Beiträge von Klusi

    Für ihren neuesten historischen Roman hat sich Eva Völler einen sehr interessanten Hintergrund ausgesucht, denn die Geschichte spielt zu der Zeit, als in Amsterdam das „Tulpenfieber“ grassierte. Jeder, der einigermaßen das Geld dafür hatte, spekulierte plötzlich in Tulpenzwiebeln. Es wurden regelrecht Auktionen abgehalten, bei denen es zuging wie an der Börse. In dieser Zeit kommt Pieter als neuer Lehrling zu Rembrandt van Rijn. Pieter ist ein außergewöhnlicher junger Mann. Schon nach wenigen gelesenen Seiten vermutete ich autistische Züge bei ihm, und die Autorin bestätigt dies auch in ihrem Nachwort, dass man bei dem Protagonisten heutzutage vermutlich das Asperger Syndrom feststellen würde. Das ist wohl auch der Grund für Pieters Inselbegabungen, wie man es heutzutage nennt, denn der Junge hat nicht nur großes künstlerisches Talent, sondern seine Leidenschaft gehört daneben der hohen Mathematik. Was ihm dagegen weitgehend fehlt, ist Empathie. Er tut sich schwer damit, Emotionen bei seinem Mitmenschen zu erkennen und ihre Reaktionen einzuschätzen. Dieses mangelnde Gefühl versucht der junge Mann durch höchst komplizierte Berechnungen auszugleichen. Rembrandt erkennt die genialen zeichnerischen Fähigkeiten seines neuen Lehrlings sehr schnell, allerdings hat der Maler andere Probleme. Es kommt zu mehreren Todesfällen, und die Toten haben einiges gemeinsam. Einerseits sind sie alle Tulpenhändler, und sie waren alle Kunden bei Rembrandt, wollten sich vom Meister porträtieren lassen. Auch die Art, wie sie zu Tode gekommen sind, ist gleich und lässt auf Mord schließen. Rembrandt gerät unter Verdacht, denn einige seiner Handlungen sind verdächtig, und er hätte auch ein stichhaltiges Motiv, sich von den verstorbenen Männern trennen zu wollen.

    Pieter nutzt sein mathematisches Genie und erstellt Berechnungen und Diagramme. Er hat sich in den Kopf gesetzt, damit den wahren Täter zu entlarven.


    Pieter ist ein ganz besonderer Protagonist, der durch seine Eigenheiten nicht immer leicht zu verstehen ist, den ich aber innerhalb kürzester Zeit ins Herz geschlossen habe. Die Art, wie ihn die Autorin beschreibt, ist einfach genial und sehr realistisch. Zur damaligen Zeit war der Begriff „Autismus“ noch unbekannt, und die Menschen betrachteten Pieter wohl einfach als Sonderling. Im Haus seines Lehrherrn stößt Pieter nicht gerade auf viel Verständnis, zu fremd ist den anderen Mitgliedern des Haushalts seine Wesensart. Manch einer, der ihm freundlich entgegenkommt, will ihn in Wahrheit nur ausnutzen. Aber er lernt doch einige Menschen kennen, die sich für ihn interessieren und ihm ehrliches Verständnis entgegenbringen.

    Dieser historische Krimi mit seiner vielschichtigen Handlung hat mich von Anfang an gefesselt und nicht mehr losgelassen, denn es gibt so vieles darin zu entdecken. Die beschriebene Zeit mit dem plötzlichen Run auf Tulpenzwiebeln, die Auswirkungen sowie Pieters Berechnungen und Prognosen dazu, fand ich äußerst spannend. Auch die intensiven Einblicke, die man zur damaligen Malerei erhält, sind sehr lehrreich und informativ. Man lernt vieles über die Vorgehensweise und die Gewinnung der benötigten Farben, und es werden Einzelheiten erklärt, die mich künftig alte Gemälde noch einmal mit ganz anderen Augen betrachten lassen.

    Bei den Kriminalfällen folgt man so mancher falschen Spur, denn für mich war die Lösung ganz und gar nicht vorhersehbar. Nicht alles ist so wie es scheint, und in jedem Kapitel warteten neue Überraschungen.

    Nicht zuletzt haben es mir die verschiedenen Charaktere angetan, die so treffend und lebendig dargestellt sind. Da sind neben Pieter natürlich Rembrandt und die Mitglieder seines Haushalts, von denen jeder so seine Geheimnisse hat. Aber auch andere Maler und die Tulpisten, die in der Geschichte eine Rolle spielen, sind sehr ausführlich gezeichnet, auch wenn sie sich nicht immer von ihrer besten Seite zeigen. In der jungen Schankwirtin Mareikje und dem Arzt Dr. Bartelmies hat Pieter verständnisvolle Freunde gefunden – oder scheint das nur so?

    Der Roman ist wundervoll und abwechslungsreich von der ersten bis zur letzten Seite. Man ist nie vor Überraschungen sicher, und immer spielt da auch ein Quäntchen Humor mit. Ich habe dieses wunderbare Buch mit einem lachenden und einem weinenden Auge beendet. Das weinende Auge, weil es nun schon ausgelesen ist und es mir schwer fiel, mich von Pieter und seiner Geschichte zu verabschieden, und das lachende Auge, weil mir diese so ausgesprochen gut gefallen hat. Der Schluss ist ausgewogen und eine Mischung aus fertigen Lösungen und Erklärungen, dabei aber auch reichlich Platz für eigene Gedanken und Träumereien. Sicher wird es für mich nicht beim einmaligen Lesen bleiben, denn ich denke, bei einem Re-Read gibt es noch viel zu entdecken, was man beim ersten Mal vielleicht ganz übersehen hat. Auf jeden Fall ist dieser Roman schon jetzt ein großer Anwärter für meine Jahresfavoriten.


