Günter Ogger schildert in seinem Sachbuch von 1982 die spannende Phase des aufkommenden Kapitalismus zwischen 1820 und 1900, der Kern der Gründerjahre liegt ungefähr im Zeitraum von 1850 bis 1880.
Dieser Zeitraum in Deutschland ist benannt nach den zahlreichen Gründern, d.h. Männern, die sich damals aufmachten Betriebe zu gründen. Zum Teil waren sie Techniker oder sogar erfinderische Genies, zum Teil Kaufleute und Bänker mit kühlem strategischem Geschick, oder einfach nur Männer mit viel Geld, die zur richtigen Zeit in die richtigen Unternehmen investierten.
Ogger macht klar, dass der auch in Deutschland angekommene Manchesterkapitalismus kein Werk von guten Menschen war, sondern dass vielfach sogenannte „Industriepiraten“ ohne Menschlichkeit und auf Gewinnmaximierung bedacht die neu entstandene Schicht des Proletariats in jeder denkbaren Form ausbeuteten. Erst später kam es auf Druck von ebenfalls strategisch operierenden Arbeiterführern wie Ferdinand Lassalle oder August Bebel zur Gegenwehr der Arbeiterschaft und schließlich zu Gremien, die miteinander die Arbeitsbedingungen aushandelten. Das war aber zur eigentlichen Gründerzeit noch Zukunftsmusik. Dennoch hält der Autor fest, dass ohne diese Explosion von technischen Neuerungen und durchsetzungsfähigen Kaufleuten und Managern unser heutiger Wohlstand in den sogenannten Industrieländern nicht möglich geworden wäre. Die Umweltbelastungen und der Klimawandel, deren Ursachen aus der damaligen Zeit stammen, hat Ogger, der sein Buch in den End- Siebzigern schrieb, noch nicht im Auge.
Der Autor beginnt seine Darstellung mit den deutschen Industriepionieren, die erstmal selbst im viel weiter fortgeschrittenen England auf Anregungstour gingen. So wurde zum Beispiel Eberhard Hoesch, einer der späteren Stahlkönige, 1823 fast in Sheffield in einer Stahlfabrik bei der Industriespionage erwischt, weil er das sogenannte Puddlingverfahren näher ausspähen wollte. Nur die Flucht in einen erkalteten Ofen rettete ihn: „Zu seinem Schrecken aber machten die Engländer plötzlich Anstalten, den Ofen unter ihm anzublasen. Mit Getöse ließ er sich durchs Rohr sausen und entwischte den konsternierten britischen Stahlwerkern in einer riesigen Rußwolke.“ (S. 37 meiner Ausgabe, Knaur Taschenbuch) Hier kann man schön sehen, dass Ogger bei fakten- und kenntnisreicher Aufbereitung seiner Ausführungen auch Spaß am Erzählen hat, der sich auf den Leser überträgt.
Wir lernen die Stahlbarone der Ruhr von Mannesmann in Remscheid über Krupp bis Thyssen kennen, die Berliner Lokomotivkönige um August Borsig, die schlesischen Stahl- und Bergwerksmagnaten wie Graf Guido Henckel von Donnersmark, die großen, oft jüdischen Bank- und Kaufhausdynastien, die zunehmend dem Antisemitismus ausgesetzt waren, sowie das Elektrogenie Werner von Siemens und Nicolaus August Otto, den Erfinder des Viertaktmotors. Daneben gibt es Kapitel über Kunst und gesellschaftliches Leben, die Lebensbedingungen der Armen und das Aufkommen der Arbeiterbewegung. Auch der erste große Börsenkrach im gerade gegründeten deutschen Kaiserreich wird farbig geschildert.
Angereichert ist meine Ausgabe noch mit zahlreichen Bildtafeln, die die spannend geschriebene Geschichte der Gründerzeit zusätzlich veranschaulichen.
Leider ist das Buch nur noch antiquarisch erhältlich, lohnt sich aber auf jeden Fall für Geschichts- und auch Technikinteressierte. Eindeutige Leseempfehlung!