Johann Wolfgang von Goethe, Clavigo

  • Goethe revisited, nach gut 35 Jahren. Nach dem mehr filmisch als bühnentauglich geschriebenen Götz von Berlichingen folgt eine Anmerkung zu einem der Lieblingsstoffe unserer großen Bühnen: Clavigo. Theater der großen Emotionen, in kompakten Bildern zusammengefasst, mit einer überschaubaren Anzahl von Personen. Als Theatermacher wüsste ich auch, was ich spielen ließe...


    Aber!


    Auch heute noch will mir der Held der Geschichte nicht einleuchten. Ein Karrierist avant la lettre, der sich vom Niemand zum Erfolgsautor hochgearbeitet hat, lässt eine kränkelnde Verlobte um des weiteren Aufstiegs willen sitzen, wird dann aber wegen Gewissensskrupeln zum greinenden Zauderer und Spielball widerstreitender Einflüsterer, schließlich fällt er der Rache des Bruders der vor Kummer dahingegangenen Betrogenen widerstandslos zum Opfer.


    Selten findet man einen Stoff, in dem die Darstellung des Helden und seiner Geliebten dermaßen scheitert. Clavigo und Marie sind Figuren, deren Blässe schon geradezu als Bleiche bezeichnet werden kann. Ein ehrgeiziger Karrierist und Opportunist von Schlage eines Clavigo könnte an einer großen Hetäre scheitern, an einer Lais – aber nicht an solch einem Gänseblümchen. Der Geburtsfehler, der die unplausiblen Hauptfiguren erzeugt, liegt darin, dass Goethe seinerzeit, 1774, einem höchstpersönlichen schlechten Gewissen Luft machen wollte. Die Grundmotive stammen zwar aus zwei Schauspielen des historischen Bühnenautors Beaumarchais. Die Selbstspiegelung Goethes in einem widersprüchlichen Charakter erzeugt aber dabei zugleich die ambivalente, halb selbstbezichtigende, halb apologetische Haltung seines Titelhelden. Frauen oder Mädchen mit Rückgrat und Statur finden bei Goethe ohnehin kaum einmal statt, sieht man von der mystischen Iphigenie ab. Auch von Marie ist also nicht viel zu erwarten.


    Tatsächlich bedingt die Schwäche der Hauptfiguren, dass Clavigo zum grandiosen Schauspiel zweier Personen aus der zweiten Reihe wird: Carlos und Beaumarchais, die Spindoctors der beiden Entlobten. Goethes Clavigo ist das große Schauspiel der Einflüsterer und Sachwalter. Hier sind die Charakterzeichnungen stark und scharf konturiert. Ihr Widerstreit, der nicht einmal in einer offenen Konfrontation, sondern als Fernduell ausgetragen wird und in dem Dialog Clavigo/Carlos im überragenden 4. Akt gipfelt, ist das, was für mich das Wiedersehen mit dem Clavigo nach über 30 Jahren nochmals lohnend gemacht hat. Die grundsätzliche Einschätzung hat sich gegenüber damals für mich aber nicht geändert:


    überschätzt.

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