    5ratten:tipp:

    Gemma war noch ein kleines Mädchen, als sie ihre Eltern bei einem verheerenden Brand verlor. Die traumatischen Erlebnisse von damals verfolgen sie auch drei Jahrzehnte später noch bis in ihre Träume. Ihr Vater, Professor für italienische Renaissance, hatte damals wohl etwas sehr Wichtiges entdeckt, das ihm und seiner Familie zum Verhängnis wurde.
    Plötzlich erhält Gemma mehrere rätselhafte Mails, mit Bruchstücken von Gedichten aus Robert Brownings Feder. Auch ein Schmuckstück erreicht sie von einem anonymen Absender, und so beschließt sie, den versteckten und in gewisser Weise beunruhigenden Hinweisen nachzugehen.
    Bei ihrer Suche nach dem Sinn der anonymen Botschaften wendet sie sich an den Oxford-Professor Sisley Ryland-Bancroft. Nach kurzem Zögern beschließt dieser, ihr zu helfen, denn irgend etwas an der verletzlichen jungen Frau und ihrer Geschichte berührt ihn zutiefst.
    Gemeinsam machen sie sich auf eine lange Reise, die ungeahnte Gefahren und so manche Überraschung mit sich bringt.
    Der Roman spielt auf drei Zeitebenen. Die Rahmenhandlung bildet dabei Gemmas Geschichte, die passenderweise im Präsens erzählt wird. Dazwischen findet man Abschnitte, die ins 19. Jahrhundert, zu dem Dichterehepaar Elizabeth Barrett und Robert Browning, entführen. Weitere Passagen erzählen die anrührende Geschichte von Lucrezia di Cosimo de’ Medici. Diese sind aus der Ich-Perspektive der jungen Lucrezia geschrieben. Bei den beiden historischen Handlungssträngen hat man anfangs den Eindruck, sie hätten recht wenig mit dem aktuellen Geschehen um Gemma zu tun. Es lohnt sich jedoch, hier ein wenig Geduld aufzubringen und sich darauf einzulassen, denn erst nach und nach fügt sich eines zum anderen, bis sich zuletzt alle Puzzleteile passgenau zusammensetzen und ein fertiges Gesamtbild ergeben. Es sind so viele Details in der Geschichte versteckt, die sich erst auf den zweiten oder gar dritten Blick erschließen!


    Mit Gemma und Sisley hat der Roman zwei außergewöhnliche, interessante Charaktere, die einerseits so verschieden wirken und doch die selbe Sprache sprechen. Es sind zwei richtige „Anti-Helden“, die im Lauf ihrer Reise in Situationen geraten, die sie an ihre Grenzen bringen, die sie aber gerade miteinander bestehen können, weil sie gegenseitig ein tiefes Verständnis aufbringen.


    Bildhaft und wunderschön ist die Sprache der Autorin, und die Protagonisten sind so farbig und lebendig dargestellt, dass es ein Leichtes ist, sie und ihre Beweggründe zu verstehen und mit ihnen zu fühlen. Überhaupt spielen Bilder und Farben in der Handlung eine tiefgreifende Rolle, und es hat mir viel Freude gemacht, ein Gemälde bis in seine Details zu erschließen.
    Dies ist ein Buch, das sich lohnt, mehrfach zu lesen, denn erst nach und nach wird man alle Facetten und Zusammenhänge erkennen und so manche Metapher entdecken.
    Darüber hinaus zeichnet sich der Roman durch plastische, farbenprächtige Schilderungen der besuchten Schauplätze aus, was das Lesen zum Genuss macht.


    5ratten

    Der 2. Weltkrieg wirft lange Schatten...


    In diesem Roman gibt es zwei Handlungsstränge. Einer führt die Leser ins Sudetenland, wo man mit Eva, ihrer Familie, ihrer Freundin Molly und ihrem geliebten Jan die Zeit des 2. Weltkriegs und danach erlebt. Hier erfährt man den Krieg mit seinen Schrecken und seine Folgen aus Sicht der Menschen, die aus ihrer Heimat vertrieben wurden, weil die Tschechen die verhassten Deutschen nicht mehr in ihrem Land haben wollten. Ich muss gestehen, dass mir die Ereignisse aus diesem Blickwinkel bisher fremd waren, umso stärker hat mich der Roman hier berührt, denn die Charaktere sind so detailliert gezeichnet, die Schicksale der Menschen so eindringlich dargestellt, dass man sich dem einfach nicht entziehen kann. Brigitte Riebe hat ihre fiktiven Figuren in ein nur allzu reales Umfeld gestellt, und was sie da erlebten, macht mich betroffen.


    Der zweite Handlungsfaden verläuft in der Gegenwart. Marlene Auberlin führt am Bodensee, nach dem Tod ihrer Mutter Eva, das Familienunternehmen, eine gut gehende Schnapsbrennerei, weiter.
    Nach Evas Beerdigung übergibt Marlene ihrer Nichte Nane, die zur Trauerfeier angereist ist, einen Umschlag mit dem Vermächtnis der Großmutter. Als Nane die Aufzeichnungen liest, wird sie mit mehreren tragischen Familiengeheimnissen konfrontiert. An ihr ist es nun, Licht in das Dunkel der Vergangenheit zu bringen und einiges zu klären. Nane, die bei ihrer Ankunft mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen hatte, findet hier, in ihrer alten Heimat zu einer neuen Sichtweise ihres Lebens und ihrer Familie. Sie begegnet Menschen, denen sie vertrauen kann und die sehr wichtig für sie werden. Die Ruhe, Schönheit und Klarheit des Bodensees helfen ihr, die Vergangenheit ihrer Familie aufzuarbeiten und Entscheidungen zu treffen, die ihr weiteres Leben stark beeinflussen werden.


    Beide Handlungsebenen haben mich fasziniert und sehr berührt. Vor allem bei der Schilderung von Evas dramatischer Vergangenheit musste ich oft schlucken. Die Autorin hat gründlich recherchiert und in ihrem Roman nichts übertrieben oder aufgebauscht, denn die Wahrheit war schrecklich genug, und ähnliche Schicksale wie die hier geschilderten gab es zuhauf.
    Ich habe schon einige Romane von Brigitte Riebe gelesen, die mir sehr gefallen haben, aber ich finde, mit dieser fesselnden Familiengeschichte hat sie sich selbst übertroffen.
    Hat man einmal mit dem Buch begonnen, so fällt es sehr schwer, es zwischendurch aus der Hand zu legen, denn Evas, Marlenes und Nanes Geschichte lässt einen nicht mehr los.
    Vieles, was die Zukunft der Protagonisten angeht, bleibt offen, aber im positiven Sinn, und ich denke, am Ende können wir unsere lieb gewonnenen Helden beruhigt sich selbst überlassen, denn sie werden das, was auf sie zukommt, gemeinsam meistern. In Gedanken werde ich sicher noch oft bei Nane und ihren Lieben weilen, zu stark hat mich diese großartige Geschichte mit all ihren Schicksalen berührt.


