Yasmina Reza - Serge

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    Serge Popper ist der älteste von drei Geschwistern einer jüdischen Familie, die in Paris lebt. Er hat eine erwachsene Tochter Josephine, jede Menge gescheiteter Beziehungen, schlägt sich mit Geschäften durch. Sein Bruder Jean ist ein klassisches Sandwich-Kind. Er ist stets der Mittler, versucht moderierend in der Familie zu wirken und ist auch der Ich-Erzähler des Romans. Auch Jean hat Beziehungsprobleme, er schafft es nicht sich tiefgründiger auf jemand einzulassen, seine Beziehungen bleiben sehr oberflächlich. Die Jüngste ist Nana, sie ist mit einem Spanier, Ramos Ochoa verheiratet, die beiden haben zwei erwachsene Kinder. Die Brüder mögen Ramos nicht und machen ihn permanent lächerlich, was natürlich großes Konfliktpotenzial enthält.


    Beide Eltern sind verstorben. Die Mutter stammte aus Ungarn, ihre Familie ist in Auschwitz ermordet worden. Der Vater kam ursprünglich aus Wien. Er war kein besonders sympathischer Mensch, ließ seine Aggression auf Serge aus. Diesen schlug er immer wieder in der Kindheit, die anderen blieben verschont. Religion spielte keine gewichtige Rolle im Leben der Poppers. Die Shoah und auch wie die Eltern dieser entkommen sind wird nie thematisiert. Die Mutter hatte übrigens eine Schwäche für Putin, hatte ein Bild von ihm in ihrem Zimmer hängen. Interessant wäre, ob das in einer neueren Auflage so drinnen bleibt im Buch. Seit dem Erscheinen hat sich die Welt ja geändert.


    Es gibt noch Maurice einen Cousin des Vaters, er ist beinahe 100 Jahre alt, bettlägerig und wartet auf seinen Tod. Maurice ist Überlebender von Ausschwitz. Er stirbt relativ am Ende des Buches und somit auch seine Erinnerung.


    Nach dem Tod der Großmutter möchte Josephine die Gedenkstätte in Auschwitz und Birkenau besuchen, auf der Suche ihrer jüdischen Identität, um auch zu sehen, wo ihre Familie mütterlicherseits umgekommen ist. Ihr Vater Serge, Jean und Nana begleiten sie. Was sie dort vorfinden ist quasi ein Freizeitpark des Grauens. Touristen werden durchgeschleust, viele Bauten und Zäune sind rundum erneuert, sehr wenig ist original. Wie die Menschen, die die Gräueltaten dort überlebt haben, verschwinden die Einrichtungen dort. Was bleibt ist ein Museum.


    Ein Lehrer zwingt eine Schulklasse schon bei der Abfahrt im Bus, der Situation angemessen ernst zu sein, lässt keine Menschlichen Regungen zu, es ist vorgegeben, wie man zu empfinden hat. Mitten im Lager beginnt seine Kollegin zu lachen und alle brechen in schallendes Gelächter aus. Das Lachen bezieht sich nicht auf den Ort, nicht auf die Menschen, die dort heimtückisch ermordet wurden, sondern auf den Lehrer. Die Frage ist, soll es erlaubt sein, gerade an einem Ort, wo alles Menschliche unterdrückt und vernichtet wurde, menschliche natürliche Regungen unterdrücken? Wäre das im Sinne der Opfer? Sollte nicht gerade dort, wo Unmenschlichkeit Programm war, Menschlichkeit zugelassen ja auch gefördert werden?


    Yasmina Reza stellt viele Fragen, wie mit dem Gedenken umgegangen wird. Für viele sind diese Fragen befremdlich, vor allem bei Leser:innen aus dem deutsch/österreichischem Raum. Auschwitz ist für viele eine Synonym des Unantastbaren, des Unaussprechlichen, des Nicht-wieder-gut-machen-könnens.

    Macht es noch Sinn Gedenkstätten als reine Touristenattraktion aufrecht zu erhalten? Reicht es nicht Bücher und Dokumentationen zu lesen?


    Sie gibt keine Antworten darauf, sondern stellt Fragen. Fragen sind legitim. Sie sind wichtig, weil ohne weiteres Nachdenken wird es als Fakt der Vergangenheit nur noch als entferntes historisches Ereignis abgespeichert werden. Der Diskurs über die Erinnerungskultur muss lebendig bleiben. Die Erinnerung und das Gedenken wird sich auch ändern, weil es bald keine Zeitzeugen mehr geben wird. Vielleicht ist es nicht unsere Aufgabe, diesen Diskurs anzuführen, als Nachfolgegenerationen der Täterstaaten, aber teilnehmen sollten wir, und vor allem sollten wir den Diskurs ernst nehmen.


    Es gibt auch viele humorvolle Stellen im Buch. Die Streitereien zwischen den Personen sind in witzigen Dialogen dargestellt. Ein anderes Beispiel ist in Auschwitz, wo sich Touristenmassen in einer Reihe anstellen. Schlangen stehen vor dem Eingang zum Lager und alle wollen freiwillig hinein. Ein Paradoxon. Es hat mich auch an Roberto Benignis Film - La vita è bella erinnert.


    Serge ist das Synonym des Dysfunktionalismus der Familie. Er scheitert permanent, doch zum Schluss, als auch er erkrankt finden die drei Geschwister wieder zueinander.


    Das Buch ist in der Rezeption sehr widersprüchlich aufgenommen worden. Ich gehöre der Pro-Buch Fraktion an. Es ist wichtig einen Schritt zurück zu gehen und neue Perspektiven zuzulassen. Nur so können neue Ideen, neue Zugangsweisen, neue Methoden mit dem Umgang der Erinnerung, des Niemals-Vergessens entstehen und das Gedenken aufrecht erhalten werden.