vitus, der im Kloster zu Campodios in Spanien aufwächst, klingt ungewöhnlich: Er erfährt kurz vor dem Tod des Abtes, dass er ein Findelkind ist und man weder seine Eltern, noch andere seiner Vorfahren kennt. Der einzige Anhaltspunkt für seine Herkunft könnte das rote Tuch sein, in dem er eingewickelt war, auf dem ein Wappen prangt. Also macht sich Vitus nach dem Tode seines Ziehvaters, des gestorbenen Abtes Hardinus, auf die Reise, um seine Vorfahren zu finden... ausgestattet mit seinem roten Tuch und einem Buch, das nur „De Morbis“ genannt wird – worin die Heilungsmethoden für unzählige Krankheiten beschrieben sind, die schon die alten Griechen und Römer verwandten. Denn Vitus hat ein großes Talent: Medizin.
Eine ungewöhnliche Geschichte und ein gewöhnliches Buch würden gar nicht zusammen passen. Dies dachte sich vermutlich auch Wolf Serno, als er „Der Wanderchirurg“ schrieb. Jedes Kapitel wird mit dem Namen einer Person eröffnet, darunter findet der geneigte Leser ein Zitat derselben. Eine originelle Idee! Außerdem runden Prolog und Epilog die Geschichte um Vitus von Campodios ab und bieten auch einen zeitlich geschlossenen Rahmen.
Serno schafft es den Spannungsbogen konstant aufrecht zu erhalten, was nicht vielen Autoren gelingt, die ein fast 700seitiges Werk schreiben. Neben einer bunten Mischung von Geschichten rund ums neuzeitliche Leben erfährt der Leser auch einiges über Inquisition, Gauklergruppen, Zigeuner und Seefahrt, allem voran jedoch auch über die Medizin. Schließlich ist der 20jährige Vitus sehr gut bewandert in allem, was mit Kräutern, Wunden, Knochenbrüchen und Co. zu tun hat und lässt sich – in Ermangelung eines Nachnamens – bald von seinen Patienten nur noch „Chirurgicus“ nennen.
Während seiner Reise lernt er nicht nur dem sympathischen Ramiro García kennen, der sich ihm schlicht als „Magister“ vorstellt, sondern auch den Zwerg Toxil (später Enano), der ihm sogar zweimal über den Weg läuft. (Man sieht sich schließlich immer zweimal im Leben...!) Selbstverständlich wurde auch diesen beiden wichtigen Personen jeweils ein Kapitel gewidmet. Auch eine Liebesgeschichte ist dabei, die sich allerdings erst zum Ende des Buches ein wenig entwickelt und wahrscheinlich (?) in den Folgebänden eine Rolle spielen wird.
Längen gibt es keine, inhaltliche Fehler/Widersprüche fielen nicht auf. Allerdings hat fast jeder Roman auch kleine Makel, so auch „Der Wanderchirurg“: Serno erleichtert dem Leser manchmal zu sehr die Denkarbeit, bettet zum Beispiel charakterliche Eigenschaften nicht ins Geschehen ein, sondern beschreibt sie direkt. Außerdem wurden etliche Fachbegriffe nicht erklärt, was gerade bei einem Buch mit vielen medizinischen Ausdrücken ins Gewicht fällt.
Und ja, bei Einem muss man einigen Rezensionen bei Amazon Recht geben: Fast alles läuft für Vitus und seine Freunde ziemlich glimpflich ab. Bis auf eine einzige Verbrennung zweier Ketzer stirbt niemand oder wird ernsthaft verletzt (abgesehen von weniger wichtigen Nebenpersonen). Selbst als Vitus auf hoher See ist und mit einem „Schiff wie ein Sieb“ nach England reist, geschieht nichts Schlimmes.
Außerdem ist auch negativ aufgefallen, dass man – wie bei vielen historischen Romanen zuvor – am Ende das Gefühl hatte, die Zeit wurde beim Autor knapp. Die Reise Vitus’ nach England wurde zum Beispiel überhaupt nicht beschrieben (obwohl sie so heikel gewesen sein soll). Dahingegen erstreckte sich die Geschichte um Vitus in den Fängen der Inquisition auf ca. 200 Seiten! Und ganz „zufällig“ finde er letztendlich seine Familie... unglaubwürdig.
Alles in allem war „Der Wanderchirurg“ sehr spannend und interessant, auch wenn man manchmal dachte „Ach, stirb endlich, stirb!“ und es nicht passierte. Auch das ziemlich geraffte Ende ließ das Lesevergnügen leider schnell enden, einige Zufälle kamen unglaubwürdig rüber. Doch gibt es ja – Gott sei Dank – zwei Nachfolgebände: „Der Chirurg von Campodios“ (Teil 2) und „Die Mission des Wanderchiruren“ (Teil 3) werden jedenfalls definitiv in meinem Bücherregal landen, denn es war einfach zu spannend. Außerdem gibt es tolle Einblicke in Medizin und Kräuterkunde aus der Welt des 16. Jahrhunderts. Und: Beide Nachfolgebände sollen (noch) besser sein.
Fazit: Tolles Buch mit kleinen Macken.