    5ratten

    Der englische Botaniker, von dem dieser Roman handelt, ist kein geringerer als Robert Fortune, der 1843, im Auftrag der Royal Horticultural Society, China bereiste, um seltene Pflanzen, insbesondere wundervolle Päonien und den kostbaren Tee, nach Europa zu bringen.
    In England lässt er seine Frau Jane und zwei Kinder zurück, als er zu diesem großen Abenteuer aufbricht.
    Anfangs hat Robert Fortune große Schwierigkeiten, sich in diesem fernen Land zurecht zu finden und die Mentalität der Menschen zu verstehen, die so ganz anders ist als in seiner Heimat. Bald lernt er das Schwertmädchen Lian kennen und ist fasziniert von dieser geheimnisvollen jungen Frau, die ihm das Leben rettet. In Gesprächen nähern sie sich an, und Fortune erhält durch Lian ein völlig neues Verständnis von China vermittelt. Durch sie beginnt er, die Menschen dieses Landes und ihre Einstellung besser zu verstehen. Aber auch Lian gewinnt, durch die Gesellschaft des ernsten, sanftmütigen Botanikers, unerwartet ganz neue Erkenntnisse über die westlichen „Barbaren“.
    Beide profitieren von der Gesellschaft des jeweils anderen; Lian und Fortune scheinen mit einem unsichtbaren, starken Band verbunden. Hoch oben in den Bergen, wo der beste Tee wächst, öffnen sie sich gegenseitig ihre Seele und ihr Herz.


    Der Roman ist vor einem realen Hintergrund erschaffen, denn Robert Fortune und seine Frau Jane haben tatsächlich gelebt. Der schottische Gärtner und Pflanzenforscher unternahm einige Reisen in das Reich der Mitte, und wir haben ihm viele wundervolle Pflanzen zu verdanken, die für uns heute selbstverständlich sind, die aber erst der Forschungsreisende aus China mitgebracht hat. Durch Fortunes Schmuggel von Teepflanzen nach Indien verlor China damals sein Monopol, und wir können heute die Tees aus einer Vielfalt von Anbaugebieten verschiedener Länder genießen.
    Lian dagegen ist ein fiktiver Charakter, eine starke junge Frau, die zugleich etwas Ätherisches, Geheimnisvolles an sich hat. Zeitweise schließt sie sich der kleinen Reisegesellschaft um Robert Fortune an, um dazwischen immer wieder ohne Abschied zu verschwinden. Auch bei Fortunes sonstigen Erlebnissen hat die Autorin ihrer Phantasie freien Lauf gelassen. Aus einer gelungenen Mischung von wahren und fiktiven Elementen ist ein wundervoller Roman entstanden, den ich mit großem Genuss gelesen habe.


    Es ist eine eher ruhige und zugleich eindrucksvolle Geschichte, passend zu der immer ein wenig unergründlichen Atmosphäre, die das Land für seine Besucher bereit hält und auch zu Fortunes Charakter. Der Forscher erscheint zeitweise in sich gekehrt und lebt in seiner eigenen Welt - der Welt der Pflanzen. Ihre Gesellschaft ist ihm meist genug, bis er Lian kennenlernt. Sie ist eine Kämpferin für Gerechtigkeit, die sich für die Hilflosen und Benachteiligten einsetzt. Wie sich die Protagonisten erst zaghaft und langsam annähern, ist wundervoll in Worte gefasst. Nicole C. Vosseler erzählt hier eine bittersüße Liebesgeschichte, die zu Herzen geht und zum Träumen einlädt. Aber das ist nur die eine Seite des Romans, denn da ist nicht nur der einsame Mann, weit entfernt von seiner Familie, der sich von Lians Ausstrahlung fesseln lässt, sonder da gibt es ja auch noch die andre Seite, Robert Fortune, den Biologen und Forscher. Im Roman haben wir Leser die Gelegenheit, einiges über seine Arbeit zu erfahren. Es fallen viele lateinische Bezeichnungen zur Flora des Landes, doch die traumhaften Blüten, die dahinter stehen, werden in so poetischer Weise beschrieben, dass man automatisch ins Schwärmen gerät, zumindest wenn man sich, so wie ich, gerne ein wenig näher mit dem interessanten Thema Botanik befasst.
    Neben Robert Fortune kommen auch immer wieder die beiden starken Frauen zu Wort, die im wahren und im fiktiven Leben des Protagonisten eine wichtige Rolle spielen. Da ist einmal Jane, seine Ehefrau, die mit den gemeinsamen Kindern in England zurück bleibt und auf seine Rückkehr wartet, die nach und nach aber auch eigene Wege beschreitet, an der Zeit des Alleinseins wächst, erstarkt und für sich das Beste daraus macht.
    Und dann ist da das geheimnisvolle Schwertmädchen, einerseits stark und mutig, aber auch mit geheimen Träumen und Wünschen - Lian, die sich Fortune auch von ihrer schwachen, verletzlichen Seite zeigt und ihm eine völlig neue Welt und eine andere Sichtweise eröffnet.


    „Der englische Botaniker“ ist ein vielschichtiger Roman, der mich in mehrfacher Hinsicht begeistern konnte. Einerseits zeigen Teile der Handlung sehr realistisch die besondere Situation in China auf, die zur damaligen Zeit herrschte. So manches, was hier beschrieben ist, bringt einen auf den Boden der Tatsachen zurück, beispielsweise wenn man über die Ausmaße und Ursachen des Opiumhandels erfährt oder von der erschütternden Tradition der Lotosfüße liest. Auch meinem Wissensdurst wurde Rechnung getragen, denn ich habe sehr viel Neues erfahren und gestaunt, welche Pflanzen, die uns heute so vertraut sind, wir Robert Fortune verdanken, diesem ruhigen, sachlichen Wissenschaftler, der eine Vielfalt pflanzlicher Schönheiten im fernen Osten gefunden und nach Europa gebracht hat. Besonders hat mich auch die Geschichte des Tees fasziniert, über die man im Roman so einiges erfährt.
    Es ist eine Geschichte, die alle Sinne anspricht und zum Träumen einlädt. Der Schreibstil ist sprachgewaltig und von zarter Poesie, einfach wunderschön. Mich haben die traumhaften Schilderungen des Landes, der Menschen und der Flora gefangen genommen und die teils symbolhaften Darstellungen zum Nachdenken gebracht. Manches hat die Autorin bewusst offen gelassen, damit man als Leser die Geschichte weiterspinnen kann. Immer, wenn ich nun eine der im Buch erwähnten Pflanzen sehe oder eine Tasse chinesischen Tee genieße, werde ich wieder an diesen wundervollen Roman erinnert und lasse meine Gedanken zu den Protagonisten schweifen.
    5ratten

    Nürnberg im Februar 1409: Der elfjährige Waisenjunge Jona ist ein Dieb und Bettler. Kurz nach seiner Ankunft in Nürnberg wird er beim Stehlen erwischt und zu Zwangsarbeit verurteilt. Zusammen mit einem Leidensgenossen kann er fliehen und streunt halb verhungert und frierend durch die Stadt. Als ihn ein Mann anspricht und eine leichte Anstellung sowie eine Unterkunft und Verpflegung anbietet, kann er nicht widerstehen und sagt zu. Angeblich soll er nur eine kleine Gefälligkeit dafür erledigen. Aber ehe er sich versieht, steckt er in großen Schwierigkeiten, denn er ist in eine sehr dubiose Sache hinein geraten. Zu spät erwacht Jonas Misstrauen gegenüber seinem Auftraggeber, und er endet schwer verletzt in einem Hinterhof. Dort findet ihn die Salbenmacherin Oliviera und gerät ebenfalls in große Gefahr.


    Dies ist der zweite Band und damit der Nachfolger des Romans „Die Salbenmacherin“. Die optische Gestaltung ist hervorragend auf den ersten Teil abgestimmt, und die beiden Bücher bilden eine harmonische und sehr schöne Einheit im Regal.
    Endlich können wir das Schicksal von Oliviera weiter verfolgen, die ein Jahr zuvor ihre Heimat Konstantinopel verlassen hatte und nach Tübingen gereist war. Ich möchte nicht zu viel verraten und gehe daher gar nicht tiefer auf die Handlung und das private Umfeld der Protagonistin ein. Nur so viel: Oliviera lebt nun in Nürnberg und ist dabei, sich eine neue Existenz aufzubauen.
    Es ist nicht unbedingt notwendig, den ersten Band gelesen zu haben, denn die wesentlichen Fakten zu früheren Ereignissen lässt Silvia Stolzenburg zwischendurch gekonnt in die Handlung einfließen, so dass man sich stets gut zurecht findet, und die Geschichte um den Waisenjungen Jona findet hier erst ihren Anfang. Aber ich empfehle doch, zuerst „Die Salbenmacherin“ zu lesen, denn das erhöht den Lesegenuss und sorgt auch für ein noch besseres Verständnis der Zusammenhänge.
    Der neue Roman ist wieder spannend von der ersten bis zur letzten Seite. Auch diesmal gibt es einen düsteren, leicht gruseligen Hintergrund. Auf Oliviera warten neue Probleme und Herausforderungen, und die Schatten der Vergangenheit lauern auch hier in der Stadt, die sie als ihre neue Heimat gewählt hat. Alle Charaktere, die in der Geschichte agieren, sind vielschichtig dargestellt und nicht immer leicht durchschaubar. Die Autorin versteht es meisterhaft, unheimliche Szenen sehr plastisch zu schildern, was einem beim Lesen häufig eine Gänsehaut beschert. Mir hat hier besonders gut gefallen, dass die Geschichte in Nürnberg spielt und die Schauplätze so ausführlich gezeichnet sind. Nürnberg ist eine Stadt, die ich häufig und gerne besuche, und in diesem Roman konnte ich im Geiste durch die Gassen wandern. Viele der beschriebenen Ecken waren mir vertraut, weil ich sie aus heutiger Sicht kenne. Auch wenn sich das Stadtbild natürlich sehr gewandelt hat, konnte ich mir die ganze Handlung noch viel besser vorstellen, denn die alten Gebäude sind ja noch vorhanden.
    Ich mag den Schreibstil der Autorin sehr gerne, denn er ist flüssig, dabei aber nicht oberflächlich, sondern sehr eindrucksvoll. Jedenfalls war ich wieder ganz im Bann der turbulenten Ereignisse. Viel zu schnell war ich auf der letzten Seite des Buches angekommen. Aber für alle, denen es ebenso erging, hat die Autorin eine gute Nachricht; es wird eine Fortsetzung geben. Darauf freue ich mich schon sehr, denn die historischen Romane von Silvia Stolzenburg sind gut recherchiert und versprechen immer wieder ein fesselndes Lesevergnügen der Extraklasse.


    5ratten

    Meine Meinung:
    Im letzten Teil der Kreuz-Trilogie, der im Jahr 1362 in Koblenz spielt, geht es in der Hauptsache um Enneleyn, Johann von Mantens uneheliche Tochter. Zwar hat sie im Haushalt ihres Vaters und ihrer Stiefmutter Elisabeth liebevolle Aufnahme gefunden, aber gesellschaftlich fühlt sie sich nicht anerkannt. Sie ist nicht wenig geschmeichelt, als der Ritter Guntram von Eggern um sie freit, und sie stimmt einer Heirat mit ihm zu. Selbst als Enneleyn merkt, dass ihr Mann grausam und ganz anders ist, als er sich nach außen hin gibt, hält sie an ihrem Eheversprechen fest und erduldet alles, was ihr Guntram zumutet. Der Grund für ihre Duldsamkeit ist, dass sie ihren Vater nicht enttäuschen möchte, denn der Makel ihrer unehelichen Geburt haftet an ihr, und sie möchte den Menschen, die sie liebt, keine weiteren Unannehmlichkeiten bereiten, denn eine Auflösung der Ehe, in der sie mehr als unglücklich ist, würde einen Skandal hervorrufen.
    Enneleyns innere Zerrissenheit ist sehr gut dargestellt, und in mancher Hinsicht kann man sie auch verstehen, obwohl sie es mit Gehorsam und Demut schon oft allzu genau nimmt. Wenn man Guntram von Eggern jedoch im Lauf der Handlung immer besser kennen lernt, versteht man, dass Enneleyn auch aus Angst so handelt, denn sie möchte Freunde und Familie nicht in Gefahr bringen.


