Lutz C. Kleveman - Lemberg. Die vergessene Mitte Europas.

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    Das sehr lesenswerte Buch von Lutz C. Kleveman beschäftigt sich mit der Geschichte Lembergs im 20. Jahrhundert, die als exemplarisch für die Geschichte Europas gesehen werden kann, weil gerade in dieser Stadt verschiedene wesentliche Aspekte dieser Geschichte zusammenkommen.
    Zum einen werden hier die gebietsmäßigen Verwerfungen deutlich, die im 20. Jahrhundert insbesondere Polen betroffen haben, so wurde Galizien, dessen Hauptstadt Lemberg war, nach der ersten polnischen Teilung ein Teil des Habsburgerreiches. Dessen Charakter als Vielvölkerstaat fand sich hier auch auf lokaler Ebene, da sich die Bevölkerung Lembergs aus Polen, Juden, Ukrainern und Deutschen zusammensetzte. Nachdem Galizien einer der Hauptschauplätze des Ersten Weltkriegs war, wurde es infolge der Auflösung des Habsburgerreiches und der polnischen Kriege gegen die Ukraine und die Sowjetunion Teil Polens, wobei sich die Bevölkerungsstruktur zunächst nicht grundlegend veränderte und Lemberg in den 20er und 30er Jahren eine kulturelle und wissenschaftliche Blüte erlebte.

    Zum anderen war Lemberg durch die Entwicklungen des Zweiten Weltkriegs ein typisches Beispiel für viele Gebiete Osteuropas (die Timothy Snyder als "Bloodlands" bezeichnet), die erst unter sowjetische, dann deutsche, dann wieder sowjetische Herrschaft gerieten, und in denen diese Herrschaftswechsel jeweils mit massiver Gewalt gegen die Bevölkerung oder einzelnen ethnische Gruppen einhergingen. Kleveman beschäftigt sich insbesondere mit diesen Entwicklungen und deren Wahrnehmung durch die Zeitgenossen und hinterfragt diese auch kritisch, etwa die Tatsache, dass Zeitzeugen sich nicht an die Progrome in Lemberg 1941 erinnern konnten oder wollten, obwohl es für diese historische Belege gibt. Aber auch die Verbrechen, die von beiden Besatzungsmächten begangen wurden, werden thematisiert.


    Dem Autor gelingt es insbesondere, aus der Geschichte heraus deutlich zu machen, wie sich ukrainisches Geschichtsbewusstsein gerade in Zusammenhang mit der Geschichte Galiziens entwickelt hat, und welche Auswirkungen einerseits die Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur (durch die Vertreibung der polnischen Bevölkerung nach dem Zweiten Weltkrieg) und andererseits das ukrainische Unabhängigkeitsbestreben für die Entwicklung der Stadt Lemberg und das heute vorherrschende Geschichtsbewusstsein dort hat.


    Da das Buch 2017 veröffentlich wurde sind die aktuellen Ereignisse rund um den Krieg in der Ukraine nicht berücksichtigt, das ist aber nicht schlimm, weil es tatsächlich eher den historischen Kontext für den aktuellen Konflikt erläutert. Besonders anschaulich wird diese Geschichte dadurch, dass der Autor immer wieder seine auf verschiedenen Reisen nach Lemberg gesammelten persönlichen Eindrücke schildert. Und nicht zuletzt verdeutlicht er dem Leser/ der Leserin durch den Untertitel, dass es sich bei Lemberg nicht um ein als fern empfundenes "Osteuropa" handelt, sondern eine Stadt nahe der geographischen Mitte Europas.


    5ratten