[Tansania] Abdulrazak Gurnah – Die Abtrünnigen

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    bzw. auf englisch Desertion 

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    Inhalt: In einer kleinen Siedlung in der Nähe von Mombasa öffnet der Ladenbesitzer Hassanali jeden Morgen die Moschee für die Gläubigen. Aber an diesem Morgen im Jahr 1899 kommt er nicht dazu, denn vor ihm bricht ein völlig entkräfteter Europäer zusammen. Es besteht kein Zweifel unter den sich schnell sammelnden Leuten, daß Hassanali diesen Mann als Gast in sein Haus aufnehmen muß. Da er nicht weiß, was mit dem stöhnenden Mann los ist, schickt er sicherheitshalber auch nach der Heilerin. Am nächsten Tag schon wird der mzungu aber vom örtlichen Distriktsoffizier Frederick Turner abgeholt. Martin Pearce, Orientalist, begleitete eine Jagdtour, die ihm wenig zusagte, wurde dann aber von seinen Führern in der Wildnis zurückgelassen. Er erholt sich schnell in Turners Haus, und er ist tief betroffen, als er erfährt, daß die Familie, die ihn zunächst aufnahm, auch noch bedroht und als Diebe beschimpft worden war, weil sie angeblich sein Eigentum nicht herausgeben wollten. So läßt er sich zu Hassanalis Haus führen, um für seine Rettung zu danken. Dabei lernt er Hassanalis ältere Schwester Rehana kennen, die von ihrem Mann verlassen wurde. An dieser Stelle wird die Erzählung zunächst von einem Ich-Erzähler unterbrochen, der erklärt, er wisse nicht, wie es zu der Liebesbeziehung zwischen Pearce und Rehana gekommen sei, aber sie hätten eine Weile zusammengelebt, bevor Pearce nach England zurückgekehrt sei und daher auch seine Tochter nicht mehr kennengelernt habe.


    Nach diesem Intermezzo macht die Erzählung einen Sprung in die 1950er Jahre nach Sansibar. Dort lernt der Leser vor allem die drei Geschwister Farida, Amin und Rashid kennen. Farida ist zur Enttäuschung ihrer Eltern, die beide als Lehrer arbeiten, wenig geneigt, viel zu lernen und fällt durch alle wichtigen Prüfungen. Amin ist ein gehorsamer Sohn, der auch beruflich in die Fußstapfen seiner Eltern tritt. Rashid aber hat größere Ambitionen, und es gelingt ihm, ein Stipendium für ein Studium in Großbritannien zu ergattern. Dort muß er schnell feststellen, daß die britische Kultur, der er sich zu Hause so nahe fühlte, vor Ort ganz aussieht, und daß er Abgrenzungen zwischen „schwarz“ und „weiß“ auch schnell übernimmt. Vor allem mit Amin steht er in recht regem Briefkontakt, und so erlebt er aus der Ferne die Unabhängigkeit Sansibars und die kurz darauf folgende Revolution mit. Vor allem aber interessiert ihn, ob die Liebesaffäre, die Amin kurz vor Rashids Abreise hatte und die diesem von seinen Eltern schlicht verboten wurde, wirklich beendet ist und welche Spuren sie hinterlassen hat. Jamila, Amins Freundin, ist die Enkelin Rehanas.



    Meine Meinung: Der Originaltitel Desertion paßt eigentlich besser als der deutsche, denn ob hier jemand abtrünnig wird, ist die Frage, verlassen wird aber auf jeden Fall viel: Rehana von ihrem Mann und später von Pearce, Jamila von Amin, Rashid seine Familie für seine Ausbildung und er selbst später von seiner Frau, die Engländer überstürzt Sansibar ... Gurnah hat seine Geschichte gut konstruiert, auch wenn der Bruch in der Mitte mit den Vermutungen des Ich-Erzählers zunächst merkwürdig wirkt und man sich im Anschluß an das Intermezzo zunächst fragt, was die nun eingeführten Personen denn bitte schön mit der Geschichte davor zu tun haben. Aber hier wird ein höchst aktuelles Thema behandelt: kulturübergreifende Kontakte und Beziehungen sowie die Probleme, die sich daraus für die Beteiligten ergeben. Rehana und Hassanali entstammen nämlich selbst schon einer solchen Beziehung: der Vater Inder, die Mutter Afrikanerin. Und bei Jamila kommt nun auch noch erschwerend der englische Großvater und die wilde Ehe ihrer Großeltern hinzu, das wäre zu dieser Zeit auch in Europa noch ein Problem gewesen, in einer konservativen muslimischen Gesellschaft ist es das erst recht. Das alles wird sehr sorgfältig entrollt und vermittelt ein detailreiches Bild.


    Hier passiert nicht viel im Sinne einer aktionsgeladenen Handlung. Stattdessen widmet sich jedes Kapitel, vor allem im ersten Teil, schwerpunktmäßig einem Charakter und enthüllt dessen Vorgeschichte, die Gedanken und Gefühle, die psychologische Disposition, mit der das eigene Leben in den recht engen Rahmenbedingungen der Gesellschaft gestaltet werden kann – oder das zumindest versucht wird. Die Reaktionen sind dabei sehr unterschiedlich, sie reichen von Unterordnung und Akzeptanz bis zu offener Rebellion. Der Perspektivenwechsel ist Gurnah gut gelungen und sein Stil hat mich wie schon in Das verlorene Paradies völlig überzeugt, wobei ich letzteres in deutscher Übersetzung, dieses hier aber im Original gelesen habe. Und obwohl ich jetzt lange über diesen Kommentar nachgedacht und ihn vor dem Posten mehrfach bearbeitet habe, habe ich immer noch das Gefühl, daß er der Vielschichtigkeit des Romans nicht gerecht wird *seufz* Also am besten einfach selber lesen!


    4ratten + :marypipeshalbeprivatmaus:


    Schönen Gruß,
    Aldawen

    Einmal editiert, zuletzt von Aldawen ()