    Wie man es von der Autorin gar nicht anders erwartet, sind auch hier wieder alle Charaktere sehr lebendig und ausführlich dargestellt, so dass man fast meint, die beschriebenen Menschen selbst zu kennen. Es gibt ein Wiedersehen mit vertrauten Personen aus den ersten beiden Bänden, aber es kommen auch neue, zum Teil sehr liebenswerte Charaktere, dazu.
    Sehr gut hat mir auch hier wieder gefallen, dass man viel über das alltägliche Leben im vierzehnten Jahrhundert erfährt und sich alles lebhaft vorstellen kann, denn man wird mit hineingenommen, in das Familienleben der Von Mantens und der Kaufleute Luzia und Martin Wied, die man aus dem zweiten Band kennt. Natürlich erhält man auch Einblicke in Enneleyns Haushalt, wenn auch diese von eher unschöner Natur sind, denn auf die Erfahrungen der jungen Frau in ihrem trostlosen Eheleben kann man gerne verzichten.
    Auch wenn es der letzte Teil einer Trilogie ist, kann man diesen Roman jederzeit für sich lesen, ohne Verständnisschwierigkeiten zu haben, denn Petra Schier lässt immer kleine Details und Rückblenden aus den ersten Teilen einfließen, die Neueinsteigern alles Wissenswerte von früher erklären und auch denjenigen, die vor längerer Zeit die ersten Bücher gelesen haben, eine kleine Erinnerungsstütze bieten. Mir ging es so, dass ich einige Sachverhalte im Lauf der Jahre vergessen hatte, denn immerhin ist es fast vier Jahre her, dass ich „Die Eifelgräfin“ gelesen habe. Aber während des Lesens kamen dann die Erinnerungen wieder, so dass ich keinerlei Probleme hatte, die Zusammenhänge zu damals herzustellen. Aber ich empfehle doch, die Trilogie der Reihe nach zu lesen, wenn man noch keines der drei Bücher kennt. Man hat dann einfach noch mehr davon.


    Das Besondere und Außergewöhnliche dieser Trilogie ist eine Verbindung durch ein magisches Kruzifix, welches im Jahr 1148 von drei Männern, bei ihrer Beute aus dem damaligen Kreuzzug, vorgefunden wurde. Im Angesicht des Kreuzes schworen sich die Drei auf ewig Freundschaft und gegenseitigen Schutz für ihre Familien.
    Seit damals war die Reliquie im Besitz der Nachfahren dieser Männer, und es warnte die Besitzer vor nahenden Gefahren. Wieso das Kruzifix ausgerechnet am Tag von Enneleyns Verlobung wieder anfängt, zu vibrieren und zu leuchten, erfährt man in diesem fesselnden Roman, den man schon nach wenigen Seiten gar nicht mehr aus der Hand legen mag und in dem die Kreuz-Trilogie einen schönen und zufriedenstellenden Abschluss findet.


    5ratten

    Meine Rezension:


    Stralsund im Sommer 1310: Die Kaufmannstochter Antonia ist mit ihrem Leben zufrieden. Sie führt den väterlichen Haushalt mit Hingabe. Als der Vater plötzlich stirbt, zerplatzen ihre Träume und Pläne wie Seifenblasen, und sie sieht einer ungewissen Zukunft entgegen. Sie muss sich in eine vom Bruder arrangierte Ehe fügen und ihrem künftigen Gemahl, Conrad von Drachenfels, zu seiner Burg im Siebengebirge folgen.
    Auf Drachenfels angekommen, muss sie zu ihrem Entsetzen feststellen, dass Conrad Menschen verschleppt hat und sie als Sklaven in seinem Steinbruch beschäftigt, unter ihnen auch der Bernsteintaucher Jaramir.
    Spontan beschließt Antonia, den Gefangenen zu helfen, was sich als schier unmögliches Unterfangen erweist. Allein kann sie es nicht schaffen, sondern ihr Plan kann nur mit Hilfe von Verbündeten gelingen. Diese findet sie in Jaramir und ihrer treuen Magd Jenne. Aber Conrad ist auf der Hut, und er ist gefährlich, auch für Antonia.


    Die sympathische Antonia habe ich von Anfang an in mein Herz geschlossen. Zwar kann sie nach dem Tod ihres Vaters nicht selbst bestimmen, wie sie ihre Zukunft gestalten möchte, sondern wird in eine ungewollte Ehe gedrängt, aber sie ist stark und lässt sich nicht entmutigen. Auch ist sie ein sehr spontaner Mensch und dabei nicht auf den Mund gefallen. Sie sagt, was sie denkt und handelt nach ihrem Herzen.
    Neben ihr hat der Roman noch weitere Sympathieträger zu bieten. Da ist einmal Jaramir, der Bernsteintaucher, der Antonia vom ersten Augenblick, als er sie sah, sehr zugetan ist, und dann kommt da auch noch die Magd Jenne ins Spiel, die für Antonia im Lauf der Zeit zur Vertrauten und Freundin wird.
    Die Schauplätze des Romans sind detailliert und lebendig geschildert, so dass man sich die jeweilige Szenerie sehr gut vorstellen kann. Der angenehm flüssige Schreibstil macht das Buch zu einem kurzweiligen Schmöker, denn die Handlung legt ganz schön an Tempo vor und weist keine Längen auf. Es ist eine Geschichte, die einen gefangen nimmt, bei der man mit den Protagonisten bangen, leiden und hoffen kann.
    Die Sprache des Romans ist nicht altertümlich, sondern neutral, manchmal sind mir kleine Bemerkungen aufgefallen, die fast ein wenig „modern“ wirkten und die ich im 14. Jahrhundert als etwas ungewohnt empfand. Aber gerade der unkomplizierten Sprache wegen kann ich dieses Buch besonders Neueinsteigern ins Genre der historischen Romane ans Herz legen, die sich bisher von den oft gebrauchten altertümlichen Redewendungen und Begriffen haben abschrecken lassen. Die Geschichte um Antonia und Jaramir ist hier geradezu ideal, denn sie lässt sich leicht lesen und entführt die Leser doch vollkommen in eine andere Zeit.


    4ratten

    Das Sternenboot - Stefanie Gerstenberger


    Nicola und Stella, die Hauptfiguren des Romans, kommen am gleichen Tag, dem 1. April 1947, zur Welt, doch während Flora und Tommaso, Nicolas Eltern, ihren kleinen Sohn mit Freude und sehr liebevoll empfangen, wird Stella in eine kalte Welt geboren, wo es von Seiten ihrer adligen Eltern keine Liebe für sie gibt. Ihre Mutter, unzufrieden mit ihrer Ehe und ihrem ganzen Leben, hatte alle Hoffnungen in die Geburt eines Sohnes gesetzt, aber es ist „nur“ ein drittes Mädchen geworden. Sehr bald kommt die Kleine in die Obhut ihrer Großeltern und ihrer Tante Assunta. Hier wächst sie, zusammen mit ihrem Cousin Lolò, in einer Atmosphäre von Zuneigung und Geborgenheit heran.
    Nico ist noch ein Kleinkind, als sein Vater, der Carabiniere, bei einem Einsatz auf mysteriöse Weise ums Leben kommt. Von da an gibt es für Flora nur noch ihren geliebten Sohn, dem sie all ihre Fürsorge angedeihen lässt. Dass er sich für das nahe Meer, fürs Schwimmen und Tauchen begeistert, kann sie gar nicht verstehen, es bereitet ihr eher Sorgen, denn ständig fürchtet sie, dass Nico etwas zustoßen könnte.


    Ihre erste Begegnung steht unter keinem guten Stern, denn Stella, mittlerweile von ihrer leiblichen Mutter in die Villa geholt und dort nur schikaniert, möchte fliehen und weiß nicht wie und wohin. Nico kann ihr nicht helfen, muss aber von da an ständig an das faszinierende Mädchen mit den traurigen Augen denken.
    Immer wenn sich die Aprilkinder treffen, kommt es zu irgendwelchen Missverständnissen, und Stella bemerkt nicht, dass sich Nico in sie verliebt hat. Doch der gibt nicht auf, obwohl alles gegen diese Verbindung spricht und seine Liebe hoffnungslos scheint.
    Wie es mit den beiden jungen Menschen weitergeht, darauf möchte ich hier gar nicht weiter eingehen, denn das muss man einfach selbst lesen!


    Ich habe alle bisher erschienenen Romane von Stefanie Gerstenberger gelesen, und sie haben mich alle fasziniert und begeistert. Auch bei diesem war es nicht anders. Ihr neues Werk spielt wieder in Italien, fällt aber ein wenig aus dem Rahmen, wenn man die anderen Bücher der Autorin kennt. Bisher spielten alle, mit diversen Rückblicken auf frühere Begebenheiten, größtenteils in der Gegenwart. „Das Sternenboot“ jedoch beginnt im Jahr 1947, in der Nachkriegszeit, und man verfolgt über die Jahre die Entwicklung der Protagonisten, wie sie langsam die Kinderschuhe abstreifen und zu jungen Erwachsenen werden.
    Wie die Autorin das Land und die Menschen schildert und ihre Geschichte erzählt, ist so lebendig und farbig, dass man sich fühlt, als wäre man mittendrin.
    Es ist diese ganz besondere Art, Dinge und Stimmungen zu beschreiben, immer mit kleinen italienischen Kommentaren versetzt, die die Atmosphäre so plastisch und authentisch werden lassen.
    Und dann gibt es auch die bedrohlichen Situationen, denn unter südlicher Sonne regiert die Mafia und versetzt die Menschen in Angst und Schrecken.
    Ist die Geschichte auch oft tiefgründig und ein wenig melancholisch, gibt es doch auch die humorvollen Momente, wo man diese ganz besondere italienische Lebensart und Leichtigkeit entdeckt. Dieser Roman duftet nach Meer und Zitronen, er atmet sizilianische Luft, er berührt und er hat Seele.


    Ich muss gestehen, dass mich besonders der letzte Satz der Geschichte stark beunruhigt hat, denn er sagt so vieles aus, und doch weiß man nicht, wie man ihn einordnen soll. Was es mit dieser Bemerkung auf sich hat, werden wir erst im zweiten Teil erfahren, den es laut Aussagen der Autorin im kommenden Jahr geben wird. Aber bis zu seinem Erscheinen ist noch eine lange Zeit des Hoffens und Bangens, so dass wir Leser noch gewaltig auf die Folter gespannt werden. Ich kann es kaum erwarten!


    5ratten

    Mich würde interessieren, wie die Geschichte aus Émilies Sicht aussehen würde. Es geht mir nicht in den Kopf, dass sich zwei Menschen über Jahre hinweg so verhalten, nur weil sie schüchtern oder stolz sind. Wenn Khadra seine Figuren so agieren lässt, muss er Hintergedanken gehabt haben. Schade, dass er das den Lesern vorenthält, auch wenn er andererseits damit Anlass für Spekulationen schafft. Das wäre mal ein Fortsetzungsband der anderen Art, aus der Perspektive eines anderen Protagonisten.


    Ja, da hätte mich Émilies Meinung und Sichtweise auch sehr interessiert. Aber genauso, wie Jonas seinen Mitmenschen im Roman viel vorenthält, so macht es auch der Autor mit seinen Lesern. Vielleicht ist das auch eine Mentalitätssache.

    "Manches Schweigen sollte man besser nicht stören" schreibt Émilie in ihrem einzigen Brief, den Jonas nach ihrem Tod liest. Das Schweigen war meiner Meinung das wirkliche Problem zwischen den beiden, nicht die Tatsache, dass sie verschiedenen Völkern angehörten. Wie zwei Menschen so dauerhaft, quasi ein ganzes Leben lang, aneinander vorbei reden bzw. agieren können, ist mir ein Rätsel, besonders in diesem Fall, denn sie lieben einander ja! Ich kann das irgendwie nur sehr schlecht nachvollziehen, da ich selbst mein Herz recht locker auf der Zunge trage. Kümmernisse und Probleme müssen geklärt werden und zwar zu Lebzeiten! Ich finde es einfach unglaublich, wie sich Émilie aus der Affäre gezogen hat, ihren Brief und gleichzeitig damit ihre Vergebung quasi aus dem Jenseits geschickt hat. Ich gebe zu, dieses Ende läßt mich aufgewühlt und unzufrieden zurück. :grmpf:


    Aber trotz aller Kritik bin ich froh, das Buch gelesen zu haben, denn die Sprache hat mir gut gefallen, und ein klein wenig (leider zu wenig) habe ich doch über die Algerische Geschichte dazu gelernt.

    Auf mich macht Younes bzw. Jonas immer mehr einen etwas abgehobenen Eindruck. Er hält sich stets passiv im Hintergrund, macht seine Sorgen mit sich selbst aus, ohne seine Umwelt in irgendeiner Form daran teilhaben zu lassen. Ich habe das Gefühl, dass gerade diese Haltung seine Freunde provoziert, denn je weniger er selbst tut, umso radikaler wenden sich seine Mitmenschen gegen ihn. Jeder scheint die Wut über eigene Schwierigkeiten und Probleme gerne auf ihn abzuwälzen. Unverständlich fand ich den langfristigen und tiefgründigen Hass ihm gegenüber, der sich bei Jean-Christophe festgesetzt hat. Und von Simons Beteuerung, er würde sein letztes Hemd für Jonas geben, ist in der Praxis recht wenig zu merken.
    Über die allgemeine Situation in Algerien erfährt man in diesen Kapiteln mehr, und auch hier würde Jonas am liebsten in der stillen Beobachterrolle verharren, wäre da nicht Djelloul, der sich an ihn erinnert und ihn unfreiwillig in eine politische Aktion verwickelt.


    Je mehr sich die Freunde in Rio von ihm abwenden, umso stärker macht er sich auf die Suche nach seinen Wurzeln und nach alten Bekannten.Auch wenn Jonas viel von seinen Gedanken preis gibt, kann ich seine Beweggründe und Argumente oft nicht nachvollziehen. Auch seine fortwährende Suche nach Émilie ist für mich nicht so recht verständlich. Sie hat sich ja mehrmals von ihm abgewendet, aber er kann es einfach nicht dabei bewenden lassen.


    So ganz schlüssig bin ich mir nicht, was es mit dem Schluss dieses Abschnitts auf sich hat, als Djelloul meinte, seine Schuld Jonas gegenüber damit zu begleichen, wenn er ihm Jean-Christophe ausliefert oder übergibt (da kann ich nicht recht einordnen, was diese Szene eigentlich bewirken sollte)

    Völlig unmöglich fand ich das Verhalten von Madame Cazenave. Ihr Auftritt in der Apotheke wirkte auf mich fast lächerlich. Interessanterweise hatte Jonas zu diesem Zeitpunkt noch keine Ahnung über Émilies oder seine eigenen Gefühle. Er wirkt auf mich nach wie vor sehr introvertiert, angepasst und passiv. Einmal gesteht er Émilie, dass er schüchtern ist. Mit dieser Charaktereigenschaft stand er sich ja schon häufiger selbst im Weg.



    Ich lese zur Zeit etwas widerwillig, weil die Handlung zunehmend verflacht und sich auf eine Liebesgeschichte reduziert. Émilie hat eine seltsame Art, den Kontakt zu Younes aufrecht zu erhalten, indem sie nacheinander Beziehungen mit seinen Freunden eingeht. Letzten Endes offenbart sie ihm zwar ihre Gefühle, aber ohne diese Kenntnis hätte Younes ebenso gut glauben können, dass Émilie nur mit ihnen spielt und sich insgeheim über sie lustig macht.
    Mir ging es ähnlich, die Handlung zog sich recht langatmig dahin, ohne wirklichen Tiefgang. Émilie ist mir nicht so recht sympathisch. Sie spielt die Freunde regelrecht gegeneinander aus. Ihre Beteuerungen, sie würde Jonas lieben, kamen mir nicht so recht glaubwürdig vor.



    Nicht schlau geworden bin ich über die Worte "spann eine dicke Wolke ihre Wolle am Sonnenspinnrad;". Es muss einen Grund geben, warum sie kursiv gesetzt sind. Habt ihr eine Idee dazu?

    Ich könnte mir nur vorstellen, dass es sich um ein Zitat von Fabrice handelt oder auch um eine Textstelle aus irgendeinem Klassiker, der in Algerien allgemein bekannt ist.

    Ich finde es schon zu dezent, so ausführlich sind die Hintergrundereignisse nicht geschildert. Im letzten Teil wird es zwar nochmal besser, aber zufrieden stellt mich das auch nicht. Schade, dass diese Gelegenheit verpasst wurde.


    Doris, da gebe ich dir Recht, die historischen Ereignisse hätten gerne noch ein wenig ausführlicher sein können.

    In diesem Abschnitt wird die Kluft sehr deutlich, die sich durch die damalige Bevölkerung Algeriens zog. Die eigentlichen Ureinwohner des Landes werden auch hier unterdrückt und, gegenüber den französischen Staatsbürgern, als Menschen zweiter Klasse behandelt. Younes erfährt die zwei Seiten sehr deutlich, denn einerseits lebt er jetzt in guten Verhältnissen, andererseits zieht es ihn immer wieder zu den Plätzen seiner Kindheit und Vergangenheit zurück. Er macht eine Bemerkung, dass dieses eine Treffen mit seiner Mutter das letzte Mal war, dass er sie gesehen hat. Vermutlich werden wir nicht mehr erfahren, was aus der Familie geworden ist. Dass Younes seinen Vater immer wieder in einer Menschenmenge sieht, ist sicher auf sein Wunschdenken zurück zu führen.
    Der Onkel scheint durch seinen Gefängnisaufenthalt bleibende Schäden zu haben, denn er zieht sich immer wieder in eine eigene Welt der Wahnvorstellungen zurück.
    Younes hat Freunde gefunden, und gemeinsam erleben die Vier ihre Entwicklung vom Jungen zum Mann. Dass Younes die schöne Hadda in einem Bordell entdeckt, hat mich nicht allzu sehr verwundert, denn es hat schon vorher so einiges darauf hin gedeutet; sie war ja allein und mußte sich irgendwie durchs Leben schlagen.
    Insgesamt ist es schon ein großer Zeitabschnitt, der hier auf wenig Seiten behandelt wird, und da kommen die Feinheiten des alltäglichen Lebens leider zu kurz. Manchmal hätte ich gerne mehr über den Alltag der jungen Männer erfahren. Es hat den Anschein, als würde das Leben der Freunde hauptsächlich aus Müßiggang bestehen. Aber das liegt vermutlich wirklich an der gerafften Form der Erzählung. Immerhin hat Younes anscheinend zwischendurch in der Apotheke geholfen.
    Schön an diesem Roman finde ich, dass man, neben Younes' Lebensgeschichte, so ganz dezent immer auch über das Weltgeschehen auf dem Laufenden gehalten wird. Gerade über die frühere Geschichte und die Entwicklung Algeriens wußte ich bisher noch nichts.

    Seine schnelle oder vielmehr seine widerstandslose Anpassung an die neue Situation kommt mir seltsam vor, je länger ich darüber nachdenke. Younes war elf, also in einem Alter, wo man sich schon langsam abnabelt, aber seine Eltern und den vertrauten Familienkreis noch braucht. Er ist zwar generell eher zurückhaltend und fügsam, aber diese Passivität bei einem so wesentlichen Einschnitt in sein Leben finde ich fragwürdig. Er leidet zwar auch im Geheimen, aber welcher Junge, der seinen Vater so verehrt und seine Familie liebt, nimmt das ohne aktive Gegenwehr hin? Dass er dann ohne Widerstand den neuen Namen akzeptiert, der ja doch ein wesentlicher Teil einer eigenen Identität ist, ist auch erstaunlich. Das alles widerspricht komplett dem, was ich von Kindern kenne.


    Ich denke, dass Younes den Halt im vertrauten Familienkreis eben nicht so stark hatte, wie das für ein elfjähriges Kind wünschenswert wäre. Die Mutter erscheint mir zwar recht vernünftig, und Younes scheint sie zu verehren, aber eigentlich hat sie recht wenig zu sagen, und der Vater ist so damit beschäftigt, die Familie zu erhalten, dass sein Sohn darüber in den Hintergrund gerät. Younes nimmt das alles wohl nicht bewußt wahr, aber ich kann mir gut vorstellen, dass durch diese familiäre Situation seine Reaktionen anders ausfallen, als man das von einem Jungen in diesem Alter erwartet.

    Was Issa, dieser stolze Mann, hier erleben mußte ist wirklich tragisch. Mir ging es auch so, dass ich gleich ein mulmiges Gefühl hatte, als er seine Idee bekannt gegeben hat, Geschäftsteilhaber zu werden. Auch Issas Frau hatte ja eine dunkle Vorahnung, dass die Sache schief gehen würde. Wenn ich es recht bedenke, war es das erste Mal überhaupt, dass sie ihrem Mann widersprochen hat. Vermutlich hatte sie richtig Panik. Dass Issa sich für die erlittene Schmach an El Moro bitter gerächt hat, war verständlich, obwohl es letztendlich Mord war. Als Younes nun zu seinem Onkel kommt, ist das eine tiefgreifende Änderung in seinem Leben, die er trotzdem erstaunlich gut verkraftet. Dass er sich verhältnismäßig schnell eingewöhnen konnte, liegt sicher hauptsächlich daran, dass es eine Wende zum Besseren für ihn war. Trotzdem war es nicht einfach für ihn, die neue Umgebung unterscheidet sich völlig von allem, was er bisher gekannt hat. Die Zuneigung, die ihm Mahi und Germaine entgegenbringen, sind einerseits angenehm, andererseits fühlt er sich vermutlich doch sehr bedrängt davon.
    Am stärksten hat mich die Szene berührt, als Younes seinen Vater zufällig wieder getroffen hat. Diese Situation war für beide Seiten sehr schlimm. Der Sohn hat wohl in dem Moment alle Illusionen verloren, die er bis dahin über seinen Vater hatte, und Issa hat sich geschämt. Die verzweifelten Versuche, trotz völliger Trunkenheit ein wenig seiner Würde zu bewahren, haben mich erschüttert. Die Verschlossenheit, mit niemandem über sein Erlebnis zu reden, liegt wohl in der Familie. Vater und Sohn tragen beide nicht ihr Herz auf der Zunge. Wie für seinen Vater der Alkohol, so war wohl für Younes die Krankheit eine Art Ventil, um mit dem Erlebten fertig zu werden.


    Dann ist Issa verschwunden. Ich habe mich gefragt, was wohl aus seiner Frau und der kleinen Tochter geworden ist. Wovon leben die beiden jetzt? Das ging nicht so recht aus der Erzählung hervor.

    Die Frage, die sich mir am Ende des ersten Abschnitts stellt, ist die: warum ist die Freundschaft zu Ouari zerbrochen? Liegt es daran, dass er das Geld zurück gegeben hat oder bestand die Freundschaft nur in Younes' Phantasie? Schließlich hat immer nur er die Nähe des anderen gesucht, nie umgekehrt.


    Das habe ich mich auch gefragt, wieso sich Ouari plötzlich so abweisend verhält. Das gibt für mich im Moment keinen rechten Sinn. Vielleicht war die Freundschaft wirklich nur sehr einseitig.

    Das kann ich so nicht sehen. Er konnte als absoluter Neuling in Oran ja nicht wissen, wie lange er wegbleiben würde, konnte nicht einmal wissen, dass er eventuell irgend wohin gebracht würde, wo er seinen Sohn nicht in der Nähe warten lassen könnte, und hatte schon gar keine Ahnung, in welch einem verrufenen Viertel er seinen Sohn zurückließ.


    Das konnte er sicher nicht wissen, aber wieso hat er ihn überhaupt auf Arbeitsuche mitgenommen? Er mußte doch damit rechnen (bzw. darauf hoffen) schnell einen Job zu finden, und in der Sitution hat der Vater, meiner Meinung nach, recht kopflos gehandelt. Gerade als Neuling wäre ein wenig Voraussicht angebracht gewesen.

    Der Verlust der Ernte war schrecklich, da konnte ich anfangs auch verstehen, dass Issa verzweifelt war, denn das Feld war ja die Lebensgrundlage der Familie und das Erbe seiner Vorfahren. Dass er die Hilfe des Hirten ausgeschlagen hat, habe ich darauf zurück geführt, dass Issa niemanden in die Nähe seiner Frau und der Tochter kommen lassen wollte und vor allem, er möchte sich niemandem verpflichtet fühlen. Als sein Bruder ihm Hilfe anbietet, verhindert sein Stolz, sie anzunehmen, auch wenn es meiner Meinung nach falscher Stolz ist. Nicht einmal das selbst verdiente Geld seines Sohnes würde er annehmen, als müßte er um seine alleinige Autorität fürchten, wenn er in irgendeinem Punkt nachgibt. Ich könnte mir vorstellen, dass Issas Benehmen typisch für die damalige Zeit in Algerien war. Sein gebildeter Bruder ist da wohl eher die Ausnahme mit seinen fortschrittlichen und vernünftigen Ansichten.
    Trotzdem finde ich das Benehmen des Vaters irritierend. Wie ihr bereits geschrieben habt, wenigstens seinem einzigen Sohn könnte er doch etwas mehr Zuneigung entgegenbringen. Als er ihn stundenlang in der Garküche zurück gelassen hat, fand ich die Bemerkung des Wirts sehr treffend, wenn er Issa als Schwachkopf bezeichnet.
    Der Schreibstil des Romans gefällt mir sehr gut. Er ist flüssig und interessant, und ich komme gut voran.