Leo Perutz - Wohin rollst du Äpfelchen...

  • Leo Perutz: "Wohin rollst du Äpfelchen..."


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    1918. Ende des ersten Weltkrieges. Georg Vittorin und vier Kriegskameraden sind nach zweijähriger Kriegsgefangenschaft aus dem russischen Lager von Tschernawjensk entlassen und sitzen im Zug Richtung Wien. Sie schwören Rache. Der Lagerkommandant Seljukow hat sie schlecht behandelt, Vittorin in harscher Weise gedemütigt. In Wien aber gliedern sich die vier Kameraden ohne Probleme wieder ins zivile Leben ein und denken gar nicht daran, um der Rache willen nach Russland zurückzukehren. Offenbar haben sie ihre Schmach schnell vergessen. Nur Vittorin nicht. Er ist fixiert, von Rache besessen. Er will den Kommandanten zur Strecke bringen und reist zurück nach Russland. Dort gerät der in die Unruhen des Bürgerkrieges zwischen den Rotarmisten und der Weißen Armee. Das tut Vittorins Rachegelüsten keinen Abbruch, und wenn wegen seiner Besessenheit einige Menschen sterben müssen, strebt Vittorin energisch weiter seinem Wunsch entgegen, vor Seljukow zu stehen, ihm eine Kugel durch den Leib zu jagen. Doch seine Jagd auf den Stabskapitän Michael Michajlowitsch Seljukow entpuppt sich als eine Jagd auf ein nicht fassbares Fantom. Vittorin jagd Seljukow quer durch Europa. Für Vittorin wird er zum „bösen Geist einer entarteten Zeit.“ Eine herrliche Idee von Perutz, Seljukow zu einer Metapher mutieren zu lassen.


    Zitat von "Leo Perutz"

    In ihm haßt Vittorin alles Schändliche...Konstantinopel ist voll von diesen düsteren Gestalten, voll von Menschen, deren Fingerandrücke in den Polizeiämtern registirert sind, überall sieht man ihre gierigen und gemeinen, verschwommenen und verfetteten Gesichter. Sie verdienen am Krieg, an der Politik, an der Spionage...Mit Verbrechern aller Erdteile hab' ich mich herumgeschlagen...


    Den böse Geist der entarteten Zeit finden wir auch in Wien. Doktor Emperger, einer von Vittorins ehemaligen Lagerkameraden sagt:


    Zitat von "Leo Perutz"

    Sie sind wieder zu Hause, alles ist vorüber. Jetzt heißt es arbeiten, wieder von vorn beginnen, den Krieg vergessen.


    Bloß, wie soll man den Krieg so schnell vergessen, wenn man gerade erst aus dem Krieg zurückgekommen ist? Vergessen kann man einen Krieg überhaupt nicht, wenn man einen erlebt hat, höchstens verdrängen. Das rächt sich aber. Doktor Emperger ist auf seine Weise genauso verrückt wie Vittorin auf seine Weise. Die (wohl reicheren) Wiener feiern Feste, und auf der Straße hört man Lieder singen wie „...Der Tschechoslowak/ steckt alles in Sack,/ Die Wiener werden krepieren.“


    Das Zeitkolorit hat Leo Perutz sehr schön eingefangen. Hierin liegen die Stärken des Romans. Vittorin ist in Russland. Schaurig und wahr heißt es:


    Zitat von "Leo Perutz"

    Ein blutiger Nebel lag über der russischen Erde.


    Leo Perutz hätte den Charakter Vittorins, und seine psychische Verfassung besser ausgestalten müssen. Da reicht es eben nicht, wenn er in Visionen vor Seljukow steht und anschließend wieder zur Tagesordnung übergeht. Es hätte gestalterisch viel tiefer in die Psyche eingedrungen werden müssen, um den Leser fassbar vor Augen zu führen, warum Vittorin den Boden unter den Füßen verloren hat. Wie Perutz seinen Vittorin dargestellt hat, ist er auch nur ein Schemen, der ein Fantom jagd. Nun kenne ich Leo Perutz in einigen anderen Romanen als höchst raffinierten Romangestalter und es ist nicht auszuschließen, dass diese Schemenhaftigkeit Vittorins beabsichtigt ist, weil „Georg Vittorin der Welt, in der er lebte, entfremdet war.“ Trotzdem ist es mir lieber, wenn sich ein Protagonist griffiger hervorhebt.

    „Warum rollst du Äpfelchen“
    (1928) ist ein Kriegsheimkehrerroman. Ein anderer bekannter Heimkehrerroman aus den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts ist „Die Flucht ohne Ende“ (1927) von Joseph Roth, darin Franz Tunda aus russischer Gefangenschaft flieht und in den Bürgerkrieg hineingezogen wird. Das besondere am Perutzroman ist, dass der Heimkehrer wieder zurückkehrt, und der Roman sich zu einem abenteuerlichen Spannungsroman entwickelt.


    Liebe Grüße
    mombour

    Einmal editiert, zuletzt von mombour ()