Thomas Morus – Utopia

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  • Originaltitel: Libellus vere aureus nee minus salutaris quam festivus de optimo reipublicae statu deque nova insula Utopia


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    In der Vorrede an seinen Freund Peter Gilles entschuldigt Morus zunächst, warum er so lange gebraucht habe, um die Erzählung ihres gemeinsamen Bekannten Raphael Hythlodaeus über die Insel Utopia aufzuschreiben und bittet Gilles, sofern er die Gelegenheit habe, gleich noch bei Hythlodaeus nachzufragen, wo diese Insel denn liege, er habe vergessen, dies zu fragen.


    Die eigentliche Erzählung teilt sich in zwei Bücher. Im ersten erfährt der Leser zunächst, wie Morus die Bekanntschaft von Hythlodaeus machte. Außerdem enthält dieser Teil ein gerüttelt Maß Kritik an den englischen Verhältnissen des frühen 16. Jahrhunderts, die Morus Hythlodaeus in den mund legt. Dieser will vieles davon bei einer Einladung zum Erzbischof von Canterbury geäußert haben, bei dem sich auch der Erzbischof selbst als Sozialreformer entpuppt. Hythlodaeus weist nämlich darauf hin, daß seiner Ansicht nach das exzessive Erhängen von Dieben den gewünschten Abschreckungseffekt gar nicht haben kann, denn wenn man für Diebstahl genauso aufgehängt wird wie für Mord, dann könne man den etwaigen Zeugen auch gleich beseitigen, dann sinkt auch die Wahrscheinlichkeit einer Ergreifung wieder. Außerdem hätten viele keine andere Möglichkeit, als sich entweder als Diebe durchzuschlagen oder als Vagabunden, was sie aber auch ins Gefängnis brächte. Die Vertreibung so vieler Bauern von ihren Höfen um stattdessen riesige Schafherden für die Wollproduktion auf das Land zu bringen, nehme den vormaligen Bauern die Existenzgrundlage, und selbst wenn sie ihre Arbeitskraft anbieten, so will sie ja keiner haben. Auch die Müßiggänger im Umkreis der Adligen sieht Hythlodaeus als potentielle Diebe und Räuber, wenn beim Übergang des Titels auf einen Nachfolger zunächst ihren Lebensunterhalt verlieren. Da sie nichts anderes als das Waffenhandwerk gelernt haben, ist die Räuberkarriere naheliegend.


    Für Hythlodaeus ist ganz klar, daß das Privateigentum, das Streben danach, den eigenen Besitz ständig auf Kosten anderer zu vergrößern, ursächlich für diese gesellschaftlichen Fehlentwicklungen ist. Das Gegenbeispiel habe er auf der Insel Utopia gesehen, wo er insgesamt fünf Jahre gelebt habe. Die Beschreibung der Verhältnisse auf der Insel nimmt das zweite Buch ein. Dabei läßt Hythlodaeus keinen wichtigen Bereich in seinen Beschreibungen aus. Zunächst beschreibt er die geographischen Bedingungen der Insel (in Form und Anzahl der Städte an das England jener Zeit angelehnt), die Anlage der Stadtgrundrisse, die Familienstrukturen mit dem regelmäßigen Bevölkerungsaustausch zwischen Stadt und Land, die Wahl von Vertretern (Phylarchen) bis hoch zu einer Art König oder Präsident, der abgesetzt werden kann, wenn man Tendenzen zur Tyrannei zu erkennen meint. Dabei ist auffällig, daß die Familiengrößen zahlenmäßig kontrolliert werden. Bevölkerungsüberschüsse an einem Ort werden zunächst verwendet, um schwächere Städte wieder zu füllen, ansonsten in Form von Kolonisten „exportiert“.


    Da es kein Privateigentum gibt, arbeiten alle nur für das Gemeinwohl, und da dies alle tun und zudem keine Luxusgüter produziert werden müssen, für die die Utopier keine Verwendung haben, reichen sechs Stunden Arbeit pro Tag aus. Gegessen wird gemeinsam in Speisehallen, geschlafen wird acht Stunden, die restliche Zeit verwenden die Utopier für Studien, meist dadurch, daß sie öffentliche Vorlesungen besuchen. Wem das zu intellektuell ist, der darf über die vorgeschriebene Zeit hinaus arbeiten, aber nicht dem Müßiggang frönen. Möglichkeiten der Zerstreuung, egal ob Spiel oder Abhängen in einer Schenke, gibt es nicht, Reisen auf der Insel sind nur mit offizieller Genehmigung gestattet. Kriege werden bevorzugt mit Söldertruppen geführt, auch das Aussetzen von Kopfprämien auf Tod oder Auslieferung der gegnerischen Führer ist verbreitet. Es gibt nur wenige Gesetze, die auch einfach gehalten sind, damit sie jeder versteht. Mißachtung führt gleichwohl zur Strafe, allerdings im Regelfall in Form von Sklaverei, also Zwangsarbeit, damit die Gesellschaft etwas davon hat. Auch auf Ehebruch und vorehelichem Geschlechtsverkehr stehen strenge Strafen. Gemeinsam ist den Utopiern der Glaube an ein höchstes Wesen und die Unsterblichkeit der Seele, dessen konkrete Ausgestaltung aber jedem Einzelnen überlassen bleibt. Nur Atheist darf man nicht sein, da der Glaube an die Bestrafung bzw. Belohnung von schlechten und guten Taten im Leben den Glauben diese Unsterblichkeit der Seele voraussetzt und das wiederum wird zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung gebraucht. Ganz Utopia ist also durch ein System lückenloser Kontrolle gekennzeichnet. Die Priester überwachen die Einhaltung der moralischen Grundsätze und des Lebenswandels, die Phylarchen den Arbeitseinsatz und der Senat der Städtevertreter die Beachtung der Gesetze. Privatsphäre gibt es daher natürlich auch nicht, alle Häuser stehen grundsätzlich offen und können immer und von jedem betreten werden.


    Es ist wohl unwahrscheinlich, daß Morus eine solche Gesellschaft wirklich als ideal angesehen hätte. Morus selbst war überzeugter Katholik, er hat Heinrich VIII. zweimal den Suprematseid verweigert und ist deshalb hingerichtet worden. Daher ist wohl nicht anzunehmen, daß er die Indifferenz des religiösen Bekenntnisses auf Utopia als erstrebenswert betrachtete. Auch an anderen Stellen durchzieht ein ironischer Unterton die Lobgesänge Hythlodaeus' auf die Insel, das beginnt schon mit dem Namen des Berichterstatters, der sich sinngemäß als Schwätzer übersetzen läßt. Die Motivation zur Arbeit sieht Morus offensichtlich ohne Privateigentum auch gefährdet, deshalb muß sie durch andere Mittel erreicht werden, und das ist hier die Angst vor der höheren Gewalt der Religion. Viele Details der Gesellschaft und der Verhältnisse auf Utopia zeigen, daß Morus die Reiseberichte seiner Zeit, auch die von Amerigo Vespucci, mit dem Hythlodaeus gesegelt sein will, kannte und Elemente daraus übernommen hat. Auch Anleihen an monastisches Leben sind erkennbar. Desgleichen hat er Marx sowie andere Theoretiker des Kommunisnis beeinflußt. Mit der heutigen Kenntnis dessen, wie die Staaten des „real existierenden Sozialismus“ funktioniert haben, hinterläßt Utopia ein ziemlich beklemmendes Déjà-Vu-Gefühl. Daß es aber auch Parallelen außerhalb davon gibt, die bis heute ungebrochen sind, wird deutlich, wenn man sich die Ausführungen über das Rechtssystem und vor allem die damit befaßten bzw. auf Utopia nicht benötigten Personen ansieht. Manche Probleme sind eben schon seit 500 Jahren die gleichen wie heute und klingen allzu vertraut:


    [quote author="S. 137 f."]
    Gesetze haben sie sehr wenige; denn für ein Volk mit solchen Einrichtungen genügt eine verschwindend kleine Zahl. Ja, sie mißbilligen bei den andern Völkern vor allem, daß man dort selbst mit unförmlichen Bänden von Gesetzen und Kommentaren nicht auskommt. Sie ihrerseits finden es höchst ungerecht, daß Menschen an Gesetze gebunden sein sollten, die entweder zu zahlreich sind, als daß man sie alle durchlesen könnte, oder zu rätselhaft, als daß sie jemand verstünde.
    Von Advokaten wollen sie rein nichts wissen, da ihre Prozeßführung hinterlistig und ihre Rechtsauslegung verdreht sei. Sie halten es nämlich für zweckmäßig, daß jeder persönlich seine Sache führe und dem Richter dasselbe sage, was er seinem Anwalt würde erzählt haben; so gebe es weniger Umschweife und lasse sich die Wahrheit leichter herausbekommen. Denn wenn einer spricht, ohne daß ihm ein Anwalt Flausen einbläst, kann der Richter alles einzelne unbeirrt abwägen und ein einfaches Gemüt vor den Ränken eines Pfiffikus schützen, was anderswo bei dem Haufen komplizierter Gesetze eine schwierige Aufgabe ist.(...)
    Sie sagen nämlich, da Gesetze nur deswegen erlassen würden, damit jeder wisse, was er zu tun habe, würde eine allzu feine Erklärung nur die wenigsten an ihre Pflicht mahnen, weil sie eben nur wenigen verständlich wäre, wogegen eine einfachere und näherliegende Sinndeutung der Gesetze jeder begreifen könne. Für das Volk, das die Mehrzahl bildet und am meisten eine Ermahnung nötig hat, mache es keinen Unterschied aus, ob man ein Gesetz überhaupt nicht erlasse oder das erlassene in einem Sinne interpretiere, der nur mit scharfem Verstand und nach langer Diskussion erfaßt werden kann, niemals aber vom naiven Volksempfinden und von Leuten, die mit dem Broterwerb genug zu tun haben.
    [/quote]


    Auf jeden Fall ein lesenswertes Büchlein vom „Erfinder“ des Begriffs Utopie, daher


    5ratten


    Schönen Gruß,
    Aldawen

  • Inhalt


    Das Buch ist in zwei Bereiche gegliedert, deren Rahmenhandlung durch eine Unterhaltung des Seemanns Raphael mit dem englischen Staatsmann Thomas Morus gegeben ist. Zuerst diskutieren beide – mit zuweilen satirischen Untertönen – über (damals) aktuelle politische Streitthemen wie Todesstrafen auch für „leichte“ Vergehen wie Diebstahl oder über den Beraterstab des Königs
    Im zweiten, bekannteren, und vor allem zeitlosen(!) Teil erzählt Raphael vom Idealstaat Utopia, einem fernen Inselreich. Detailliert beschreibt er die Lebensweise der Utopier, ihre Städte und Bauernhöfe, ihre Ansichten zu den Handwerken und ihre Regierungsform. Im Anschluss werden die philosophischen Ansätze zu Schmuck, Reichtum und Privateigentum thematisiert. Das Buch endet mit einem Plädoyer für Toleranz in Glaubensfragen.


    Meinung


    Mit „Utopia“ hat Thomas Morus nicht nur das Bild (s)eines idealen Staates geschaffen, sondern eine ganze literarische Gattung neu begründet, deren Anfang Platons Philosophenstaat bildet. Während manche seiner Thesen nicht nur aus heutiger Sicht befremdlich wirken, lassen sich andere leichten Herzens unterschreiben – und machen darauf aufmerksam, wie wenig sich in den letzten Jahrhunderten eigentlich getan hat.


    Noch im ersten Teil fällt eine der zynischsten Bemerkungen Raphaels, der sich weigert, in den Dienst des Königs zu treten und diesen zu beraten. Da er mit seinen Ansichten isoliert dastehen würde, müsste er sie entweder anpassen, oder würde bei dem Versuch, die anderen Berater zu überzeugen, selber irre werden – also lässt er es gleich bleiben. Wenn man die heutige Diskussionskultur betrachtet, in der (vollkommen egal in welche Richtung) abweichende Meinungen isoliert und niedergeschrien werden, ist es schwer, die Mutation zum Raphael zu verteufeln. Genial ist hierbei die Methode der Utopier, erst einen Tag nach Antragstellung über eben diesen zu debattieren, was vermeiden würde, unüberlegt mit der eigenen Meinung herauszuplatzen.


    Auch andere kulturelle Eigenheiten der Utopier erinnern an aktuelle Debatten.


    Um ihre Bürger vor Verrohung zu schützen, wird der Metzgerberuf beispielsweise nur von Sklaven durchgeführt. 500 Jahre später morden und metzeln sich Jugendliche in virtuellen Welten ungehemmt nieder.


    Das Streben der Bürger nach Bildung, beispielsweise durch Besuchen öffentlicher Vorlesungen, klingt wie Hohn, berücksichtigt man die anhaltende Debatte allein um Schulbildung, und die aktuelle Arbeitsbelastung lässt auch kaum Zeit, sich nach dem anstrengenden Berufsalltag mit tiefschürfenden, komplexen Themen zu beschäftigen.


    Die strenge, aber sinnvolle Sexualmoral der Utopier gehört ebenso wie ihre Genügsamkeit und Bescheidenheit in der heutigen Konsumgesellschaft zu altmodischen Relikten mittelalterlichen Wertvorstellungen. Insbesondere utopisches Ansätze einer Art „Nudging“ (Gold wird mit Sklaverei, Perlen mit dem Kindesalter in Verbindung gebracht und damit unansehnlich gemacht) klingen auf den ersten Blick vollkommen unglaubwürdig. Auf den zweiten wäre es schön, wenn es vergleichbares auch bei uns gäbe.


    Das Wichtigste ist allerdings der Schluss des Romans: Raphael beschreibt die religiöse Toleranz der Utopier, das friedliche Koexistieren verschiedener Glaubensmodelle und einen ideellen Missionierungsgedanken. Dieser ist auf sachliche Argumente beschränkt, weder dürfen fremde religiöse Glaubensvorstellungen niedergemacht noch eigene Anhänger aufgehetzt werden. Eine bewundernswerte Toleranz, die aus einer Einsicht resultiert, die auch heute vielen gut zu Gesicht stünde.


    Was allerdings sehr befremdlich erscheint, und auch moralisch äußerst fragwürdig, ist das Ausnutzen „unzivilisierter, barbarischer“ Nationen für den Krieg. Insbesondere das „ausbluten lassen“, lässt die Utopier in keinem guten Licht erscheinen, und trübt die sonstige positive Sicht.


    Sonnige Tage und erholsame Nächte!


    5ratten

    Auf meinem Blog <br /><br />cynthor.wordpress.com <br /><br />findet ihr meine Rezensionen, weitere &quot;Bücherschätze&quot; sowie Infos zu meinem gesellschaftskritischen Fantasy-Roman &quot;Ethopia - Erwachen&quot;.

  • Noch im ersten Teil fällt eine der zynischsten Bemerkungen Raphaels, der sich weigert, in den Dienst des Königs zu treten und diesen zu beraten. Da er mit seinen Ansichten isoliert dastehen würde, müsste er sie entweder anpassen, oder würde bei dem Versuch, die anderen Berater zu überzeugen, selber irre werden – also lässt er es gleich bleiben. Wenn man die heutige Diskussionskultur betrachtet, in der (vollkommen egal in welche Richtung) abweichende Meinungen isoliert und niedergeschrien werden, ist es schwer, die Mutation zum Raphael zu verteufeln.


    Ach, die Weltgeschichte war ja noch viel zynischer. More war ja tatsächlich im Dienste des Königs in den Niederlanden. Und als er später in Bezug auf die Frage, wer das Oberhaupt der Kirche in England sein solle, anderer Meinung als die übrigen Berater und als der König war, wurde er nicht einfach nur niedergeschrien, sondern er verlor zuerst den Job am Hof, dann den Kopf...

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen. (Karl Kraus)

  • Danke für den Hinweis, das war mir bisher nicht bekannt. Ich sollte mich mal näher mit Morus Leben befassen...

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