Bianca Bolduan - Chaos. 429 Tage ohne Strom

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    Der weitreichende Stromausfall kommt nicht völlig aus dem Nichts, denn schon tagelang gab es Unregelmäßigkeiten bei der Stromversorgung. Als er dann aber ausbleibt und nicht wiederkommt, sind die Bewohner des 300-Seelen-Dorfes kaum darauf vorbereitet. Die namenlose Erzählerin beginnt ein Tagebuch zu schreiben. Was sie dort festhält, hätte niemand in dieser Form erwartet. Es dauert nur wenige Tage, bis ein unvorstellbares Chos ausbricht. Die wenigsten Einwohner haben ausreichend Lebensmittel gelagert. Als diese aufgebraucht sind, beginnen sie Gemüse und Getreide anzubauen und schlachten nach und nach alle Nutztiere. Bei Verletzungen und Krankheit sind sie auf sich selbst angewiesen. Da die nahe Großstadt in Schutt und Asche liegt, setzt ein Flüchtlingsstrom aufs Land ein. Viele der Flüchtlinge nehmen sich einfach, was sie brauchen, notfalls mit Gewalt. Um Plünderungen zu verhindern, wird das Dorf abgeriegelt, doch auch hier versuchen einige Bewohner, die Macht an sich zu reißen. Mit der Zeit klappt die Eigenversorgung immer besser, doch dann breiten sich hochansteckende Krankheiten aus und der Winter rückt näher, ohne dass ein Ende des Stromausfalles in Sicht ist.


    Durch die Niederschrift als Tagebuch wirkt der Roman wie ein sachlicher Bericht, hat aber trotzdem spannende und emotionale Momente. Wer es actionreich mag, wird enttäuscht sein, denn solche Szenen werden zensiert aus zweiter Hand präsentiert. Der Schwerpunkt liegt viel mehr darauf, wie die Menschen sich organisieren müssen, um zu überleben, und welche Folgen dieser unablässige Kampf mit sich bringt. Nur wenige Tage ohne Strom reichen, um das Leben um ein paar Jahrhunderte zurückzudrehen. Ohne moderne technische Errungenschaften ist der Rat der ältesten Einwohner gefragt, die solche Situationen aus Kriegszeiten noch kennen. Die meisten Leute packen an, um für Nahrung zu sorgen, ihr Haus zu schützen und sich mit ihren Fähigkeiten gegenseitig zu helfen. Die dezimierte Dorfgemeinschaft rückt näher zusammen, als sie es vorher jemals geschafft hat. Doch es gibt auch Zeitgenossen, die die Lage ausnutzen wollen, um die Macht gewaltsam an sich zu reißen. Nach einer blutigen Tat gibt es Vermutungen über die Schuldigen, die aber niemand beweisen kann. Auch Flüchtlinge versuchen sich mit Gewalt zu nehmen, was sie brauchen, und schrecken dabei vor Mord nicht zurück. Es ist ein nie gekannter Zwiespalt: Wie weit darf man gehen, um sein Leben und Eigentum zu schützen? Darf man die Täter hinrichten, um zu vermeiden, dass sie weiter plündern und töten? Der Begriff „Menschlichkeit“ bekommt eine ganz neue Bedeutung.


    Wer sich einfach nur berieseln lassen möchte, sollte etwas anderes lesen, denn Bianca Bolduans Dystopie unterscheidet sich von anderen Büchern dieses Genres. In ihrem Bericht werden die Vorkommisse nur indirekt geschildert, dafür erlebt man die Gefühle der Betroffenen sehr intensiv. Krankheit, Hunger und Tod steht man hilflos gegenüber, und nachdem sich die sozialen Strukturen in Nichts aufgelöst haben, müssen die Überlebenden selbst über Schuld oder Unschuld urteilen und Strafen vollstrecken. Eine Entscheidung, die alle überfordert.


    Der schnelle Niedergang der Zivilisation ist glaubhaft beschrieben und bei aller Sachlichkeit erschreckend realistisch. Über vieles, das passiert, hat man sich selbst kaum jemals Gedanken gemacht. Der Grund für den Stromausfall wird für einen Laien plausibel erklärt. Ob er in der Realität jemals eintritt, kann ich nicht beurteilen, aber allein der Gedanke daran erzeugt ein äußerst ungutes Gefühl.


    Als ungewöhnlich empfand ich, dass die Tagebuchschreiberin ihre engsten Familienangehörigen immer nur als „mein Mann“, „meine Tochter“ etc. bezeichnet. Gerade diese Personen nennt man bei ihren Vornamen, selbst wenn man damit rechnet, dass die Aufzeichnungen von anderen Menschen gelesen werden. Ein bisschen störend waren auch diverse Wiederholungen und Längen in der Berichterstattung, die aber beim Tagebuchschreiben durchaus auftauchen, vor allem, wenn sich im täglichen Ablauf wenig ändert.


    Mich hat dieses Buch sehr beeindruckt und nachdenklich gemacht. Es hätte verdient, mehr Aufmerksamkeit zu bekommen.


    4ratten + :marypipeshalbeprivatmaus: