Dinçer Güçyeter - Unser Deutschlandmärchen (Roman, 2022)

  • Dinçer Güçyeter wurde 1979 als Sohn eines Ehepaars der ersten Gastarbeitergeneration in Nettetal geboren. Er ist bisher vor allem als Lyriker in Erscheinung getreten, hat den Elif-Verlag gegründet und arbeitet zeitweise auch als Schauspieler. „Unser Deutschlandmärchen“ ist sein erster Roman.


    Inhalt und Form:Der Roman ist vor allem eine Hommage an seine Mutter Fatma und schildert autobiografisch die Zeit von Fatmas Geburt bis zu den späten Neunzigern, abwechselnd in Beiträgen von Fatma und Dinçer, zu Beginn auch aus Sicht der Großmutter Hanife.

    Fatma wird in einem kleinen Dorf in Anatolien geboren. Ihr Vater stirbt früh, und damit verliert ihre Mutter Hanife ihren wirtschaftlichen Halt und die ehrenvolle Stellung als verheiratete Frau. Sie bringt sich und ihre Kinder durch harte Arbeit in der nächstgelegenen Kleinstadt durch.

    Dinçers Vater Yilmaz arbeitete Mitte der Sechziger Jahre ein Jahr lang als Gastarbeiter in Deutschland, bevor er in der Türkei bei einem Heimataufenthalt infolge einer Familienvereinbarung Fatma aus dem Nachbardorf heiratete, die ihn vorher auch nicht kannte. Beide gingen zurück nach Deutschland und zogen in den zu Nettetal gehörenden Ortsteil Lobberich nahe der niederländischen Grenze. Da der Vater wenig beständig in der Industrie arbeitete, bald eine Kneipe übernahm und sich durch leichtsinnige Investitionen hoch verschuldete, blieb alle Last der finanziellen Absicherung und familiären Arbeit an Fatma hängen, die neben einer Vollzeittätigkeit in der Industrie noch in der Landwirtschaft arbeitete, in der Kneipe putzte und kochte und Wohnung sowie Familie versorgte. Ihr Wunschkind Dinçer kam erst nach dreizehn Jahren zur Welt, zwei Jahre später der Bruder Özgür. Aufgrund ihres arbeitsamen harten Lebens verschleißt sie schon früh ihren Körper und muss häufig operiert werden.

    Der Autor zeichnet das Bild dieser ungemein starken und anpassungsfähigen, dennoch in den kulturellen Traditionen ihrer Heimat verwurzelten Frau, die er ungeheuer bewundert und an der er sich gleichzeitig reibt. Er ist nämlich eher ein Träumerle, liest gerne, schreibt schon mit acht Jahren eigene Gedichte und spielt selten mit anderen Kindern. Zur Unterstützung seiner Mutter aber tut er alles, fährt schon mit acht Jahren den Traktor auf dem Feld, wo auch Fatma arbeitet und erledigt allerhand Arbeiten und Aufträge für sie. Später, in der Pubertät und danach, entfremdet er sich von seiner Mutter, weil er ihren Ansprüchen nicht genügen kann und will. Er beginnt zwar eine Lehre in dem Industriebetrieb, in dem auch seine Mutter arbeitet, schließt sich aber auch einer Theatergruppe an und versucht, seine Texte zu veröffentlichen. Bei einem Urlaub in der Türkei ist er entsetzt, dass für ein Fest ein Kalb in Anwesenheit der Mutterkuh im Stall geschlachtet wird und verliert völlig die Fassung. Das nimmt ihm seine Mutter übel, die das „Gesetz der Steppe“ mit seiner Erbarmungslosigkeit gegenüber der Mitkreatur, aber auch sozial abgewerteten Gruppen wie den Frauen und Minderheiten wie Kurden als gegeben voraussetzt und sich nicht dagegen auflehnt, wenn sie auch in Bezug auf andere Menschen sehr hilfsbereit ist. Aber gleichzeitig ist sie eine heftige Verfechterin der These, dass der Mensch des Menschen Wolf ist und das nicht änderbar ist.

    Der Roman endet offen, beide Protagonisten scheinen aber zu einer Akzeptanz des anderen gekommen zu sein. Die Sprache des Werks ist teils lyrisch, teils deftig, auch in den Kapiteln, die aus der Sicht Hanifes und Fatmas gestaltet sind. Insbesondere die sexuelle und ökonomische Ausbeutung der Frauen in der klassischen pariarchalischen Gesellschaft wird klar benannt. Andererseits ist ein wichtiges Thema des Romans auch die Unbehaustheit der Protagonisten, die zwar Freundlichkeit und Unterstützung durch einzelne Deutsche, vor allem aber Ausbeutung und Arroganz erfahren und sich nach dem Brandanschlag von Solingen 1992 nun auch bedroht fühlen müssen.

    Die berichtenden und schildernden Teile des Romans wechseln sich ab mit lyrischen Teilen, die die Seelenlage der beteiligten Personen ausloten und eben auch diese Unbehaustheit und die Kritik an den Geschlechterrollen zum Ausdruck bringen.

    Fazit:

    Ein eigenwilliges Buch, nicht immer ganz leicht zu lesen, aber eine sehr intensive Leseerfahrung und ein wichtiger Beitrag zu den vielfältigen Stimmen unserer multiperspektivischen Lebensumgebung.

    Fatmas Lebensweg und die Liebe ihres Sohnes zu seiner starken Mutter haben mich sehr berührt.