Alessandro Baricco: "City"

  • Irgendwo zwischen den Welten – ein neuer Baricco


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    “City” ist irgendwo. In den USA, in Deutschland oder in dem Bundesland, in dem Sie leben. Genau genommen, ist der wahre Ort des Geschehens gänzlich unbedeutend. “City” ist jedenfalls dort, wo wir sind, wo die Außenwelt auf unser Innenleben, unsere Seele trifft. Gould, der Titelheld des Buches und fast 13-Jährige, könnte unser direkter Nachbar sein und erscheint uns doch so fremdartig, dass wir unsere Kinder nicht mit ihm spielen lassen würden. Der Grund dafür ist banal: Gould ist ein Genie. Mit 11 Jahren hat er einen Abschluss in theoretischer Physik gemacht und hört Vorlesungen an der Uni, die sonst nur 22-Jährige besuchen. Ein ordinäres Fußballspiel kennt Gould nur vom Zuschauen. Es ist ein bleibendes Erlebnis, als er später selbst das erste Mal Fußball spielt.


    Gould lebt allein. Der Vater meldet sich jeden Freitag abend von einer Militärbasis für wenige, meist nichtssagende Telefonminuten bei seinem Sohn.
    Und so ist es Zeit, dass Gould für sich und seine beiden fiktiven Freunde Poomerang und Diesel ein Kindermädchen sucht. Shatzy Shell ist eine Frau zwischen 25 und 35 Jahren, die seit ihrem 6. Lebensjahr an einer anderen Welt, einem Western arbeitet und zahllose Kassetten bespricht. Mit diesem Hobby ist sie das ideale Kindermädchen für Gould, der abwegige Geschichten in seinem Leben wie die Luft zum Atmen braucht. Shatzy nimmt das Dasein leicht, genießt ihre Eine-Nacht-Affären und hat pragmatische Ansichten zum Leben, die das Buch von Alessandro Baricco mit wahrlich geistiger Tiefe ausfüllen.


    “City” erzählt jedoch nicht nur die Geschichte eines überbegabten 13-Jährigen. “City” ist vielmehr auch eine Kritik am Festhalten an alten Theorien und überlebter Werte. In der Person des Professors Mondrian Kilroy versammelt Baricco die tiefe Abscheu vor dem totalen Anspruch auf die Richtigkeit der eigenen Meinung und dem Wissen, dass man sich selbst kaum anders als intellektuelle Besserwisser verhält.


    Dieses Buch von Baricco ist anders als seine Vorgänger und einem Genre nur schwer zuzuordnen. Den strikten Unwillen zum Schubladen-Schreiben hat Baricco auch in seinen Büchern wie “Seide” und “Novecento” deutlich gemacht. Der Italiener überzeugt auch in “City” mit knappen Dialogen, überraschenden Monologen und bewegt sich mit seinen Figuren und deren Existenz zwischen realer und erfundener Welt. Baricco führt uns ein in die Phantasiewelt Goulds mit seinen derben, schweißigen Box-Wettkämpfen und dem Western von Shatzy, der Seite für Seite mehr Kontur gewinnt und in einem überraschenden Finale fast western-untypisch endet.


    Der Schluss bleibt interpretationsfrei: Wo verbleibt Gould auf dem Weg zur neuen Uni? Und wer ist Shatzy wirklich? Ein typischer Baricco, der die Verhältnisse nicht ordnet und doch nie einen zweiten Teil (wie im Kino) anhängt, um die Story aufzulösen. Mein Prädikat: Lesenswert.


    Doreén Pick


    Alessandro Baricco “City”, ISBN 3-423-13001-6, Deutscher Taschenbuch Verlag dtv, 9,50 Euro

    Einmal editiert, zuletzt von Alfa_Romea ()