Judith Pinnow - Die Phantasie der Schildkröte

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    Das Leben der 45jährigen Edith besteht im wesentlichen aus Routine. Sie hat sogar ihre Klamotten und Schuhe bestimmten Tagen zugewiesen, träumt beim Frühstücksfernsehen manchmal davon, mit der Moderatorin befreundet zu sein, hat ihre fixen Fernsehtermine (passenderweise mit "Monk") und will ansonsten am liebsten von der Welt in Ruhe gelassen werden. Die regelmäßigen Restaurantbesuche mit ihrer Mutter machen sie eigentlich auch nicht glücklich, weil die sie dann sowieso immer nur kritisiert, aber einfach nicht hingehen kommt für die pflichtbewusste Edith natürlich auch nicht in Frage.


    Eines Tages begegnet sie im Aufzug ihres Mietshauses einem etwa zehnjährigen Mädchen, das keinerlei Berührungsängste zu haben scheint und sie einfach anquatscht. Genau das, was Edith gar nicht leiden kann. Und dann kommt es, wie es kommen muss: der Aufzug bleibt stecken, und die Kleine, die sich Schneewittchen nennt, weil sie ihren Namen nicht mag, quasselt einfach weiter. Edith kriegt schier die Krise - und ertappt sich dabei, wie sie Schneewittchen beibringt, Kaugummiblasen zu machen.


    Doch das ist erst der Anfang. Schneewittchen taucht immer wieder bei Edith auf, beginnt sogar, ihr kleine Aufgaben zu stellen, und Edith ist furchtbar genervt von dem aufdringlichen Balg, aber auf irgendeine merkwürdige Weise berührt die Kleine etwas in ihr und zwingt sie förmlich, sich die Frage zu stellen, ob denn wirklich alles in ihrem Leben in Stein gemeißelt ist oder sie nicht einfach auch mal von den einengenden Routinen losmachen kann.


    Das pfiffig-nervig-niedliche Kind, das einen grummeligen Einsiedler (m/w/d) aus der Reserve lockt, war schon Stoff unzähliger Bücher und Filme und ist wahrlich nichts Neues, aber trotzdem hat mir dieser unterhaltsame Roman, in dem unter anderem auch eine grantige Nachbarin mit überraschenden Vorlieben, eine Schildkröte namens Mechthild und ein Cafékellner mit viel Menschenkenntnis wichtige Rollen spielen, gut gefallen.


    Das lag vor allem an dem selbstironischen Tonfall, den Edith als Ich-Erzählerin hier anschlägt. Den Charakter der zurückgezogen lebenden Frau voller Ängste und Unsicherheiten (an denen ihre grässliche ewig nörgelnde Mutter sicher nicht unschuldig ist) hat Judith Pinnow großartig eingefangen. Man spürt, dass Edith eigentlich weiß, was zu tun wäre, es aber aufgrund anerzogener Glaubenssätze nicht schafft, aus ihren eingefahrenen Gleisen auszubrechen, und ich fand es herrlich, wie sie innerlich bissige Kommentare abgibt, die sie nach außen hin nie verlauten lassen würde.


    Die Entwicklungen, die Schneewittchen auslöst, mochte ich allerdings nur teilweise. Manches war mir doch ein bisschen zu abgedreht und übertrieben. (Komischerweise stören mich so unrealistische Dinge in Filmen weniger - ich könnte mir das Buch auch mit einer guten Besetzung ausgezeichnet als unterhaltsamen und anrührenden Film vorstellen.) Irgendwann habe ich dann aber beschlossen, den Roman einfach als warmherziges Märchen für Erwachsene und nicht als Buch mit größtem Realitätsanspruch zu lesen. Unter dieser Prämisse habe ich die zweite Hälfte dann sehr genossen und das Buch am Ende mit einem Lächeln zugeklappt.


    3ratten + :marypipeshalbeprivatmaus:

    If you don't become the ocean, you'll be seasick every day.

    Leonard Cohen