Beiträge von Sandmeer

    Um 1900 hatten Franzosen, Engländer und sogar Holländer und Belgier die „Bürde des weißen Mannes“ auf sich genommen und sich ihren Platz an der Sonne gesichert, indem sie allerlei Kolonien „gründeten“. Selbstverständlich wollten auch die reichsgeeinten Bismarckdeutschen am imperialistischen Hype um Tabakplantagen, Christusverbreitung und Handabhacken teilhaben. Veränderte der expansive Drang der elektrisierten Europäer das Antlitz der Welt, so veränderten Menschen und Materialen aus den Kolonien auch die Mutterländer. Plötzlich gab es exotische Früchte zu kaufen, exotische Tiere konnte man in den überall entstehenden Tierparks bewundern – und die passenden (oder passend gemachten) exotischen Menschen noch dazu. Es war die Zeit der Völkerschauen, in der, ganz dem darwinistischen Zeitgeist entsprechend, die Grenze zwischen Tier und Mensch verschwamm. Literarisch wurde dieses Thema bisher eher stiefmütterlich behandelt, doch letztes Jahr konnte Christian Krachts „Imperium“ einen mittelgroßen Skandal entfachen, als er Sprache und Gestus der Jahrhundertwende in seinem Roman einfließen ließ. Relativ unbemerkt blieb leider CKLH Fischers „Große Kannibalenschau“, der bereits 2010 im Berliner Verlag Periplaneta veröffentlicht wurde. Auch Fischer hatte sich dem wilhelminischen Biotop angenommen, nur erzählt sein Roman von eben jenen Völkerschauen. Der Coup seiner fiktiven Geschichte mit teilweise realem Personal besteht in der Herauslösung der Zurschaugestellten aus ihrem Opferstatus. Die von Heinrich Hermann mittels Vertrag von Deutsch-Neuguinea in den Hamburger Zoo gelockten „Kannibalen“ pochen plötzlich mithilfe zweier Anwälte auf die Einhaltung eben dieses Vertrages. Der Leser verfolgt in zwei zeitversetzten Erzählsträngen Hermanns Reise nach Deutsch-Neuguinea und den weiteren, durchaus komischen Verlauf dieser unerhörten Situation. Das Herz der Finsternis lauert dabei nicht im Dickicht neuguinesischer Mangrovenwälder, sondern offenbart sich in den Sprachspielen der zivilisatorischen Avantgarde. Die ständig wortstark beschworenen Werte und überlegenen Sitten werden auf der Handlungsebene unterminiert. Das passiert vornehmlich, wenn etwa der Anblick, der doch sehr menschlichen Rundungen der Wilden bei den Bürgerinnen und Bürgern stets zu Hitzewallungen aller Art führt. Für die finden sie aber keine Worte, weil ihre eingeübten Konventionen für die interkulturelle Gefühlsebene nur militärisches oder zoologisches Vokabular zu bieten hat. Doch das rassistische Geschwätz ist so unschuldig wie Heinrich Hermanns Heroinkonsum, und Fischer gelingt es angenehmerweise ohne erhobenen Zeigefinger eine skurrile Geschichte moralisch zu grundieren; zu den Höhepunkten zählen sicherlich die Momente, wo sich Deutsche und Kannibalen so recht nicht mehr unterscheiden lassen und sich in ihren jeweiligen vermeintlich angestammten Eigenschaften übertrumpfen. Und so ist die „Große Kannibalenschau“ von CKLKH Fischer einer der besten historischen Romane der letzten Jahre. Wer sich mit der kolonialen Vergangenheit und Mentalität eines untergegangenen Reiches unterhaltsam beschäftigen will, kommt an,Fischers „Große Kannibalenschau“ nicht vorbei. Muten dessen Bewohner und ihr Gehabe heutzutage doch durchaus exotisch an. Eine echte Völkerschau eben.

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    „Elf Märchen für Entflohene“ verspricht das Buch „Der Zeit abhanden“ von Torsten Schneyer. Wobei die Kategorie Buch nur unzutreffend das „Gesamtkunstwerk“ (Schneyer) erfasst, denn die knapp 160 Seiten starke Erzählsammlung ist zusammen mit einer CD von Schneyers Band „Adversus“ in einem schick aufgemachten Pappschuber erschienen. Buch und CD verweisen aufeinander: Die Texte finden sich im Buch, die Geschichten aus dem Buch auf der CD. Doch das Buch ist mehr als ein zu groß geratenes Booklet, die düsteren Erzählungen sollen deshalb an dieser Stelle für sich besprochen werden. Die Kritik des musikalischen Parts reduziere ich auf den Hinweis, dass zuerst die Lektüre des Buches erfolgen sollte, um anschließend die angelesenen Bilder im Kopf mit der passenden neoklassisch-brachialen Klangkulisse zu unterlegen. Kopfkino at its best. Bilder finden sich übrigens auch im Buch, von Schneyer selbstgemalte, die die einzelnen Geschichten einleitend illustrieren. Die sind stets chromschwarz-dreckigweiß und diese Farbwahl leitet passend zu den elf melancholischen Nachtstücken über, die in bester Tradition eines Hoffmanns stehen. Da rächen sich gequälte Spinnentiere an ihrer Peinigerin, Zeit und Raum verlieren ihre verlässliche Größe und Ängste und Hass der Menschen nähren unterirdisch wuchernde Krebsgeschwüre. Die böse Tat hat böse Folgen; das ist der rote Faden, der sich durch beinahe alle Geschichten spinnt und „Der Zeit abhanden“ zu mehr macht, als eine weitere Gespenstergeschichten-Anthologie. Hier schimmert bei allem Leid auch immer die Sehnsucht nach einer Menschlichkeit durch, die verhindert, dass bloßer Kulturpessimismus in Zynismus und Fatalismus umschlägt. Aber ich will nicht zu dick auftragen, Schneyer ist schlichtweg sehr gute phantastische Literatur gelungen. So wie sie sein muss, als Einbruch des Unheimlichen in eine unheimlich normale Welt. Um zum Abschluss dann doch noch auf das Gesamtwerk einzugehen: Artwork, Musik, Geschichten neigen zum Pathos, und dieses Pathos zu benutzen und dem Kitsch zu entkommen, das ist die große Kunst, die Schneyer/Adversus mit „Der Zeit abhanden“ rundherum gelungen ist. Und wer noch nicht der Tristesse des Alltags entflohen ist, dem helfen die elf schwarzromantischen Märchen zum Entfliehen.


    EDIT: Autorennamen im Betreff ein "n" spendiert sowie Amazonlink eingefügt. LG, Saltanah